Die neue Schachkönigin Europas heißt Alexandra KostenjukFrauenschach ohne Kompromisse bei der EM in Dresden. Pähtz wird Herren-IM und verpasst WM-Ticket knapp. Shmirina und Czäczine nonstop neue deutsche Titelträgerinnen: Teil 1von Harald Fietz, Mai 2004 |
Nach langen 13 Spieltagen setzte sich die Moskauerin Alexandra Kostenjuk am 3. April, 20 Tage vor ihrem 20. Geburtstag, die europäische Schachkrone auf. In einem spannenden Tie-Break-Finale bezwang die Vize-Weltmeisterin von 2001 Zhaoqin Peng, die Niederländerin chinesischer Herkunft, in Schnellpartien mit 1,5:0,5. Den Bronzerang sicherte sich die Bulgarin Antoaneta Stefanova durch ein 2:0 im Tie-Break gegen die Ukrainerin Natalia Zhukova. Bei den deutschen Teilnehmerinnen gab es mehr Höhen als Tiefen, obwohl die in Dresden lebende Elisabeth Pähtz die Qualifikation für die Weltmeisterschaft unglücklich verpasste. Dennoch tröstete sie sich mit der dritten, finalen Herren-IM-Norm. Zwei andere Sächsinnen, Evgenija Shmirina und Anne Czäczine, erzielten gegen ausreichend starke Gegnerschaft die Hälfte der Punkte, was unmittelbar für den weiblichen IM-Titel qualifizierte. Insgesamt bot Dresden - so der einhellige Tenor - zwei Wochen ausgesprochen kampfbetontes Schach.
Zum fünften Mal kam zwischen dem 20. März und 3. April 2004 die Frauen-Europameisterschaft zur Ausspielung. Nach Batumi, Warschau, Warna und Istanbul setzten sich die besten Schachspielerinnen Europas erstmals weiter westlich in einem EU-Land ans Brett. Mit der Stadt Dresden und dem bewährten Schachfestival-Team organisierte eines der wichtigsten Schachzentren Deutschlands dieses prestigeträchtige Kontinentalturnier. Für die Elbflorenzer stellte das von genau 30 Schachnationen besuchte Turnier eine bedeutende Etappe beim Streben nach dem größten völkerverbindenden Schachevent, der Schacholympiade, dar. Der wichtigste private Geldgeber für die Frauen-EM kam - neben Chiphersteller Infineon und dem Treff-Hotel - aus dem Bankensektor. Andrea Feuker, Mitarbeiterin der Pressestelle, reflektierte in ihrem Grußwort: "Schachspieler entwickeln und trainieren Geduld, taktische und strategische Fähigkeiten, folgerichtiges Denken, Kombinationsfähigkeit und schöpferische Fantasie. Die Eigenschaften braucht auch ein Banker. Deshalb meinen wir: Schach und die Stadtsparkasse Dresden passen gut zusammen." Um den Preisfond von über 31000 Euro bewarben sich 108 Spielerinnen. Der Geldtopf lag zwar gegenüber dem vergangenen Jahr in Istanbul (dort waren es 44000 Euro) niedriger; allerdings stand diesmal - wie Organisator Dr. Dirk Jordan betonte - kein 20000 Euro Zuschuss der FIDE zur Verfügung!
Dennoch gab es für alle Spielstärken Motivationen, sich in ein kostenintensives Abenteuer mit zwölf Runden über zwei Wochen zu stürzen. 4000 - 3000 - 2500 Euro lagen bereit für die Plätze auf dem Treppchen bei insgesamt 20 Geldpreisen (gestaffelt bis 500 Euro abwärts) und jeweils fünfmal Geld für die Kategorien Best of U-2300, U-2200 und U-2100. Für die übernächste Weltmeisterschaft waren zwölf Qualifikationsplätze ausgelobt. Reizvoll für Spielerinnen mit Normabsichten die Neuerung, dass Frauentitel direkt zu erreichen waren. Die Erhöhung von elf auf zwölf Runden machte es möglich.
