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Die alte Generation wählt Coca-Cola

Pepsi-Mime Garri Kasparow bringt alles durcheinander

von Hartmut Metz, 17. Februar 2001

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   Jeder schafft sich seine eigenen Wahrheiten. Ganz stark darin ist Garri Kasparow, fast schon stärker als auf dem Brett - und das will nach seinem Hattrick beim Topturnier in Wijk aan Zee (Niederlande) etwas heißen. Den redet er zudem noch besser, als er eh schon ist. Der zweitplatzierte Schach-Weltmeister Viswanathan Anand habe doch nur so gut abgeschnitten, weil er gegen die Schlusslichter aus Holland die weißen Steine bekam beziehungsweise erst am Schluss des Turnieres gegen den kräftig nachlassenden ältesten Teilnehmer, Jan Timman, gekommen sei. Ganz zu schweigen davon, dass den Inder das Auslosungsglück begünstigt habe mit der nächsthöheren Startnummer hinter ihm. So klopfte er, Garri Kasparow höchstselbst, doch praktisch alle Kontrahenten für Anand weich. Der 31-Jährige habe sie anschließend mit leichter Hand in die Pfanne hauen können ... Kein Wort davon, dass tatsächlich Kasparow Auslosungsglück besaß. Sowohl im Duell mit Anand wie auch gegen Wladimir Kramnik durfte der entthronte Weltmeister die weißen Steine führen, während der ach so von Fortuna begünstigte „Tiger von Madras" in beiden Prestigeduellen Schwarz bekam.

Garri Kasparow

Garri Kasparow

   Kasparow war einfach wieder in Hochform: Er pöbelte, benahm sich kindisch - und spielte exzellentes Schach. Nichts mehr von einem verzagenden Weltranglistenersten, der im WM-Match gegen Wladimir Kramnik in London keine der 15 Partien gewinnen konnte. Aggressiv wie eh und je zerschmetterte er fünf Gegner, die restlichen acht waren mehr oder minder froh, dem 37-Jährigen ein Remis abgeluchst zu haben. Der neue Weltranglistenzweite Kramnik (8 Punkte), dessen „wildes" WM-Match vom Oktober nach massiven Protesten nun doch in die Elo-Ratingzahl einfließt, nahm den Zähler Rückstand ebenso wie der diesmal uninspiriert agierende Anand (8,5) mit stoischer Gelassenheit auf. Kramnik bewies gar Größe und schenkte dem ernstlich erkrankten Peter Leko nach nur fünfminütiger Spielzeit ein Remis, was ihn die letzten Chancen auf den Turniersieg kostete. Außerdem drückte er Alexej Schirow vor der Partie die Hand. Ein Verhalten, das Kasparow „zum ersten Mal in meiner Karriere" nicht für erforderlich hielt. Den Bruch der Tradition begründete der Moskauer mit den Vorwürfen Schirows. Der Lette mit spanischem Pass war nach seinem Zweikampf-Sieg über Kramnik um den WM-Kampf betrogen worden und hatte sich danach entsprechend abfällig in den Medien darüber geäußert. Eine Entschuldigung, die Kasparow einforderte, erachtete Schirow als überflüssig.

   Ausgerechnet das Hass-Duell brachte die Kehrtwende zugunsten Kasparows. Mit dem Sieg holte er den mit einem Punkt Vorsprung führenden FIDE-Vizeweltmeister ein und überflügelte diesen dank des leichteren Restprogramms auf der Zielgeraden. Den Erfolg über Schirow widmete er seinem an diesem Tag vor 30 Jahren verstorbenen Vater. Das Gedenken hielt das „Ungeheuer aus Baku" jedoch nicht davon ab, gleich nach der Partie seinen Großmeister-Kollegen Ian Rogers zu attackieren. „Du musst dich heute ziemlich unglücklich fühlen", raunzte er den Australier an. Der Journalist erkundigte sich unbedarft nach dem Grund. „So wie du über mich schreibst, freust du dich über jede Niederlage von mir", raunzte Kasparow. Wenigstens hatte das Publikum an diesem Tag „richtig" entschieden. Es sprach dem Ex-Weltmeister den Preis für die beste Partie zu. Die frohe Kunde überbrachten die Organisatoren sogleich mit Bedacht - ansonsten hätte Kasparow die Pressekonferenz einmal mehr aus diesem nichtigen Grund platzen lassen. So demonstrierte er gut gelaunt die Finessen seines Sieges über Schirow.

