Die neue Schachkönigin Europas heißt Alexandra KostenjukFrauenschach ohne Kompromisse bei der EM in Dresden. Pähtz wird Herren-IM und verpasst WM-Ticket knapp. Shmirina und Czäczine nonstop neue deutsche Titelträgerinnen: Teil 2von Harald Fietz, Mai 2004 |
In Dresden scheint für Schlussrunden eine besonders stimulierende Atmosphäre zu herrschen. Obwohl keinerlei Hektik den Spielsaal erfasste, vollzogen sich an den Spitzenbrettern Kämpfe bis aufs Messer. Beim Finale des letztjährigen ZMD-Open teilte keines der zehn vorderen Brettern den Punkt. Bei der Frauen-EM ergab sich am ersten Dutzend Bretter die Situation, dass die jeweilige Siegerin auf das Treppchen oder zumindest in Stichkämpfe um die WM-Fahrkarte durfte. Am Ende des Tages standen zehn volle Punkte und zwei Punkteteilungen. Während der halbe Zähler zwischen Zhukova und Slavina beide in die Play-offs um die Bronzemedialle katapultierte, eliminierten sich die Russin Elena Zaiatz aus Kasan und Marta Zielinska, das polnische Spitzenbretter der HSK-Frauenbundesligamannschaft, aus den WM-Träumen. Gleiches galt auch für Elisabeth Pähtz, der ein Remis zum Stichkampf um die WM-Tickets und ein Sieg für den Anlauf auf Platz drei gereicht hätte. Aber Stefanova bestrafte die löcherige Pirc-Eröffnung.
"Das war vielleicht keine kluge Wahl", äußerte die Unterlegene nachträglich. Das Tal der Tränen, d.h. Stillstand bei sieben Punkten und Platzierungen ab Platz 23 abwärts, beschritten andere ganz unterschiedlich: Peptan (Figurenverlust gegen Dzagnidze), Kowalewskaja (Qualitätsverlust gegen Khurtsidze), Chasovnikova (Turm schlechter als zwei Leichtfiguren gegen Arakhamia-Grant), Radziewicz (Figurenopfer mit zu wenig Kompensation gegen Zimina), Lomineishvili (Dameneinsteller gegen Socko), Sedina (unaufhaltsamer Freibauer von Titelverteidigerin Cramling) und Gaponenko (passive Figuren und Taktikübersehen gegen die durch die Vortagesniederlage nicht verzagte Houska).
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Cramling,P (2488) - Sedina,E (2393) [D15]
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Im Titelrennen gab es ebenfalls
keine Gnade: Die schon über die ganze Turnierdauer einen Tick konstanter
agierenden Peng und Kostenjuk punkteten mit Glück und Geschick. Peng
konterte Foisor Angriffswalze am Königsflügel und die sonst so
cool wirkende Tatjana Kosintseva parkte im 23. Zug gegen Kostenjuk ohne
Bedrängnis die Qualität ein und verlor völlig den Faden. Dadurch
klaffte ein ganzer Punkt zwischen den beiden Führenden und dem Feld.
Dann hieß es Showtime um Platz eins, Platz drei und zwei WM-Tickets (die vier Bestplatzierten unter den acht Spielerinnen mit acht Punkten kamen lt. Reglement ohne Nervenschlacht davon). Zunächst gab es die Halbfinals für das "kleine Finale" um Bronze. Die routinierteren Spielerinnen Stefanova und Zhukova siegten in Endspielen gegen Dzagnidze und Slavina. Dann wurde sicher das Remis abgeklammert. Die Ansetzungen um die beiden letzten WM-Qualifikationsplätze gestalteten sich völlig offen. Die junge Tatjana Kosintsewa wehrte gegen die erfahrene Khurtsidze die sizilianische Offensive ab und realisiert ihren materiellen Qualitätsvorteil leicht. Solche Technik hätte sich ihre Landsfrau Olga Zimina auch gewünscht. Sie hatte die Engländerin Houska mit zwei Freibauern auf der 7. Reihe schon am Rande einer Niederlage, wickelte in ein Turmendspiel mit Mehrbauer ab und musste von Glück sagen, dass dies nach einer taktischen Falle zum Remis reichte.