Obwohl von den ursprünglich gemeldeten 124 Teilnehmerinnen letztlich nur 108 Spielerinnen anreisten, kamen alle wichtigen Nationen im europäischen Frauenschach. Bedauerlicherweise sagten die gemeinsamen Weltranglistendritten Alisa Galjamowa und Swetlana Matwejewa aus Russland kurzfristig ab. So führte die Zehnte der Frauenweltrangliste Pia Cramling (Elo 2488) das Feld an. Hinter der Titelverteidigerin ging es prominent weiter: Stefanova (2478), die Fraueneuropameisterin von 2002, Kostenjuk (2469) und Zhukova (2462), die erste Fraueneuropameisterin von 2000, galten als heiße Favoritinnen. Während die beiden Topspielerinnen zudem den Herrengroßmeistertitel besitzen, trägt Kostenjuk - wie weitere Teilnehmerinnen - den IM-Titel der Herren: Iweta Radziewicz (2442) und Monika Socko (2415) aus Polen, Corinna-Isabela Peptan (2439) und Cristiana Adela Foisor (2404) aus Rumänien, Olga Alexandrowa (2437) und Inna Gaponenko (2430) aus der Ukraine, Ketevan Arakhamia-Grant (2435) und Nino Khurtsidze (2411) aus Georgien, Elina Danielian (2428) aus Armenien, Zhaoqin Peng (2419) aus den Niederlanden und die erst 17-jährige Marie Sebag (2404) aus Frankreich. Zu beachten galt es weitere Shootingstars im Alter um die 18 Jahre: die russischen Kosintsewa-Schwestern Tatjana und Nadeshda (2447 bzw. 2425) und Nana Dzagnidze aus dem georgischen Tiflis (2459). Von den 37 Europäerinnen in den Top 50 der Frauen setzten sich 21 an das Brett. Alle 21 Spielerinnen wiesen mehr als 2400 Elo aus.
Gleich dahinter rangierte die Lokalmatadorin Elisabeth Pähtz (2399), die beste Denksportlerin der 21-köpfigen deutschen Delegation (gefolgt von Elena Levushkina mit Elo 2303 und Jessica Nill mit Elo 2246). In der 16 Spielerinnen zählenden russischen Abordnung mochte - außer Kostenjuk - die zweitstärkste Ekaterina Kowalewskaja (2451) für eine Überraschung gut sein. Sicher hatten wenige damit gerechnet, dass die drittgrößte Gruppe aus der Türkei kommt. Die acht Starterinnen - voran die FIDE-Meisterin Betul Cemre Yildiz (2118) - beabsichtigten, vor allen Erfahrung bei dieser starken Meisterschaft zu sammeln. "Wir sind hier aber nicht als Touristen gekommen," unterstrich Ali Nihat Yazici, der Präsident des türkischen Verbandes, der neben einem Trainer und einer Psychologin anreiste. Innerhalb der internationalen Leistungsdichte eine Favoritin auszumachen, wäre Kaffeesatzleserei gleichgekommen. Wer vorne mitspielen wollte, musste insbesondere mit der nicht zu häufig gespielten FIDE-Bedenkzeit (90 Minuten für 36 Züge plus 30 Sekunden für jeden Zug) zurechtkommen. Das heißt für gewöhnlich, die Balance zwischen solider Spielanlage und Zockermentalität zu finden.
Als Tempomacherin der ersten Turnierhälfte etablierte sich die zierliche, in Kanton geborene Chinesin Zhaoqin Peng. Mit einem makellosen Start und fünf Siegen - darunter gegen Elena Sedina und Pähtz aus dem erweiterteren Favoritinnenkreis - beeindruckte die in Rotterdam beheimatete 35-Jährige die Konkurrenz. Ihr Gestus am Brett ist fast immer entspannt, keine aggressive Gefühlsregung spiegelt sich im Gesicht. Mit leichter Konzentration sammelte die Niederländerin, die erst im späten Alter von zwölf Jahren das königliche Spiel erlernte, gegen schwächere Gegnerinnen Bauern ein und verwertet technisch sicher. Nach einer "Auszeit" mit einem neunzügigen Remis gegen die Titelverteidigerin folgte zum Auftakt der zweiten Hälfte eine Demonstration mit der französischen Eröffnung gegen die seit 1996 in Edinburgh beheimatete Arakhamia-Grant.
