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Tals Vermächtnis lebt

2 Produkte zu Michail Tal

Rezension von Harald Fietz, September 2004

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   Der Name Michail Tal steht vor allem als Synonym für Kombinationen. Millionen von Schachfans ergötzen sich seit Generationen am phantasiereichen Zusammenwirken seiner Figuren. Obwohl kein Weltmeister klassischer Prägung seinen Titel so kurz innehielt, ist gewiss keiner allseits so beliebt wie der "Zauberer aus Riga". Doch beschränkt sich die Magie seines Spiel bloß auf taktisches Gebiet? Zwei Neuerscheinungen - die Fortsetzung seiner Autobiographie in Buchform beim Chessgate-Verlag und eine Monographie auf CD bei ChessBase - sollten auch darauf Antworten geben. Eine kritisch-vergleichende Überprüfung ist, angesichts bereits zahlreich vorhandener Veröffentlichungen, angesagt.

 

Michail Tal: Sein Lebenswerk (2)

Chessgate 2004
ISBN 3-935748-04-3,
418 Seiten; 27,90 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 5 aus 5

 

Tal überzeugt selbst

   Lange wurde gewartet auf den zweiten Band seiner Lebensbeichte. Nachdem Chessgate (damals noch als Verlag Schach!! Jürgen Daniel) 1998 mit dem ersten von drei Bänden die Periode von 1949 bis 1961 abdeckte, widmet sich der zweite Teil, der auf Valentin Kirillovs 1998 in Riga in russischer Sprache herausgegebenen Sammlung basiert, mit den Jahren 1962 bis 1973 einer besonders spannenden Zeit in Tal Schachwirken. Viele Spieler fallen nach der Erringung des größten Erfolgs in eine mentales Loch; welches Ziel lohnt noch, wenn man Weltmeister war? Wie Tal in Band eins schildert, blieb sein Schachappetit stetig. Unmittelbar nach dem Verlust des Titels im WM-Match 1961 debütierte er bei der Mannschaftseuropameisterschaft 1961 in Oberhausen und errang den ersten Platz im Turnier von Bled. Die nächsten zwölf Jahre seiner Karriere sind nicht nur dadurch gekennzeichnet, die Etikette des "Himmelsstürmers" zu widerlegen, sondern nach gesundheitlich erzwungen Pausen erneut zu Weltklasseniveau zurückzukehren. Denn dies war notwendig, um in der sowjetischen Hierarchie als Repräsentant im Ausland auftreten zu dürfen.

   Offenherzig geht Tal in Einleitungen zu jedem neuen Jahr mit der Qualität seines Spiels ins Gericht. Mal tadelt er seine Unfähigkeit, ein gewonnenes Bauernendspiel durchzuziehen, mal zieht er vor Bronstein den Hut ("Sein Königsmanöver hat mich einfach verblüfft."). Sich selbst muss er nicht loben, denn seine Partien und vor allem seine hinter- und tiefgründigen Analysen geben ein beredtes Qualitätsurteil. 102 ausführliche, mit viel Texterklärungen versehene Partien stammen vor allem aus russischen Veröffentlichungen in "Schachmaty" oder "64".

