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Kramnik beendet eine Ära voller Zwist

Schach-Diktator Kasparow nach 15 Jahren entthront

von Hartmut Metz

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   1985 stößt Garri Kimowitsch Kasparow seinen Erzrivalen Anatoli Karpow vom Thron. In Moskau setzt der mit 22 Jahren jüngste Schach-Weltmeister der Geschichte nicht nur den schändlichen Breschnew-Jünger mit 13:11 matt, sondern die ganze kommunistische Nomenklatura. So sieht es zumindest das „Kind des Wandels" in seinem Buch „Politische Partie". Mit seinen genialen Zügen, meint der selbst ernannte Schach-Messias, habe er in der Sowjetunion den Weg für Michail Gorbatschow bereitet. In einem „Playboy"-Interview schlug Kasparow vor, doch die DDR an den Westen zu verkaufen. Demokratie schrieb sich der am 13. April 1963 in Baku geborene Sohn eines deutsch-stämmigen Juden namens Wainstein und der Armenierin Klara Kasparjan zu Beginn seiner Karriere auf die Fahne. 15 Jahre danach sind die Jünger des königlichen Spiels froh, dass der Diktator am Donnerstagabend endlich als Weltmeister abgesetzt wurde.

   Der Stoiker Wladimir Kramnik zeigte nach der 15. Partie erstmals eine Regung und warf nach dem 38. Zug beide Fäuste in die Luft. Kasparow hatte ein Remis offeriert und damit seine 6,5:8,5-Niederlage besiegelt. Auf die letzte Begegnung am Samstag wird deshalb zugunsten einer Showveranstaltung verzichtet. Erst als zweiter Weltmeister nach Emanuel Lasker 1921 konnte Kasparow keine einzige Partie gewinnen. In den Londoner Riverside Studios erlebten die Zuschauer den Weltranglistenersten hilflos wie nie, geschlagen von seinen eigenen Waffen: „Ich wurde nicht überspielt. Kramnik traf eine kühne Wahl, die meine Eröffnungsvorbereitung torpedierte", befand Kasparow und hofft unter der Ägide des Sponsors Brain Games Network (BGN) auf eine zweite Chance gegen den „wahren Weltmeister". Die neu gegründete Firma, die im Internet Denkspiele vermarktet, lobte zwei Millionen Dollar Preisgeld aus, wovon zwei Drittel an den 25-jährigen Sieger gehen.

   Die Ära Kasparow hing 1984 am seidenen Faden. Karpow verflucht noch heute die verpasste Chance: „Wenn ich ihn damals mit 6:0 vernichtet hätte, wäre er nicht mehr auf die Beine gekommen." 5:0 führte Karpow im ersten seiner fünf WM-Matches gegen den verhassten Widersacher. Doch dann folgte ein Remis dem nächsten, dreimal siegte Kasparow. Nach fünf Monaten und 48 Partien wurde der Wettkampf von Florencio Campomanes, Präsident des Weltverbandes FIDE, wegen „physischer Erschöpfung der Spieler" abgebrochen. Karpow war verärgert, weil er immer noch mit 5:3 in Front lag. Kasparow, der nach dem frühen Tod seines Vaters aus Gründen der Förderung den russifizierten Namen seiner Mutter annahm, witterte nichtsdestoweniger Verrat und polterte gegen die Kommunisten, die ihren ersten reinrassigen Russen als Champion behalten wollten. Der Günstling des aserbeidschanischen KP-Chefs Alejew nutzte aber dann im September 1985 die Chance und bezwang in der auf 24 Partien begrenzten Neuansetzung Karpow mit 13:11. Bis 1990 wurden die WM-Kämpfe der beiden „großen K" zur unendlichen Geschichte, in denen Karpow stets knapp den Kürzeren zog.