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Arakhamia-Grant,K (2435) - Peng,Z (2419) [C18]
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Vor dem Ruhetag gab noch ein bis zur Neige ausgekämpftes, 78-zügiges Remis gegen Stefanova. Dadurch rettete die geschiedene Mutter eines vierjährigen Sohns nach acht Runden einen halben Punkt Vorsprung auf Danielian vom letztjährigen Mannschaftseuropameister Armenien und die überraschend stark auftrumpfende Russin Irina Slavina (Elo 2413) aus Archangelsk. Vor dem Ruhetag nach Zweidrittel des Turniers herrschte die Meinung vor, dass Pengs souveräne Form eigentlich für den Sprung nach ganz oben ausreichen kann.
Wo normalerweise nach acht Runden die Konstellationen für den Schlusstag anstehen, konnte bei zwölf Ansetzungen aufgrund der breiten Spitze (5,5 Punkte reichten bis Platz 17) kaum eine Prognose gestellt werden. Trotz Wertungsunterschieden von manchmal 200 bis 300 Punkten gab es bereits vor dem finalen Drittel etliche Überraschungen und Formschwankungen. In den ersten Runden sorgten auch Deutsche für einiges Augenbrauenzucken: Anne Czäczine (2153) besiegte die routinierte Foisor von Bundesligisten Meerbauer Kiel, die aber nach einem weiteren halben Punktverlust zwischen Runde drei und zehn einen Lauf mit sieben Siegen in acht Partien hinlegen und letztlich auf Platz sieben einkam!
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Czaeczine,A (2153) - Foisor,C (2404) [B28]
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Eine weitere Überraschungen lieferte u.a. Heike Vogel (2152) aus der Formel-eins-Schumacher-Stadt Kerpen, die zum Auftakt gegen die als Geheimfavoritin gehandelte Marie Sebag remisierte und später die immer zu beachtende Polin Iweta Radziewicz in 77 Zügen niederrang.
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Vogel,H (2152) - Radziewicz,I (2442) [A45]
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Sebags Leistungen schwankten ziemlich, sie zog insbesondere gegen etwas stärkere Konkurrentinnen jeweils den kürzeren (Cramling, Kostenjuk, Tatjana Kosintsewa) und platzierte sich schließlich auf Platz 26. Radziewicz ergatterte bis zur 6. Runde nur zwei Punkte, startete dann aber voll durch, bevor sie eine Schlussrundenniederlage auf Platz 32 zurückwarf. Die bereits beim ZMD-Open 2003 stark spielende 14-jährigen Ukrainerin Anna Muyzchuk (2367) ließ im Konzert der Großen einige Mal ihr Talent aufblitzen (Sieg durch Technik gegen Zhukova, Remisen gegen Arakhamia-Grant und Khurtsidze). Am Ende stand Platz 38.
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Muzychuk,A (2367) - Zhukova,N (2462) [C01]
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Das holländische Quintett jubelte ebenfalls häufiger: Neben der vorne ihre Kreise ziehenden Peng gab es in dem von GM Adrian Michaltschischin, dem Trainer-Fuchs aus der Lwower Schachschule, seit einem Jahr betreuten Damenteam etliche gute Leistung (und am Ende zwei Normen für die Oranje-Girls, die sie bei der Siegerehrung in T-Shirts der Landesfarben fröhlich-frenetisch feierten). Dabei tat sich Marlies Bensdrop (2161) zweimal durch Großtaten gegen Spielerinnen mit um die 300 Wertungspunkten mehr hervor. In Runde eins besiegte sie die später ständig an den vorderen Brettern zu findende 24-jährige Irina Slavina und in Runde vier musste die Kiewerin Zhukova einen halben Punkt abdrücken.
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Slavina,I (2413) - Bensdorp,M (2161) [D17]
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Die gebürtige Dresdnerin Zhukova kam - betreut von ihrem Freund, dem aus der Ukraine stammenden israelischen GM Alik Gershon - schleppend auf Touren. Ein Zwischenspurt mit fünf Siegen zwischen Runde fünf und neun führte sie bis auf einen halben Punkt an das Spitzenduo Peng / Kostenjuk heran. Ab Runde neun ging es vorne härter zur Sache; jeweils sieben entschiedene Partien an den ersten zehn Brettern zeigen den ungebrochenen Kampfgeist des schwachen Geschlechts. Für einige Topspielerinnen zerplatzte dabei der Traum von der Goldmedaille.
