Startseite Rochade Kuppenheim

Der Tiger schleicht um alle Fallen

Anand gewinnt als erster Weltmeister seit 1886 drei Partien in Folge/
Titel verstärkt Boom im Schach-Mutterland Indien

von Hartmut Metz, 27. Dezember 2000

mehr Schachtexte von Hartmut Metz


   Der „Hexer von Riga" brannte ein letztes Feuerwerk ab. Doch am Ende erstrahlte erneut nur Viswanathan Anand im Lichterglanz. Als erster Weltmeister seit Emanuel Lasker, der 1907 die letzten vier Partien gegen den US-Amerikaner Frank Marshall gewann, gelang dem Inder in einem Finale wieder ein "Hattrick" und sicherte sich mit dem 3,5:0,5 über Alexej Schirow (Spanien) vorzeitig in Teheran die höchste Krone. Der 31-Jährige ist der erste Asiate auf dem Thron des Schach-Weltverbandes FIDE und nach dem zweiten Weltkrieg der erst zweite Champion nach Bobby Fischer (1972), der nicht aus der Sowjetunion beziehungsweise Russland stammt.

   Bei seiner Rückkehr am Freitag nach Neu Delhi erwarten den „Tiger von Madras" zahlreiche Ehrungen: Seine Heimatstadt, die mittlerweile Chennai heißt, versprach ihm eine große Parade. Nach dem Gewinn des „Grand Slams" 2000 mit Siegen bei der Blitzschach-WM in Warschau, im Schnellschach-„Wimbledon" in Frankfurt, dem Erfolg beim Worldcup in China sowie als 15. Schach-Weltmeister der FIDE wird Anand auch zweifellos zum zweiten Mal zum Sportler des Jahres auf dem Subkontinent gewählt. Der indische FIDE-Vizepräsident Ummer Koya sieht durch Anands Titel eine neue „goldene Ära" eingeleitet, die an der Geburtsstätte des königlichen Spiels zu einer „großen Explosion" bei abermillionen Talenten und künftigen Weltmeistern führe. Schach hängte bereits Hockey in der Gunst des Milliarden-Volkes ab, nun dürften die letzten beiden Hürden, Cricket und Tennis, genommen werden.

   Auf dem Brett in der iranischen Hauptstadt schien jedoch nur einer zu explodieren: Alexej Schirow. Nachdem der für Spanien spielende Lette die zweite von maximal sechs Partien verloren hatte, spielte der Weltranglistensechste bereits in der dritten Begegnung Harakiri. Doch auch dort perlte nach 41 Zügen seine Attacke an Anand ab wie im letzten Duell. Der 28-Jährige versuchte eine Variante, mit der ihn der zweifache Vizeweltmeister in Frankfurt auseinander genommen hatte, zu verbessern. Wagemutig opferte er zwei Figuren für vier Furcht einflößende Bauern und Drohungen gegen den weißen König - aber der „Tiger von Madras" entkam allen Fallen und biss am Schluss entscheidend zu. Schirow bleibt als Trost seine bisher höchste Börse, rund 700.000 Mark Preisgeld.

   Anand, der 1,1 Millionen Mark erhält, gestand erleichtert, „das Match, zumindest eine Partie, hätte auch anders ausgehen können. Alexej pflegt einen sehr, sehr scharfen Stil". Für Schirow war „nach der zweiten Partie das Duell vorbei", in der der Unterlegene ein Remis verpasste. Wegen der 16 Spieltage hintereinander in Neu Delhi klagte der Spitzenspieler von Bundesliga-Tabellenführer Lübecker SV über eine „zu kurze Erholungsphase von lediglich vier Ruhetagen". Kontrahent Anand hatte hingegen in den fünf K.o.-Runden zuvor in Indien nur im Viertelfinale gegen Titelverteidiger Alexander Chalifman (Russland) einen Tag Pause wegen des Schnellschach-Tiebreaks eingebüßt. Dass der 31-Jährige, der in 20 Partien ungeschlagen blieb und acht davon gewann, verdient Weltmeister wurde, steht für Schirow außer Frage. „Anand ist ein Spieler, gegen den man auch ohne Müdigkeit verlieren kann. Er befand sich in sehr guter Form."

