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Vergiftetes verteidigen

Edition Olms bringt dreibändige Kortschnoi-Biografie heraus

von Hartmut Metz, 2. April 2001

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Viktor Kortschnoi

Viktor Kortschnoi

   Mancher Verlag behelligt die Leser schon mit Biografien von 25 oder 30 Jahre alten Spielern. Natürlich gibt es auch Ausnahmen wie Alexej Schirows „Fire on board", die dank der Partien äußerst gelungen sind. Geschichten über den Spieler geben sie aber alle wenig her. Einen Leckerbissen erwartet hingegen den Schachgourmet mit der dreibändigen Ausgabe über Viktor Kortschnois Schaffen. Das erste Buch soll im April erscheinen. Der 70-Jährige kommentiert dabei für den Verlag Edition Olms 100 seiner Partien. 50 mit Weiß, 50 mit Schwarz, aus jedem Jahr eine seit 1951. „Das ist manchmal ganz schwer, weil man Tiefs hat, die mehrere Jahre dauern", berichtet Kortschnoi von seiner Auswahl.

   Kortschnoi beginnt seine erste Partie mit den Worten: „Ich war kein Wunderkind. Das Schachwissen ist mir nicht im Schlaf zugefallen. Sowjetischer Meister des Sports wurde ich mit 20, nach meinem Sieg in einem Turnier (Leningrad 1951), aus dem diese Partie stammt. Schnell bekam ich den Ruf, jeden Bauern zu nehmen, sei er noch so vergiftet, und diesen hartnäckig zu verteidigen."









Stellung nach:

W: Kortschnoi S: Kamischow

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 c6 4.Sf3 Sf6 5.Lg5 dxc4 6.a4 Le7? Wenn Schwarz mit dxc4 das Zentrum aufgibt, ist er gezwungen, den Mehrbauern zu verteidigen, um für das positionelle Zugeständnis Kompensation zu erhalten. Notwendig war Lb4, gefolgt von b7-b5. 7.e3 h6 8.Lh4 c5 9.Lxc4 Sc6 10.0-0 0-0?! 11.Lxf6! Lxf6 12.dxc5 Lxc3 13.bxc3 Da5 14.Lb5 Td8 15.Db3 Ld7 16.Sd4 Tac8 17.Tfd1 Dc7 18.h3 Sa5 19.Db4 a6 20.Lxd7 Txd7 21.Sb3 Sxb3 22.Dxb3 Te7? Txd1+ 23.Txd1 Dxc5 24.Dxb7 holt den Bauern nicht zurück. Weil sich Schwarz aber das Ziel gesetzt hat, c5 zu erobern, zieht er seinen Turm von der einzigen offenen Linie ab. Richtig ist Tcd8 23.Txd7 Txd7 24.Db4 Td2 mit voller Kompensation. 23.Db4 Kf8 24.Tab1 f6 25.De4! f5 26.Df3 Kf7 27.Tb6 Droht Tdb1. Nun muss Schwarz auf c5 nehmen. 27...Dxc5 28.Txb7 Dxc3 29.Txe7+ Kxe7 30.Db7+ Kf6 31.Dxa6? Heute kann ich nicht mehr verstehen, was mich davon abhielt, den Turm auf d7 zu stellen. 31...Db3 32.Ta1? Zeitnot. Erneut ist 32.Td7! der korrekte Zug. 32...Db2 33.Df1 Tc2 34.Td1 Da3 35.Ta1 Db2 36.Db1! Die letzte Gewinnchance. 36...Txf2? Dxb1 37.Txb1 Ta2 stellt den Turm aktiver. 37.Dxb2+ Txb2 38.a5 Tb7 39.a6 Ta7 Nun steht der Turm äußerst passiv. 40.Ta5?! Ke7 41.Kf2 Kd6 42.Kf3 g6 43.Kf4?! e5+ 44.Kf3 Ke6 45.e4? Es gewinnt der Königsweg f3-e2-d3-c4-b5. 45...f4? Schwarz muss die Zentrumsspannung aufrecht erhalten. 46.Ke2 Das Gewinnmanöver. 46...Kd6 47.Kd3 Kc7 48.Kc4 Kb8 49.Kd5 Td7+ 50.Kxe5 Td2 51.a7+ Ka8 52.Kxf4 Txg2 53.e5 Tf2+ 54.Ke4 Te2+ 55.Kd5 g5 56.e6 h5 1:0