Unmittelbar nach dem freien Tag quittierte die schwedische Titelverteidigerin Pia Cramling nach aggressiver Eröffnungsbehandlung mit Schwarz eine Niederlage gegen Polens Monika Socko und begrub ihre Ambition auf einen erneuten Gipfelsturm. Zwei Punkte bei verbleibenden drei Partien trennten sie von Peng, die einen halben Punkt auf die nunmehr warmgespielten üblichen Verdächtigen konservierte (bei sieben Punkten lagen Stefanova, Kostenjuk, Zhukova und die weiterhin konstante Slavina). Rückblickend nahm es die Schwedin, die mit ihrem spanischen Ehemann GM Juan Manuel Bellon anreiste, gelassen: " Zwölf Runden sind eine lange Strecke. Nach der Niederlage gegen Slavina war der Verlust gegen Socko zu viel, um ganz vorne mitkämpfen zu können. Ich hätte den früheren elfrundigen Modus bevorzugt, aber ich akzeptiere die Bestrebungen der ECU, Normmöglichkeiten zu schaffen. Der Rundenbeginn um 13 Uhr behagte mir weniger. Ich esse zu Mittag lieber eine volle Mahlzeit und gehe dann um 15 Uhr energiegeladen ans Brett. Zwar bevorzuge ich die klassische Bedenkzeit, aber insgesamt kam ich mit dem schnelleren Tempo gut zurecht. Allerdings würde mir eine Gutschrift von 60 Sekunden pro Zug besser gefallen, denn man muss ja in der kurzen Zeitspanne mitschreiben und sich neu fokussieren. Dem Ausrichter möchte ich insgesamt ein Kompliment für die ausgezeichnete Organisation aussprechen."
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Socko,M (2415) - Cramling,P (2488) [D10]
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Vor den letzten zwei Runden postierten sich genau 20 Spielerinnen in einer Spanne von 1,5 Punkte mit acht bis sechseinhalb Zählern gut. In eine prächtige Ausgangposition brachte sich vor allem die stets modisch - heuer vorrangig in orange - gekleidete Kostenjuk, die vor einem Jahr in St. Petersburg ihren Schweizer Manager Diego Garces heiratete und im Sommer 2003 ihr Sportexamen an der Hochschule in Moskau ablegte. Mit einem Sieg schoss die Moskauerin die am zehnten Tag eröffnungstheoretisch indisponierte Bulgarin Stefanova ab und schloss zu der seit Runde vier allein führenden Peng auf.
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Stefanova ,A (2478) - Kosteniuk,A (2469) [D10]
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Brachten die Topbretter an den beiden Tagen nach den Ruhetag überdurchschnittlich viele Entscheidungen, so herrschte in der Vorschlussrunde ein eigenartiges Bild. Bei den zehn vorderen Brettern sammelten sich sieben Remisen (darunter das über 77 Züge ausgekämpfte Duell der beiden Spitzenreiterinnen Peng und Kostenjuk), doch die fünf Begegnungen dahinter bilanzierte allesamt entschiedene Begegnungen: Elisabeth Pähtz gewann zum zweiten Mal in Folge und fügte der hochgehandelten Danielian ihre dritte Null en suite zu.
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Paehtz,E (2399) - Danielian,E (2428) [C11]
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Plötzlich erlangten auch Spielerinnen Tuchfühlung zu den Top-Ten-Plätzen, die zuvor im Mittelfeld dümpelten (Kowalewskaja, Khurtsidze, Zimina) oder zur Turnierhalbzeit die Hälfte oder weniger der Punkte auswiesen (die Russin Eugenia Chasovinkowa gewann in den Runden neun bis elf und Radziewicz gar von Runde sieben bis elf). Es war angerichtet für einen Showdown voller Abwägungen: Einen halben Punkt Vorsprung bewahrten Peng und Kostenjuk vor Slavina, Foisor, Zhukova und Tatjana Kosintsewa, "der" Gewinnerin in der Spitzengruppe mit einem Erfolg über die Engländerin Jovanka Houska. Mit Frust ging allerdings Peng ins Bett, denn sie traf die Ungerechtigkeit des Zwölf-Runden-System - zum siebten Mal die schwarzen Steine und dies in den beiden Schlussrunden!
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Houska,J (2370) - Kosintseva ,T (2447) [B26]
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