   Und doch ist für Tal-Fans, die die umfangreiche englischsprachige Literatur über den Letten kennen, nicht alles neu. Die meisten Episoden lagen bereits in seiner 1976 erschienenen Auto-Biographie "The Life and Games of Mikhail Tal" vor (1997 neu aufgelegt bei Cadogan). Dort gestaltete der gelernte Journalist Tal die Texte allerdings als Frage-Antwort-Berichte (was den Grund hatte, dass er seine Bücher nicht schrieb, sondern für gewöhnlich diktierte). In der deutschen Fassung wurde diese journalistische Technik ohne inhaltliche Verluste ausgespart. Höchst erfreulich ist zudem, dass die deutsche Ausgabe einen substanziellen Mehrwert bei den analysierten Partie bietet. Nur 41 von kommentieren 102 Partien lagen auch in der englischen Fassung vor. Mit dem zweibändigen Werk "Der Weg zum Erfolg", welches Tal 1982 im Ostberliner Sportverlag zusammen mit seinem Trainer Alexander Koblenz vorlegte, beträgt die Überschneidung gar nur 15 Partien. Und die neue Chessgate-Ausgabe fügt nicht irgendwelche unbedeutenden Partien hinzu: Es sind u. a. die kompletten Analysen der Kandidatenmatchs (von 1965 gegen Portisch bzw. Larsen und von 1968 gegen Gligoric bzw. Kortschnoi). Hier erwacht ein elektrisierender Kampfgeist, den sich heute WM-Ansetzungen so sehnlich wünschen. Allein wegen der 102 Partien, die jede für sich eine neue Lektion über Schachkunst bieten, lohnt sich die Neuerscheinung. Tal versteht es sowohl den schachlichen Gehalt zu identifizieren als auch die atmosphärische Spannung in Worte zu kleiden. Er wird getragen von seiner Begeisterung, die sein Rivale Mihail Botwinnik so umschrieb: "Schach war seine Leidenschaft, oder - genauer gesagt - nicht das Schach allgemein, sondern das Schach spielen." (zitiert in "My great Predecessors Part II" von Kasparow / Plisetsky, S. 476) Kasparow selbst gibt folgende Momentaufnahme: "Sein penetrantes Starren besaß etwas Mephistophelisches, obwohl er ein sanfter, sehr taktvoller Mensch war." (S. 382)

   Hiervon kann sich der Leser der Chessgate-Ausgabe über das zweite Viertel von Tals Schachkarriere (insgesamt sind 789 Turnierpartien und 89 Blitz-, Trainings, Simultan- und Schaupartien enthalten) anhand vieler, teils bisher unbekannter, fototechnisch sehr gut reproduzierter Fotos aus dem Bestand der Familie Tals überzeugen. Seine zweite Ehefrau Engelina und die Tochter Jeanna, die derzeit den für 2005 angekündigten, dritten Band über die letzten zwei Jahrzehnte bis 1992 übersetzt, leben seit längerer Zeit in Deutschland. Wer den ersten Band der Tal-Trilogie kennt, wird in einem weiteren Punkt angenehm überrascht werden. Seit der Münchner Ulrich Dirr bei Chessgate für Layout zuständig ist, spielen Ästhetik und Lesefreundlichkeit eine große Rolle. Auch andere "Kleinigkeiten" zeichnen das Hardcover im Gebrauch aus: Fadenbindung ermöglicht, dass der Band nicht neben dem Brett zuklappt, ein vorbildlicher Index erleichtert die Orientierung und die Gegnerstatistik erlaubt interessante Vergleiche für diese Periode. Eine würdige Präsentation Tal'scher Lehrstücke, von denen ein Beispiel hier auszugsweise vorgeführt werden soll.

 










Kristiansen,E - Tal,M
Havanna (Olympiade), 1966
Sizilianisch [B42]
[Michail Tal, Schachmaty, 1967]