Die Partie zum Download (pgn)

Die Partie mit den Originalkommentaren von Viktor Kortschnoi:

Kortschnoi - Kamischow
Tschigorin Memorial, Leningrad 1951
Damengambit

Ich war kein Wunderkind. Das Schachwissen ist mir nicht im Schlaf zugefallen. Sowjetischer Meister des Sports wurde ich mit 20, nach meinem Sieg in einem Turnier, aus dem diese Partie stammt. Schnell bekam ich aber den Ruf eines Spielers, der jeden Bauern nimmt, sei er noch so vergiftet, und diesen dann hartnäckig verteidigt. Der Grund dafür liegt in Partien wie der folgenden.

1 d4 d5 2 c4 e6 3 Sc3 c6 4 Sf3 Sf6 5 Lg5 dxc4

Der Weltmeister bestimmt die Mode! In den Jahren Michail Botwinniks war die so genannte Botwinnik-Variante sehr populär, in der Schwarz auf c4 schlägt und den Bauern zu halten versucht. Viele spielten diese Variante. Auch ich.

6 a4

Zu jener Zeit eröffnete ich meist mit 1 e4. Die Variante mit 6 a4 hatte ich speziell für meinen Gegner vorbereitet.

6…Le7?

Selbstverständlich ein schwacher Zug. Wenn Schwarz mit dxc4 das Zentrum aufgibt, ist er gezwungen, den Mehrbauern zu verteidigen, damit er für das positionelle Zugeständnis wenigstens etwas Kompensation erhält. Notwendig war deshalb zum Beispiel 6...Lb4, gefolgt von b7-b5.

7 e3

Auch 7 e4 ist gut. Nach 7…h6 muss Weiss dann wahrscheinlich auf f6 schlagen, da 8 Lh4 mit 8…Sxe4 beantwortet werden kann.

7...h6 8 Lh4 c5 9 Lxc4 Sc6 10 0-0 0-0?!

Etwas natürlicheres als die Rochade kann man sich in dieser Stellung kaum vorstellen, doch es wird sich zeigen, dass der sofortige Tausch auf d4 genauer gewesen wäre.

11 Lxf6! Lxf6

Oder 11...gxf6 12 d5 mit Vorteil für Weiss.

12 dxc5








Weiss hat einen Bauern gewonnen, und da er etwas besser entwickelt ist und leichten Raumvorteil hat, wird es für Schwarz nicht einfach werden, sich diesen zurück zu holen.

12...Lxc3

Nach 12...Le7 könnte 13 Ld6 Td8 14 Lxe7 Lxe7 15 Se4 f5 16 Sd6 (16 Sg3!?) 16...Lxd6 17 cxd6 Txd6 18 Tfd1 Txd1+ 19 Txd1 Kf7 20 Lb5 folgen. Vielleicht gelingt es Schwarz, die Stellung dann zu halten, vielleicht aber auch nicht. Nach 12...La5 kann 13 Lb5 zur Partie überleiten, doch möglich ist auch das energische 13 Se4 mit starkem Druck. Deshalb tauscht Kamischow sofort auf c3.

13 bxc3 Da5 14 Lb5 Td8

Oder 14...Dxc3 15 Lxc6 bxc6 16 Ld6 Lb7 17 Tab1.

15 Db3 Ld7 16 Sd4

Wie wir sehen, kontrolliert Weiss dank seinem Mehrbauern wichtige Felder im Zentrum, auf der d-Linie sowie am Damenflügel, und sein c-Bauer garantiert ihm Raumvorteil.

16…Tac8

Auf 16...e5 antwortet Weiss mit 17 Sxc6 bxc6 18 Lc4 Le8 19 Lb4 Dc7 20 Tad1 und behauptet auch dann sein positionelles Plus.