   In dem Gefälligkeits-Interview auf seiner Webseite Kasparovchess.com, die Gerüchten zufolge finanziell angeschlagen ist und am Jahresende womöglich vor dem Aus steht, legte der Weltranglistenerste weiter nach und geizte nicht mit Seitenhieben auf seinen Bezwinger Kramnik. Nach sieben Turniersiegen in den vergangenen 25 Monaten spricht sich Kasparow das „moralische Recht" zu, ein Revanche-Match für die Schlappe im Oktober in London zu erhalten. Von seinem Nachfolger auf der vom Weltverband FIDE nicht geduldeten WM-Seitenlinie erwartet der 37-Jährige nach nur wenigen Monaten exakt das, was er seit 1993 kraft eigener Selbstherrlichkeit bis auf eine Ausnahme vermied: ein WM-Duell.

   „Leider nimmt es die neue Generation nicht sonderlich genau mit ihren Pflichten", geißelt Kasparow ausgerechnet ein Gebaren, das ihn nie auszeichnete. „Der Gewinn der WM-Krone birgt auch Verpflichtungen. Je länger Kramnik wartet, umso mehr verliert der Titel an Bedeutung", drängt Kasparow darauf, das jetzt noch existierende „rege Interesse an einem Revanche-Kampf" zu nutzen. Statt einem neuen WM-Match das Wort zu reden, lässt der 25-jährige Moskauer das „Ungeheuer von Baku" nicht nur zappeln. Ja, er ergötzt sich an dem Schauspiel des verzweifelt nach dem verlorenen Thron gierenden „Königs ohne Land". Besonderes Vergnügen bereiten ihm und seinem Sekundanten Joel Lautier, einem der Angstgegner Kasparows, Späße und Sprüche zum Verhalten des ungeliebten Ex-Weltmeisters.

Vladimir Kramnik

Vladimir Kramnik

   Kramnik scheren dabei Vorwürfe wenig, dass er nicht wie Kasparow Geld auftreiben kann. Zuletzt kassierte der Maestro wie Baywatch-Nixe Pamela Anderson ein erkleckliches Sümmchen für einen Werbespot während der Super Bowl im American Football. „The new generation chooses Pepsi", sagt Kasparow darin. Ein Spruch, dessen Worte er auch gleich dazu benutzte, um die „neue Generation" in Wijk verbal abzuwatschen für ihre Remisversuche mit Weiß. Alexander Morosewitsch, der das Ziel bereits nach 14 Zügen erreicht hatte, nahm's von der heiteren Seite und kündigte an, bei der nächsten Partie gegen Kasparow eine Pepsi mit ans Brett zu nehmen.

   Erwartungsgemäß verlor die englische Firma „Braingames" das Interesse an weiteren Schach-Veranstaltungen, weil Kramnik als neuer Champion weniger am Ball bleibt als Kasparow. „Ich habe es stets verstanden, Sponsoren aufzutreiben", brüstet sich „die Einwegspritze", die durch sein Verhalten auch immer rasch die Geldgeber verprellte. Kramnik derweil schert sich weniger um harte Dollars, sondern möchte vor allem Schach spielen. Einzige Ausnahme: Ein Titel-Vereinigungsmatch gegen den FIDE-Weltmeister Anand. Das dürfte frühestens im April 2002 zu Stande kommen. Vorher gehen sich die neuen Herrscher aus dem Weg. Linares lassen beide links liegen, nur ihren deutschen Lieblingsturnieren, den Frankfurt Chess Classic und den Dortmunder Schachtagen, halten die beiden Stars die Treue. Beide Veranstalter setzten frühzeitig auf die richtigen Pferde und brauchen in diesem Jahr keinen launischen Ex-Weltmeister.