   In der Januar-Weltrangliste rückt Anand Garri Kasparow und Wladimir Kramnik (beide Russland) auf die Pelle. Über ein Vereinigungsmatch gegen den Braingames-Weltmeister Kramnik, der im Oktober den seit 1993 abtrünnigen Kasparow entthront hatte, verschwendete der Inder nach seinem Triumph vorerst keinen Gedanken. „Damit plage ich mich später", ulkte der FIDE-Champion. Sein Trainer Elisbar Ubilawa stellte klar: „Dass Kramnik die Nummer eins, Kasparow, schlug, bedeutet einen gewaltigen Fortschritt. Ein WM-Match war das jedoch keines."

   In dieselbe Kerbe schlug Kirsan Iljumschinow. Während Kasparow ins Abseits geriet, bekommt der FIDE-Präsident Oberwasser. Kramnik habe sich nie selbst als Weltmeister bezeichnet. Folglich könne es auch kein Vereinigungsmatch geben. Höchstens eines ums „Prestige". Schließlich könne ansonsten jeder der FIDE, die 159 nationale Verbände vertrete, die WM streitig machen. „Morgen organisiert Pizza Hut eine WM, dann McDonald's und am Schluss wirft Bill Gates mit seinem Geld um sich", tönte das Staatsoberhaupt Kalmückiens vollmundig.

   Die FIDE will nicht nur ab Januar die Bedenkzeit in Turnierpartien weiter verkürzen, sondern erwägt auch einen neuen WM-Modus. Anstatt der 100 Teilnehmer sollen künftig in vier Wettbewerben die acht Besten ermittelt werden, die dann um den Titel denken. „Kramnik erhält dafür selbstverständlich eine Einladung", jubiliert Iljumschinow - und würdigt den isolierten Kasparow keines Wortes. Der lechzt derweil in Moskau auf Revanche. Ab 12. Januar treffen sich alle Protagonisten beim Topturnier im niederländischen Wijk aan Zee wieder.









Stellung nach:

Schirow - Anand
WM-Finale 2000 (1)

1.e4 e6 2.d4 d5 3.e5 c5 4.c3 Sc6 5.Sf3 Db6 6.a3 a5 7.Ld3 Ld7 8.0-0 cxd4 9.cxd4 Sxd4 10.Sxd4 Dxd4 11.Sc3 Db6 12.Dg4 g6 13.Le3 Lc5 14.Sa4 Lxa4 15.Dxa4+ Kf8 16.Lxc5+ Dxc5 17.Tac1 Db6 18.Dd7 Td8 19.Dc7 Dxc7 20.Txc7 Tb8 21.Tfc1 Se7 22.f4 Sc6 23.Tc5 Kg7 24.Tb5 g5 25.g3 h5 26.Tbxb7 Txb7 27.Txb7 h4 28.Kg2 hxg3 29.hxg3 gxf4 30.gxf4 Th4 31.Kg3 Th1 32.Kg2 Th4 33.Kg3 Th1 34.Kg2

1/2-1/2










Stellung nach:

Anand - Schirow
WM-Finale 2000 (2)

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 a6 4.La4 Sf6 5.0-0 Lc5 6.c3 b5 7.Lc2 d5 8.a4 dxe4 9.axb5 Lg4 10.Lxe4 Sxe4 11.bxc6 0-0 12.d4 exd4 13.cxd4 Lb6 14.Sc3 Te8 15.Le3 Dd6 16.d5 Lxe3 17.fxe3 Tad8 18.Txa6 Sxc3 19.bxc3 Dxd5 20.Dxd5 Txd5 21.Sd4 g6 22.Tf4 Lf5 23.Ta7 Txe3 24.c4 Tc5 25.Txc7 Te4 26.Txe4 Lxe4 27.Te7 Lf5 28.c7 Kf8 29.Sxf5 gxf5 30.Td7 Kg7 31.Td4 Txc7 32.Kf2 Kf6 33.Ke3 Ke6 34.g3 f6 35.Kd3 Ta7 36.Kc3 Ke5 37.Th4 Tb7 38.Tf4 Tb1 39.Tf2 Tc1+ 40.Kb4 Ke6 41.Kb5 Kd6 42.Txf5 Tb1+ 43.Ka4 Tb2 44.Txf6+ Kc5 45.Th6 Kxc4 46.Th4+ Kd5 47.Txh7 Ke5 48.Ka3 Tb8 49.Th5+ Kf6 50.Th4 Kg5 51.Tb4 Th8 52.h4+ Kh5 53.Tb5+ Kh6 54.g4 Te8 55.Tb4 Kg6 56.Tb6+ Kf7 57.Tb7+ Ke6 58.Th7 Tb8 59.g5 Kf5 60.Th6 Ke5 61.h5 Kf5 62.g6 Kf6 63.Th7 Tg8 64.Kb3

