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Die Wahrheit lässt das Blut spritzen

Kramnik ist mit seinem Beton-Schach drauf und dran, Kasparow vom Thron zu stoßen

von Hartmut Metz

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   In 97 Turnierpartien seit Januar 1999 kassierte Wladimir Kramnik nur eine Niederlage. Nach der bittersten Schlappe in seiner Karriere in nur 25 Zügen muss Garri Kasparow nun das Unmögliche möglich machen: Der Schach-Weltmeister benötigt gegen Kramnik zwei Siege in sechs Spielen, um in London den 4:6-Rückstand zu egalisieren und den Titel zu verteidigen. Angesichts seiner bisherigen Form bei dem mit zwei Millionen Dollar dotierten Match ein schier aussichtsloses Unterfangen gegen Kramniks „Beton-Schach" - denn „das Ungeheuer von Baku", wie der in Aserbeidschan geborene Weltranglistenerste ehrfürchtig genannt wird, kommt in den Riverside Studios so zahnlos wie nie zuvor daher.

   Keine einzige der zehn Partien konnte Kasparow gewinnen. Selbst den gefürchteten „Aufschlag" mit den weißen Steinen retournierte sein russischer Landsmann mit leichter Hand. Ja, der bisher in sämtlichen Zweikämpfen ungeschlagene 37-Jährige gab sich der Lächerlichkeit preis, als er in der siebten Partie mit Weiß nach nur elf Zügen Frieden schloss. „Ich hatte meine Gründe", erklärte der sonst so wortgewaltige Kasparow sibyllinisch das kürzeste WM-Remis seiner Karriere.

   Auf seiner Webseite www.kasparovchess.com wurden die Verteidigungskünste des vielleicht besten Spielers aller Zeiten gepriesen. Dass der souveräne Weltranglistenerste es aber bisher nicht gewohnt war, in derlei miserable Stellungen zu geraten, übersahen die Kommentatoren geflissentlich. Vor allem seiner Hauptwaffe mangelt es an Explosionsgewalt: Die TNT-Fabrik, in der zig angestellte Großmeister auf Hochtouren die täglich neue Theoriezüge (TNT) für Kasparow ausbaldowern, produzierte nur nasses Dynamit. Stattdessen wurde es bei dieser WM „zur Gewohnheit, dass Wladimir die neuen Theoriezüge spielt", wundert sich der französische Weltklassespieler und Kramnik-Sekundant Joel Lautier.

   Schlimmer noch: Der handzahme Kasparow dürfte sich nicht beklagen, läge er bereits aussichtslos mit 3:7 zurück. In mindestens zwei weiteren Partien vergab Kramnik den Gewinn. Doch auch so zeichnet sich ein Wachwechsel ab: Dem 25-Jährigen fehlen lediglich 2,5 Punkte zur Sensation - und seinem ersten Zweikampf-Sieg überhaupt! Der vom Schwarzmeer stammende 1,95 Meter große Schlaks wird sich die 1,33 Millionen Dollar Preisgeld nicht mehr nehmen lassen. „Ich weiß, der Zweikampf ist noch nicht entschieden", bleibt der Führende auf der Hut. „Wenn ich so spiele, wie ich zu spielen verstehe, dann kann ich nochmals ins Match zurückkommen", hofft Kasparow derweil trotz der blamablen zehnten Partie weiter auf ein rettendes 8:8.

   Doch „der Boss" kann dabei Grimassen schneiden und Tricks anwenden, wie er will, für fünf Remis in sechs Partien ist der Stoiker aus Tuapse stets gut. Der deutsche Schnellschach-Meister Robert Rabiega hat bei den Frankfurt Chess Classic seinen ehemaligen Berliner Mannschaftskameraden ob dessen Kunst bewundernd, aber wegen der vielen Unentschieden auch kritisch charakterisiert: „Wladimir spielt die Wahrheit! Nur lässt er nicht für die Fans das Blut spritzen!" In London lässt der Kronprinz zur Freude der Meute das Blut spritzen - das des despotischen Königs.

   Auf www.kasparovchess.com werden die Partien nicht nur live übertragen, sondern auch ausführlich von den Sekundanten Kramniks analysiert. Die womöglich vorentscheidende zehnte Partie kommentierte der spanische Weltklassespieler Miguel Illescas.