   Dass Letzterer 1993 zumindest wieder Champion der FIDE wurde, verdankte er der Streitlust des Kontrahenten. Kasparow gründete die Profi-Schach-Organisation PCA und richtete den WM-Kampf gegen den Engländer Nigel Short in eigener Regie aus. Es folgten weitere Projekte mit hochgejubelten Sponsoren und Organisationen, die für die spöttisch genannte „Einwegspritze" nur einmaliges Mittel zum Zweck waren. Weil der Inder Viswanathan Anand 1995 als letzter Herausforderer genehm war, wuchs der Druck auf Kasparow, endlich wieder ein WM-Match zu spielen - trotz aller Turniersiege und dem souveränen ersten Platz in der Weltrangliste, der weiter Bestand hat.

   Kramnik galt dabei eigentlich nur als dritte Wahl. Anand forderte nach schlechten Erfahrungen Bankgarantien für ein erneutes Match und Alexej Schirow, der Kramnik 1998 im Spiel um das Herausforderungsrecht bezwang, war Kasparow nicht genehm. Damit verscherzte sich der bei Niederlagen stets ausrastende Großmeister die letzten Sympathien der Fans. Zu deren Erbauung schaufelte sich der 37-Jährige sein eigenes Grab. Kasparow hatte Kramnik mit 17 ins russische Nationalteam geholt und ihn Erfahrungen als Sekundant beim WM-Kampf gegen Anand sammeln lassen. Als einziger Topspieler erstarrt der Weltranglistenzweite nicht in Ehrfurcht vor dem „Monster mit den 27 Augen", ja ist in diesen Partien besonders motiviert. Vor London schwor Kramnik Nikotin wie Alkohol ab, betrieb mehr Sport und nahm durch bewusstere Ernährung fast zehn Kilogramm ab. Fit wie nie wies der Sohn eines Bildhauers und einer Musikerin aus Tuapse am Schwarzen Meer seinen Lehrmeister souverän in die Schranken.

   Auch wenn Kasparow „Mängel in punkto Fairness und Kollegialität aufweist" (der Dresdner Großmeister Wolfgang Uhlmann), kann der Schachsport auf seine charismatischste Figur nicht verzichten. Er allein treibt immer wieder neue Sponsoren auf und spielt spektakuläre Schaukämpfe gegen Computer, im Internet oder gegen komplette Nationalmannschaften. „Ich bin nicht der Typ, der sich vermarktet", gesteht dagegen Kramnik. Der vom Geld ihres Präsidenten lebenden FIDE kommt das entgegen. Nach der Niederlage des unversöhnlichen Kasparow wittert Kirsan Iljumschinow Morgenluft. Um den Schachtitel wieder zu vereinen, erwägt der Präsident Kalmückiens gar eine Absage der für Ende November in Neu Delhi und Teheran anberaumten FIDE-WM. Würde Kramnik wie sein Ziehvater Verträge nach seinen eigenen Regeln auslegen und es käme eine Einigung mit der FIDE zu Stande, wäre der beste Schachspieler aller Zeiten nach 15 Jahren voller Ränke und Zwist endgültig matt gesetzt.

   In der zwölften von 16 Partien zeigte Kasparow endlich einmal Biss. Mutig nahm er ein Bauernopfer seines Kontrahenten an. Als Kramnik merkte, dass seine Kompensation in Form von Angriffs-chancen schwand, stellte der 25-Jährige jedoch auf Verteidigung um und rettete mit einem geistreichen Manöver einen halben Punkt. Trotzdem ist die Partie eine der dramatischsten des Zweikampfes gewesen, weil es ansonsten kaum Mittelspiel-Schlachten gab. Meist holzten die Großmeister die Stellung rasch in ein Endspiel herunter.