17 Tfd1 Dc7 18 h3

Weiss hat keine Eile, den Druck zu erhöhen. Auch so bleibt es für Kamischow schwierig, sich dem Schraubstock zu entwinden.

18…Sa5

Forciert verliert 18...Se7 19 Lxd7 Txd7 20 Sxe6 Txd1+ 21 Txd1 fxe6 22 Lxe6+ Kf8 23 Td7 Lxc5 24 Txe7 Lxe7 25 Lxc8+. In Betracht kommt jedoch 18...Se5. Dann hält 19 Le2 den Mehrbauern.

19 Lb4 a6 20 Dxd7 Txd7 21 Sb3

Stünde der Damenturm auf d1, hätte Sxe6 gewonnen. Doch im 17. Zug sollte dem a1-Turm die Möglichkeit offen gelassen werden, sich auf der b-Linie nützlich zu machen.

21…Sxb3 22 Dxb3








22...Te7?

Natürlich holt 22...Txd1+ 23 Txd1 Lxc5 24 Lxb7 den Bauern nicht zurück. Weil sich Schwarz aber das Ziel gesetzt hat, c5 zu erobern, zieht er seinen Turm von der einzigen offenen Linie ab. Richtig ist 22...Tcd8 23 Txd7 Txd7 24 Lb4 Td2, mit voller Kompensation für den verlorenen, oder wie man dann hätte sagen können, für den geopferten Bauern.

23 Lb4 Kf8

23...Lxc5 geht nicht wegen 24 Td8+ Kh7 25 Txc8 Lxc8 26 Lxe7, und nach 23...Kh7 hat Weiss 24 c6 bxc6 25 Le4+ g6 26 Ld3 a5 27 Tab1, besetzt beide offenen Linien und steht leicht besser.

24 Tab1 f6 25 Le4!

Auch nach 24...Ke8 hätte 25 Le4 zahlreiche Drohungen aufgestellt..

25…f5 26 Lf3 Kf7 27 Tb6

Droht Tdb1. Nun muss Schwarz auf c5 nehmen.

27...Lxc5 28 Txb7 Lxc3 29 Txe7+ Kxe7 30 Lb7+ Kf6








31 Dxa6?

Es machte den Anschein, als sei Weiss im Begriff, die ganze Partie wie ein erfahrener Meister zu behandeln, und plötzlich... Heute kann ich nicht mehr verstehen, was mich davon abhielt, den Turm auf d7 zu stellen. Wie Witzbolde in solchen Situationen zu sagen pflegen: ‚Dieser Zug muss sein, selbst wenn er verliert!'

31...Db3 32 Ta1?

In Zeitnot und in einem Moment, wo er um die Initiative kämpfen müsste, manifestiert sich beim jungen Meister die Unzulänglichkeit seiner Schachausbildung. Erneut ist 32 Td7! der korrekte Zug.

32...Db2 33 Df1 Tc2 34 Td1 Da3

Weiss war daran, die Initiative zu ergreifen, doch Schwarz ist auf der Hut: Zieht der Turm von der Grundlinie weg, folgt Tc1.

35 Ta1 Db2 36 Db1!

Die letzte Gewinnchance. Schwarz steht vor der schwierigen Wahl, entweder mit 36...Dxb1+ 37 Txb1 Ta2 in ein Endspiel abzuwickeln, in dem er einen Bauern weniger, dafür aber einen aktiven Turm hat, oder…

36…Txf2 37 Dxb2+ Txb2 38 a5 Tb7 39 a6 Ta7

…in ein Endspiel mit gleichem Material, aber passivem Turm.








In einem Buch über Turmendspiele - und ich habe ein solches vor kurzem publiziert - hätte ich dieses Beispiel mit acht bis zehn Diagrammen versehen und mehrere Seiten darauf verwendet, das Endspiel zu analysieren. Hier fehlt dazu der Platz, obschon die Stellung sowohl für den Anfänger wie den Experten von Interesse ist.