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Zimina,O (2408) - Houska,J (2370) [B01]
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In der zweiten Partie spielte die Unglückliche ziemlich defensiv, so dass Houska ihren Angriffsdruck systematisch verdichtete. Kosinstewa kontrollierte die unter Zugzwang geratene Khurtsidze und war sogar so dreist, einem Dauerschach auszuweichen und fügte sich erst, als die Georgierin mit Minusfigur selbst Dauerschach geben musste. Ein schönes Beispiel für die schier selbstbewusste, nachrückende, supercoole Frauengeneration aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.
Diese Mentalität ist auch Alexandra Kostenjuk eigen, die in der ersten Tie-Break-Partie eine für sie maßgeschneiderte Stellung erhielt: Taktische Konter von einem Flügel zum anderen und so setzte sie gegen die im Schnell- und Blitzschach weniger versiertere Peng geschickt auf taktische Drohungen. Das Läuferpaar und die Dame besorgten die Vorentscheidung.
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Peng,Z (2419) - Kosteniuk,A (2469) [D27]
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Im zweiten Umlauf steckte Peng eine Qualität ins Geschäft, aber Kostenjuk konnte zum richtigen Zeitpunkt Material zurück geben und in eine ungewinnbare Standardstellung in einem Turmendspiel einlenken. " So enttäuscht bin ich nicht. Sie ist halt die bessere und aktivere Schnellschachspielerin," resümierte Peng, die in Dresden viele Sympathien gewann. Kostenjuk sah ihr Turnier ebenfalls pragmatisch: "Ich machte mir im Vorfeld keine Gedanken. Doch Zuversicht in meine sportliche Form hatte ich gewiss." Die Begegnungen mit Marie Sebag und Antoaneta Stefanova zählt sie zu ihren besseren Leistungen. Im Schachunterricht des Dresdner Schachgymnasiums stand Stefanova-Kostenjuk bereits zwei Tage später auf dem Lehrprogramm!
Platz drei wurde sichere Beute von Stefanova, die an diesem Tag einfach angriffslustiger agierte. Bei Slavina war im Kampf um das Preisgeld des fünften Platzes unter den Augen ihres Vaters, der in Russland mehrere Bücher über Trainingsmethoden veröffentlichte, die Luft raus. Erbarmungslos spielte die sechs Jahre jüngere Dzagnidze ihre Technik aus.
Auch die zahlreich kiebitzenden Herrentitelträger (allen voran Veteran Wolfgang Uhlmann und Bundestrainer Uwe Bönsch) sahen das Ende einer packenden Meisterschaft. Möglicherweise haben sie ein wenig gespürt, wie man der jüngst beklagten Remisseuche "Frau werden kann". Kompromissloses Schach ohne Wenn und Aber erfreute Spielerin, Zuschauer und die Medien gleichermaßen. Solcher Einsatz verdiente den finanziellen Lohn!
Mit 20 Geldpreisen für die Spitze und dreimal fünf Ratingpreisen erhielt ein Drittel der Teilnehmerin etwas vom Finanzkuchen (und alles steuerfrei!).
Endstand Frauen-EM 2004 |
Play-offs (zwei Partien 15 Min + 10 Sek.) |
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1. |
Alexandra Kostenjuk |
(RUS) | 9,5 | Stichkampf um den Titel Kostenjuk - Peng 1,5:0,5 |
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2. |
Zhaoqin Peng |
(NED) | 9,5 | ||
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3. |
Antoaneta Stefanova |
(BUL) | 8,5 | Play-off um die Bronzemedaille und die Preisgelder
1. Runde
Um Platz drei
Um Preisgeld Platz fünf und sechs |
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4. |
Natalia Zhukova |
(UKR) | 8,5 | ||
5. |
Nana Dzagnidze |
(GEO) | 8,5 | ||
6. |
Irina Slavina |
(RUS) | 8,5 | ||
7. |
Cristina Adela Foisor |
(ROM) | 8,0 | ||
8. |
Ketevan Arakhamia-Grant |
(GEO) | 8,0 | ||
9. |
Pia Cramling |
(SWE) | 8,0 | ||
10. |
Monika Socko |
(POL) | 8,0 | ||
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11. |
Tatjana Kosintsewa |
(RUS) | 8,0 | Play-off um zwei WM-Plätze
Kosintsewa - Khurtsidze 1,5:0,5 |
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12. |
Jovanka Houska |
(ENG) | 8,0 | ||
13. |
Olga Zimina |
(RUS) | 8,0 | ||