Stellung nach:

W: Kramnik S: Kasparow

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.e3 4.Dc2 0-0 5.a3 Lxc3+ 6.Dxc3 b6 7.Lg5 Lb7 8.f3 h6 9.Lh4 d5 10.e3 Sbd7 11.cxd5 Sxd5 12.Lxd8 Sxc3 13.Lh4 Sd5 mit Remis geschah in Partie acht. 4...0-0 5.Ld3 d5 6.Sf3 c5 7.0-0 dxc4 7...cxd4 8.exd4 dxc4 9.Lxc4 b6 10.Lg5 Lb7 11.Te1 Sbd7 12.Tc1 Tc8 13.Db3 Le7 führte Kramnik in der zehnten Begegnung auf die Siegerstraße. 8.Lxc4 Sbd7 9.a3 cxd4 10.axb4 dxc3 11.bxc3 Dc7 12.Le2 12.Db3 b6 13.Le2 Lb7 14.c4 Sg4 15.g3 wird häufiger gespielt und führt zu einer unklaren Stellung. 12...Dxc3!? Darüber brütete Kasparow 50 Minuten lang, ehe er den „riskanten Bauernraub" (Mark Taimanow, ehemaliger WM-Kandidat) wagte. 13.La3 Das hatte Kramnik vorbereitet und ist laut seinem Sekundanten Miguel Illescas „ambitionierter" als Taimanows Empfehlung 13.Ld2 Dc7 14.Db1. Sd5 14.Db1 Df6 15.Ld3 h6 16.b5 Td8 17.Lb2 De7 Kasparow merkte nach der Partie an, diese Angriffsstellung hätte er allzu gerne mit Weiß gespielt! 18.Ta4!? Sc5 19.Lh7+ Kh8 20.Th4?! 20...Tg4 ist wohl besser. 20...f6! Es drohte Txh6. Die weißen Felder rund um den König sind nun geschwächt, aber Weiß konnte das nicht ausnutzen. 21.Tc4 Mit nur noch 20 Minuten Bedenkzeit beschloss Kramnik angesichts eines fehlenden klaren Angriffsplans, auf Verteidigung umzustellen. 21...Ld7 22.La3 Kasparow plädierte für 22.Sh4 Le8 23.Sg6+ Lxg6 24.Lxg6. 22...b6 23.Le4 a6! Diesen Zug, mit dem Kasparow die Initiative an sich reißt, unterschätzte Kramnik. 24.bxa6 Txa6 25.Lxc5 bxc5 26.Tfc1 Ta5 27.Db2 Tb5 28.Da3 Sb6!? Trickreich! 29.T4c3 29.Txc5?? verliert wegen der Fesselung in Verbindung mit der schwachen Grundreihe nach Lc6! 29...Tb4 30.Sd2! Ein unscheinbarer Zug, der sehr stark ist. 30...f5 31.Lf3 Sa4? 31...Tc8 stellt Weiß vor größere Probleme. Mit nur noch 90 Sekunden für neun Züge auf der Uhr dennoch kein schlechter Versuch. Allerdings Pech, dass sein Widersacher eiskalt bleibt und die Übersicht behält. 32.Txc5! Tb2 33.Sc4! Dieser feine Zwischenzug rettet den Tag. 33...Dxc5 Fügt sich ins Remis, weil der schlimme Patzer Txf2?? wegen 34.Tc8! verliert. 34.Dxc5
remis

Schachlektüre

Nick de Firmian, „Batsford's Modern Chess Openings", B. T. Batsford Limited, rund 69,80 Mark.

Das englischsprachige Eröffnungsstandardwerk liegt inzwischen in 14. aktualisierter Fassung vor. Nick de Firmian stellte an sich den Anspruch, nicht nur ein über 700 Seiten starkes Nachschlagewerk für den Durchschnittsspieler vorzulegen, sondern auch eigene Ideen für seine Großmeister-Kollegen zu liefern. Dieser Anspruch ist etwas arg hoch gehängt. Dafür sind die Varianten nicht ausführlich genug aufgelistet. Wer die Ausgabe von 70 Mark für den Wälzer nicht scheut, erhält aber zumindest eine passable Übersicht über alle Eröffnungen.


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