40 Ta5

Kein besonders guter Zug. In einer Stellung, in der Tempi von Bedeutung sind, sollte der König Richtung Zentrum eilen.

40…Ke7 41 Kf2 Kd6 42 Kf3 g6 43 Kf4

Weiss verpasst den Gewinn 43 Ke2 Kc6 44 Kd3 Kb6 45 Ta1 (45 Te5 Te7 46 Kc4 Tc7+ 47 Kb4 Tc6) 45...Txa6 46 Txa6+ Kxa6 47 Kd4 Kb5 48 Ke5 Kc4 49 Kxe6 Kd3 50 Kf6 Kxe3 51 Kxg6 f4 52 Kf5 f3, or 52 h4 Kf2 53 Kf5 Kg3 54 h5 Kh4 55 Kg6 Kg3.

43...e5+ 44 Kf3 Ke6 45 e4?

Es gewinnt der Königsweg f3-e2-d3-c4-b5. Nach 45 Ke2 Kf6 46 Kd3 Kg5 würde das schwarze Gegenspiel gefährlich, deshalb muss 45…Kf6 zuerst mit 46 h4 g5 47 hxg5+ hxg5 48 Kd3 beantwortet werden. Auf 47...Kxg5 dagegen kehrt der König zurück nach f3 und Weiss geht daran, die Schwächung der schwarzen Bauernkette auszunutzen.








45...f4?

Es ist angenehm, sich hinzustellen und mit dem Vorteil eines halben Jahrhunderts an Erfahrung die Fehler der Jungen zu beschreiben, die jene damals nicht einmal geahnt haben. Schwarz darf auf keinen Fall die Zentrumsspannung lösen! Dann könnte sich die Partie wie folgt entwickeln: 45...Kd6 46 Ke3 Kc7 (46...h5!) 47 exf5 gxf5 48 g4 f4+ 49 Ke4 Kd7 50 Td5+ Kc7 51 Txe5 Txa6 52 Kxf4 - der schwarze König ist von seinem Flügel abgeschnitten und Weiss gewinnt leicht. Das gilt auch für 48...fxg4 49 hxg4 Kb8 50 Tb5+ Ka8 51 Tb6 Tg7 52 Kf3 e4+ 53 Kf4 usw.

Lebhafter wird das Geschehen nach 45...Kf6. Hier hat Schwarz nach 46 Ke3 Kg5 oder 46 g3 Kg5 genügend Gegenspiel. Stärker ist deshalb 46 h4 Ke6 47 Ke3 Kd6 48 Kd3 h5 49 Kc4 fxe4 50 Kb5 Ta8! Dennoch gleicht der e-Bauer die Chancen aus: 51 Kb6 Tb8+ 52 Ka7 Tb1, oder 51 a7 e3 52 Kb6 e2 53 Ta1 Kd5 54 Te1 e4 55 Txe2 Kd4 usw. 49 g3!? bringt Schwarz zwar in Zugzwang, aber 49...Ke6 ist möglich, und nach 50 exf5+ gxf5 (50...Kxf5? 51 Ta3, und Schwarz steht schlecht) 51 Kc4 Kd6 52 Kb5 Kc7 ist nicht zu sehen, wie Weiss gewinnen soll.

46 Ke2

Das Gewinnmanöver.

46…Kd6

46...g5 47 Kd3 h5 48 Kc4 g4 49 hxg4 hxg4 50 Kb5 f3 51 gxf3 gxf3 52 Kb6 f2 53 Ta1 Tf7 54 a7 Tf8 55 Tf1 Kd6 56 Td1+ Ke6 57 Kc6!, und Weiss gewinnt.

47 Kd3 Kc7 48 Kc4 Kb8 49 Kd5 Td7+

Oder 49...Te7 50 Tb5+ Ka8 51 Tb6 mit leichtem Gewinn.

50 Kxe5 Td2 51 a7+ Ka8 52 Kxf4 Txg2 53 e5 Tf2+ 54 Ke4 Te2+ 55 Kd5 g5 56 e6 h5 1-0


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