14. |
Nino Khurtsidze |
(GEO) | 8,0 | ||
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15. |
Elena Sedina |
(ITA) | 7,5 | ||
16. |
Elisabeth Pähtz |
(GER) | 7,5 | ||
17. |
Elina Danielian |
(ARM) | 7,5 | ||
18. |
Corina-Isabela Peptan |
(ROM) | 7,5 | ||
19. |
Marta Zielinska |
(POL) | 7,5 | ||
20. |
Elena Zaiatz |
(RUS) | 7,5 | ||
21. |
Olga Alexandrova |
(UKR) | 7,5 | ||
22. |
Heather Richards |
(ENG) | 7,5 | ||
(108 Spielerinnen aus 30 Föderationen) |
Die Ratingpreise errechneten sich erstmals nach einem innovativen System (Performance minus eigener Elo-Zahl). Immerhin 63 Spielerinnen bewarben sich um über 5000 Euro in drei Gruppen, wobei einige Ergebnisse - gerade der Spielerinnen zwischen 2100 und 2200 Elo - so überragend waren, dass sie teilweise Preise der höheren Kategorie abgriffen. Die größten positiven Differenzen zwischen eigener Wertzahl in Relation zur Performance erzielten: Bashkite (+219), Muhren (+171), Shmirina (+146), Yildiz Betul (+138), Czäczine (+129) und die in vielen Zeitungen abgebildete blonde Weißrussin Sharewitsch aus Brest (+123). Im deutschen Lager ist zudem die solide Leistung der von GM Karsten Müller gecoachten Jessica Nill (Platz 46 mit 6,5 Punkten) erwähnenswert.
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Nill,J (2246) - Shmirina,G (2120) [D55]
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Bei den Normen kam ebenfalls eine Neuerung zur Anwendung. Durch die erhöhte Rundenzahl besaß das Turnier als Kontinentalmeisterschaft einen herausragenden Stellenwert, so dass erstmals von null ein Frauentitel möglich war (wenn die Norm zwölf Runden hielt). Sieben Spielerinnen erfüllten sich diesen Wunsch: Erfreulicherweise tragen - mit Evgenija Shmirina aus Dresden und Anne Czäczine aus Chemnitz - nun zwei weitere Deutsche den weiblichen IM-Titel. Während die 14-jährige gebürtige Ukrainerin innerhalb ihrer Familie betreut wurde (ihre Mutter Galina spielte ebenfalls mit und holte fünf Punkte), sekundierte der 18-Jährigen Miroslav Shvartz, der sächsische Landestrainer und in den Tagen der EM frisch gewählte Präsident des Landesverbands. Beide Spielerinnen betonten, dass es der bisher größte Erfolg ihrer noch jungen Schachkarriere war.
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Roessler,U (2221) - Shmirina,E (2135) [C19]
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Auch die Niederländer erbeuteten ohne Schwierigkeiten zwei Titel durch Bianca Muhren und Bensdorp. In östliche Gefilde kehrten Polina Malyshewa aus Russland und Viktoria Bashkite aus Estland als neue Titelträgerinnen zurück. Ebenso bemerkenswert der Erfolg durch die Türkin Yildriz Betul. Größeres Kaliber bedeuten die männlichen IM-Normen für Zhukova, Tatjana Kosintseva, Dzagnidze und Pähtz. Für die Sportgymnasiastin war es - nach dem Dresdner ZMD-Open 2002 und der Olympiade in Bled 2002 - die letzte fehlende Norm.
Allerdings überraschten die Offiziellen am Abend der Preisverleihung einige Spielerinnen. Da die Regeln für den "gehobenen" EM-Status nicht präzise formuliert scheinen, erhielten alle, die eine männliche IM-Norm erfüllten (außer Pähtz, deren Norm nur elf Runden umfasste), ebenfalls den Titel direkt verliehen. Darüber hinaus freuten sich die beiden Siegerinnen - obwohl nur zwei statt der drei Frauen auch gleichzeitig als Herren-GM präsent waren -, dass sie aufgrund überragender Performancewerte (Kostenjuk 2624 und Peng 2626) geradewegs mit dem Herren-GM-Titel versehen wurden. Etwaige Unsicherheiten will Schiedsrichter Werner Stubenvoll bei der FIDE-Qualifikationskommission durchboxen.
Eine spannende internationale Meisterschaft hatte in Dresden einen würdigen Austragungsort. Nun heißt es Daumen drücken, dass - nach Siegen 1970 - die inzwischen 34-jährige Abwesenheit der Schacholympiade in Deutschland nur noch weitere vier Jahre dauert.
(erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 7 / 2004, S. 178 - 183)