1-0










Stellung nach:

Schirow - Anand
WM-Finale 2000 (3)


1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Dc7 5.Sc3 e6 6.Le2 a6 7.0-0 Sf6 8.Le3 Lb4 9.Sa4 Ld6 10.g3 b5 11.Sb6 Tb8 12.Sxc8 Txc8 13.a4 Sxd4 14.Lxd4 e5 15.Le3 Lc5 16.axb5 Lxe3 17.fxe3 axb5 18.Lxb5 0-0 19.Txf6 gxf6 20.Lxd7 Ta8 21.Dg4+ Kh8 22.Tf1 Tg8 23.Dh3 Dc5 24.Lf5 Dxe3+ 25.Kg2 h6 26.Dh5 Kg7 27.Dg4+ Dg5 28.Df3 Tgd8 29.h4 Dd2+ 30.Kh3 Td6 31.Tf2 Dd1 32.Kg4 Ta2 33.Dxd1 Txd1 34.c4 Tb1 35.Td2 Taxb2 36.Td7 Tb7 37.Td6 Tc7 38.Kh5 Tc1 39.g4 T7xc4 40.Td7 Tc7 41.Td8 Th1

0-1









Stellung nach:

Anand - Schirow
WM-Finale 2000 (4)


1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.e5 Sfd7 5.Sce2 c5 6.f4 Sc6 7.c3 Db6 8.Sf3 f6 9.a3 Le7 10.h4 0-0 11.Th3 a5 12.b3 Dc7 13.Seg1 a4 14.b4 fxe5 15.fxe5 Sdxe5 16.dxe5 Sxe5 17.Sxe5 Dxe5+ 18.De2 Lxh4+ 19.Kd1 Df6 20.Sf3 Dxc3 21.Lb2 Db3+ 22.Kc1 e5 23.Txh4 Lf5 24.Dd1 e4 25.Dxb3 axb3 26.Sd2 e3 27.Sf3 Tae8 28.Kd1 c4 29.Le2 Le4 30.Kc1 Te6 31.Lc3 Tg6 32.Th2 Ld3 33.Lxd3 cxd3 34.Kb2 d2 35.Kxb3 Tg3 36.Kb2 g5 37.Kc2 Tc8 38.Kd3 g4 39.Le5 Tc1 40.Th1 Txg2 41.Sh4

1-0


Die Weltmeister

1886 - 1894

Wilhelm Steinitz

Österreich
1894 - 1921

Emanuel Lasker

Deutschland
1921 - 1927

José Raul Capablanca

Kuba
1927 - 1935

Alexander Aljechin

Frankreich
1935 - 1937

Max Euwe

Niederlande
1937 - 1946

Alexander Aljechin

Frankreich
1946 - 1948

Titel nach Aljechins Tod vakant

1948 - 1957

Michail Botwinnik

UdSSR
1957 - 1958

Wassili Smyslow

UdSSR
1958 - 1960

Michail Botwinnik

UdSSR
1960 - 1961

Michail Tal

UdSSR
1961 - 1963

Michail Botwinnik

UdSSR
1963 - 1969

Tigran Petrosjan

UdSSR
1969 - 1972

Boris Spasski

UdSSR
1972 - 1975

Robert Fischer

USA
1975 - 1985

Anatoli Karpow

UdSSR
1985 - 1993

Garri Kasparow

UdSSR/Russland
1993 - 1999

Anatoli Karpow

Russland
1999 - 2000

Alexander Chalifman

Russland

seit 2000

Viswanathan Anand

Indien

1993 trennte sich der damalige Weltmeister Kasparow vom Weltverband FIDE. Er vermarktete danach seinen WM-Titel selbst bis zu seiner Niederlage gegen Wladimir Kramnik (Russland) im Oktober 2000.


vorherige Meko

Meko-Übersicht

nächste Meko