1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 a6 5.Ld3 d6 6.0-0 Sf6 7.Le3 g6 8.c4 Lg7 9.Sc3 0-0 10.h3 Sc6 11.Sxc6 bxc6 12.f4 Tb8 13.Tf2 Te8 14.Df3 d5 15.La7 Tb7 16.Lc5 d4 17.Se2 Sd7 Diagramm [ Schwächer war das unverzügliche 17...Txb2 wegen 18.e5 Sd7 19.Lxd4 . Jetzt ist das Nehmen auf d4 nicht möglich: 18.Lxd4? Lxd4 19.Sxd4 Sc5 20.De3 Td7 mit Figurengewinn.] 18.Ld6 Mit dieser aktiven Fortsetzung hatte ich während der Partie am meisten gerechnet. Aber Weiß hätte dem zurückhaltenderen 18.La3 den Vorzug geben und den Bauern nicht opfern sollen. Ich wollte darauf 18... Lf8 spielen. 18...Txb2! Schlägt nicht nur den Bauern, sondern aktiviert auch deutlich die Stellung des Turms. Dieser Umstand erlangt bald entscheidende Bedeutung. 19.c5 Lf8 Der Läufer auf d6 ist nicht lange zu ertragen. Noch ein Zug und nach e4-e5 hätte Weiß eine erdrückende Position eingenommen. Jetzt hingegen könnte 20.e5 mit 20... Sxc5 beantwortet werden. Nachteilig für Weiß ist ebenfalls 20.Lxf8 Txf8 21.Sxd4 Se5!. 20.Tc1 Die einzige Möglichkeit, die Initiative aufrechtzuerhalten. 20...Lxd6 21.cxd6 c5 22.Dg3 Nach 22.Sg3 wäre die Aufgabe von Schwarz wohl schwieriger gewesen, denn es wäre sofort der Turm b2 abgetauscht worden. Es muss ergänzt werden, dass das äußerlich aktive 22.e5 Lb7 23.Dg4 auf die unangenehme Erwiderung 23... f5! trifft. 22...Lb7 23.e5 Die Idee von Weiß besteht darin, den Vorstoß f4-f5 mit großem Effekt zu verwirklichen. Die Öffnung der f-Linie verspricht Weiß gefährlichen Angriff. Schwarz steht jedoch eine Möglichkeit zur Verfügung, alle Drohungen zu parieren. 23...Txa2! Die Kommentare zum 18. Zug von Schwarz treffen in noch höherem Maße auf das Nehmen des Bauern a2 zu. Der Clou der Stellung liegt darin, dass Schwarz um jeden Preis die potenziell aktivste Figur des Weißen liquidieren muss - den Läufer. Der letzte Zugverfolgt vor allem dieses Ziel. Jetzt wäre (beispielsweise als Antwort auf 24.f5) die Drohung 24... Ta3 sehr unangenehm. Weiß möchte den Läufer auf einer anderen Diagonalen ins Spiel führen, aber auch hier erwischt ihn der schwarze Turm. 24.Lc4 Ta4 25.f5 Txc4! Mit dem Verlust dieses Läufers sind alle Hoffnungen des Weißen auf die Schaffung gefährlicher Drohungen zerstört. Deutlich schwächer wäre 25... exf5? 26.Lxf7!. 26.Txc4 exf5 27.Txf5 Le4 28.Tf1 Nicht besser wäre 28.Tg5 Ld3. 28...Txe5 Zum Sieg ausreichenden Materialvorteil hätte auch 28... Sxe5 29.Txc5 Dxd6 gesichert - drei Bauern für die Qualität. Doch Schwarz hätte in diesem Falle noch gewisse Schwierigkeiten bei der Realisierung des Übergewichts gehabt. In annahender Zeitnot strebt der Nachziehende nach mehr. Jetzt entstehen erneut taktische Verwicklungen. 29.Df4 Es droht 29... Tg5. 29...De8 30.Sxd4! cxd4 31.Tfc1 Kg7 31... De6 ist wegen 32.Dh6! schwächer. 32.Tc7 Dieser Zug stellt eine Falle. Nach dem sich anbietenden 32... De6 würde Weiß mit 33.Txd7 Tf5 34.Te7! Txf4 35.Txe6 fxe6 36.d7 Tf8 37.Tc8 gewinnen. 32...Tf5 33.Dd2 Td5 Jetzt ist der Ausgang der Partie entschieden. Schwarz verfügt über Materialvorteil und einen mit jedem Zug wachsenden Angriff. 34.T7c6 De6 35.Db4 Lxg2 0-1

 

 

ChessBase: Weltmeister Tal

ChessBase 2003
ISBN 3-935602-54-5
24,99 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 2 aus 5

 

Tal in der Schublade

   So erfreulich das Buch, so enttäuschend die CD. Drei Dateien sollen in der ChessBase-Monographie-Reihe das gesamte Schaffen Tals aufdecken. Die Partienfile mit 2861 Partien beinhaltet 210 kommentierte Partien (allerdings nur sieben davon sind von Tal selbst - im lieblosen Informatorstil). Jeweils ein Drittel davon haben die Angabe "Bulletin" oder "ChessBase" ohne nähere Angaben zu Kommentatoren (Zweitverwertungen aus anderen ChessBase-CDs sind angezeigt). Den biographischen Teil bearbeitete Johannes Sondermann mit 20 kurzen Kapitel plus einem gestückelten Interviewvideo und eine Trainingsdatei mit 245 Stellungen stammt von Henrik Schlösser.