   Derart isoliert, begibt sich der Weltranglistenerste sogar auf Schmusekurs mit der verhassten FIDE. Zum ersten Mal seit acht Jahren vernimmt Präsident Kirsan Iljumschinow Lob von ihm. Der Weltverband ging eine Kooperation mit Octagon ein. Die US-Firma, die inzwischen auch bei Fußball-Bundesligist Eintracht Frankfurt das Sagen hat, soll Sponsoren für das königliche Spiel akquirieren. „Wenn Giganten wie Coca-Cola, IBM oder Intel Werbegelder ausloben, geht mir einer meiner Hauptkritikpunkte gegenüber der FIDE verloren", erklärt der Pepsi-Darsteller und begeht en passant einen Schnitzer mit der Aufzählung des Koffeinbrause-Erzfeindes. Ein Indiz für die Annäherung an den Weltverband ist auch die Teilnahme an einem Schnellschach-Turnier in Cannes, obwohl die FIDE dieses zum Weltcup erhob. Bis dato hatte Kasparow Teilnahmen an FIDE-Wettbewerben stets empört abgelehnt.

   „Das Monster mit den 1000 Augen" übersieht auf dem Schachbrett selten taktische Schläge. Umso schockierender war für Kasparow die Erkenntnis, dass er ebenso wie Kramnik in Wijk aan Zee eine simple Fortsetzung übersah. In der fünften Runde ergab sich folgende Stellung, Weiß am Zug:
















Stellung nach:

W: Kasparow S: Kramnik

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 4.0-0 Sxe4 5.d4 Sd6 6.Lxc6 dxc6 7.dxe5 Sf5 8.Dxd8+ Kxd8 9.Sc3 Ke8 10.h3 Le7 11.Lg5 Lxg5 12.Sxg5 h6 13.Sge4 b6 14.Tfd1 Se7 15.f4 Sg6 16.Tf1 h5 17.Tae1 Lf5 18.Sg3 Se7 19.Sxf5 Sxf5 20.Kf2 Sd4 21.Tc1 Td8 22.Tfd1 Ke7 23.Se4 h4 24.b4 Th5? 25.Sg5? Beste Gewinnchancen hätte Weiß nach 25.g4! besessen. Setzt Schwarz mit Thh8 fort, garantiert 26.f5 fast schon entscheidenden Raumvorteil. Doch wie geht es nach dem geplanten 25...gxh3 weiter? 26.Sxg3 Txh3 27.Txd4! Txd4 und die Springergabel 28.Sf5+ nebst 29.Sxd4 gewinnt eine Figur. 25...Thh8 26.Td3 Se6 27.Sxe6 Kxe6 28.Tcd1 Td5 29.c4 Txd3 30.Txd3 a5 31.bxa5 Ta8 32.Ta3 Kf5 33.Kf3 Ta6 34.c5 f6 35.Te3 Txa5 36.e6 Ta8 37.e7 Te8 38.a4 Kg6 39.Te6 Kf7 40.Txc6 Ta8 41.cxb6 cxb6 42.Txb6 Txa4 43.Te6 Ke8 44.Te4 Ta3+ 45.Te3 Txe3+ 46.Kxe3 f5 remis.

Die Partie zum Download

Endstand in Wijk aan Zee nach 13 Runden: 1. Kasparow (Russland) 9, 2. Anand (Indien) 8,5, 3. Kramnik (Russland), Iwantschuk (Ukraine) je 8, 5. Adams (England), Morosewitsch (Russland), Schirow (Spanien) je 7,5, 8. Leko (Ungarn) 6,5, 9. Topalow (Bulgarien), Fedorow (Weißrussland), van Wely je 5, 12. Piket, Tiwiakow je 4,5, 14. Timman (alle Niederlande) 4.


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