Stellung nach:

Kramnik - Kasparov

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.e3 0-0 5.Ld3 d5 6.Sf3 c5 7.0-0 cxd4 8.exd4 dxc4 9.Lxc4 b6 10.Lg5 Lb7 11.Te1 Sbd7 12.Tc1 Tc8 13.Db3 Le7 14.Lxf6 Sf6?! Nach langem Nachdenken entschied sich Kasparow für diesen Zug. Lxf6 15.Sb5 wäre auch unangenehm, verhindert aber zumindest das folgende Opfer. 15.Lxe6! fxe6 16.Dxe6+ Kh8 17.Dxe7 Lxf3 Zerstört die weiße Bauernstruktur, was Kasparow vermutlich als ausreichende Kompensation für den Materialverlust erachtete. 18.gxf3! Vorsichtiger ist der Damentausch, wonach Kramnik seine Siegchancen auf „etwa 50 Prozent" taxierte. Rein optisch sieht es so aus, als ob Schwarz mit den Damen auf dem Brett die besseren Angriffschancen erhält - dass jedoch das Gegenteil der Fall ist, schätzte Weiß richtig ein. 18...Dxd4 19.Sb5 Dxb2? Damit entfernt sich die Dame zu weit vom Geschehen. In der Partie Hazai - Danielsen, Valby 1994, geschah zunächst richtig: Df4! 20.Txc8 Txc8 21.Sd6 Dxf3? 22.Sxc8 Dg4+ 23.Kf1 Dh3+ 24.Ke2 Dxc8 und nach 25.Kd2 verwertete Weiß die Mehrqualität. Indes kann Schwarz ganz abgebrüht 21...Ta8! spielen, wonach zum Beispiel 22.Sf7+ Kg8 23.De6 Tf8! 24.Sd8+ Kh8 25.De7 Sg8 26.Se6 Sxe7 27.Sxf4 Sf5 nur geringen weißen Vorteil ergibt. 20.Txc8 Txc8 21.Sd6 Tb8? Soll Weiß dazu verleiten, sich auf a7 zu bedienen. Doch Kramnik tappt nicht in die Falle. Der einzige Zug ist Ta8, um auf 22.Sf7+ Kg8 23.De6 mit dem Opfer h6!! 24.Sxh6++ Kh7 dem Anziehenden die Verwertung des Vorteils zu erschweren. 25.Sf5 (das wünschenswerte 25.Sf7 nebst Sg5 scheitert an Te8) Dd2 räumt Schwarz noch Verteidigungschancen ein. 22.Sf7+! Kg8 23.De6! Tf8?! Der Zug wurde von zahlreichen Großmeistern zunächst als entscheidender Fehler gegeißelt. Allerdings ist Schwarz auch nach dem vermeintlich zäheren h5 verloren: „Ich spiele meinen Springer nach g5 und meine Dame nach f5. Anschließend versuche ich meinen Turm nach e6 zu bringen, um auf f6 die Qualität zu opfern. Falls erforderlich, schalte ich noch vorbeugende Züge wie h4 oder Kg2 ein", erklärte Kramnik nach der Partie. Illescas belegte die Ausführungen mit einer Variante. 23...h5 24.Sg5+ Kh8 25.Df5 Dxa2 26.Te6 Kg8 27.Dg6 (27.Txf6? Da1+) 27.Da3 28.h4 Tf8 29.Txf6 Da1+ (Txf6 30.Dh7+ Kf8 31.Dxg7+ Ke8 32.Dxf6 verliert) 30.Kg2 Txf6 31.Dh7+ Kf8 32.Dh8+ Ke7 33.Dxg7+ Ke8 34.Se4. An dieser Stelle klärt sich auch die Frage, warum im 21. Zug Ta8 besser als Tb8 war. Bei 23...h6 24.Sxh6++ Kh7 25.Df5+ kann der König nicht auf h6 schlagen: 26.Df4+ und der Turm auf b8 ist weg. Deshalb muss der Nachziehende 25...Kh8 spielen, wonach Weiß mittels 26.Sf7+ Kg8 27.Sg5 wieder zu einem durchschlagendem Angriff kommt. 24.Sd8+ Kh8 25.De7 Selbst Txd8 (Te8 26.Dxe8+ Sxe8 27.Te8 matt; Tg8 26.Sf7 matt; Kg8 26.Se6) 26.Dxd8+ Sg8 27.Dd5 ist hoffnungslos.

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Schachlektüre

Ludek Pachmann, „Königsindische Verteidigung", Edition Olms, 29,80 Mark.

Eduard Gufeld, „The Art of the King's Indian", Batsford, rund 49,80 Mark.

Die zwei Bücher über die Königsindische Verteidigung unterscheiden sich krass: Der einst führende deutsche Theoretiker Ludek Pachman reiht in seinem Buch lieblos Varianten über Varianten aneinander. Erläuternde Texte gibt es nur wenige, was die Neuerscheinung für Spieler untauglich macht, die Königsindisch in ihr Repertoire aufnehmen wollen. Es ist nur als Nachschlagewerk geeignet. Auch wenn es 20 Mark mehr kostet und weniger ellenlange Varianten enthält, ist das englischsprachige Buch von Eduard Gufeld zu empfehlen. Anhand von 83 Beispielpartien gibt der Königsindisch-Experte einen ordentlichen Überblick über sein Lieblingssystem.


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