   Leider fällt diese Würdigung Tals gegenüber anderen Weltmeister-Veröffentlichungen deutlich ab. Für das Schaffen von Alexander Aljechin und Bobby Fischer gewann man Robert Hübner als Autor, wobei für das Werk über Fischer - aus welchen Gründen auch immer- mit einem "Fünf-Euro-GM-Bonus" fast 30 Euro zu berappen sind. Um Emanuel Lasker Stil zu ergründen, ließ man fünf Experten (darunter drei Großmeister) ans Werk (siehe Rezension). Während sich bei diesen Produktionen neue Zusammenhänge zum schachlichen Beitrag des jeweiligen Amtsinhabers erschließen, steckt Sondermann Tal undifferenziert in die Taktikschublade. In einer Würdigung von zehn Sätzen (!) heißt es lapidar: "Botwinnik hatte Recht, als er nach seinem Weltmeistertitelrückgewinn gegen Tal 1961 über diese sagte, dass er unbesiegbar werden könnte, wenn er seinen einseitigen Spielstil ablege. Doch leider hatte Mischa nie das Interesse und die Disziplin dazu und zeigte völliges Desinteresse an seiner Gesundheit. Seine Fans werden ihm seinen Spielstil mehr als verzeihen." Mit weiteren Schwarz-Weiß-Mustern wird sein Stil (ab-)qualifiziert: "Der Verspielte", "Der gleichgültige Techniker" oder "Der Ungeduldige" zeichnen anhand weniger Beispiele ein verzerrtes Bild. Ein starkes Element der lettischen Schachtradition ist - wie Alexei Shirov in seiner Biographie "Fire on Board" (Cadogan 1997, S.10) anmerkt - ist nicht die Fixiertheit auf Taktik, sondern das Bestreben, alle Schachbereiche unter einem hohen kreativen Anspruch zu betreiben.

   Das Literaturverzeichnis der CD offenbart allerdings, wie oberflächlich zu Tals eigenen bzw. zu Ansichten von dritter Seite recherchiert und verglichen wurde. Grundlegende Werke, etwa die oben erwähnten Sportverlag-Bände, Tals eigenes "Attack with Mikhail Tal" (zusammen mit Iakov Damsky 1994 bei Cadogan) oder die Hommage von Joe Gallagher über die Jahre 1975 bis 1992 ("The Magic of Mikhail Tal", Everyman 2000), scheinen nicht konsultiert worden zu sein. Zwar enthält der biographische Teil einige "nette" Details (z. B. über Tals Herkunft, Jugend und Familie oder seine Laster Rauchen und Trinken), doch insgesamt ergibt sich kein schlüssiges Porträt. Meinungen, Vermutungen und Anekdoten aus zweiter Hand vermengen sich, ohne dass schriftstellerische Souveränität dies zum Lesegenuss bringt.

   Auch die multimedialen Möglichkeiten bleiben auf der Strecke: Zwar sind Interviews mit Engelina und Jeanna Tal transkribiert, aber die Videosequenzen geben dies nur teilweise wider. Unsichere Fragestellungen verraten eher ein thematisches Vortasten als ein gut strukturiertes Konzept. Angesichts der inhaltlichen Defizite fällt es fast schon nicht mehr ins Gewicht, dass - wie bei ChessBase-Produkten häufig - Bildmaterial ohne Quellenlegitimierung kopiert wird und das Textlayout mit unterschiedlichen Schrifttypen den Charme einer Schülerzeitung nicht übersteigt. Ein kleiner Lichtblick ist die Trainingsdatei, da sich solche Übungen am Computer bequem durchexerzieren lassen. Für stärkere Spieler störend erweisen sich die meistens sehr offensichtlichen Hinweise in den Eingangsfragen. Auch hier wird allerdings durch den einseitigen Fokus auf Taktik versäumt, eine objektivere Stärken-Schwäche-Analyse vorzunehmen. Beispiele zur Eröffnungsbehandlung oder bevorzugten oder nicht so geliebten Endspieltypen hätten sicher mehr Erkenntnis gebracht als die x-te Taktikstrecke. Unter dem Strich bleibt ein unbefriedigendes Preis-Leistungsverhältnis.

   Doch die Anhängerschaft Tals genießt nunmehr das Privileg der Alternative. Das Urteil im Vergleich Buch-CD fällt diesmal eindeutig aus: Investieren Sie drei Euro mehr und die Erbauung ist um ein Mehrfaches größer!

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 17 / 2004, S. 468/469
das Buch stellte Schach Niggemann (Industriestr. 10, 46359 Heiden) zur Verfügung
die CD stellte ChessBase, Mexikoring 35, 22297 Hamburg zur Verfügung


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