Bis alle seine Bauern wurdenWarum ein Amerikaner den "Kalten (Schach-)Krieg" gewinnen konnte: Teil 5von Harald Fietz, Oktober 2002 |
Im Jubelzug kehrte Robert James Fischer nach seinem WM-Triumph aus Island in die USA zurück. In New York wurde für den elften Weltmeister ein Parade abgehalten. Fischer genoss die Aufmerksamkeit sichtlich, doch er verstand nicht, dass das Konfetti des Augenblicks nur der Ausgangspunkt sein konnte, das Medieninteresse durch weitere Präsenz zu halten. Im Gegensatz zu anderen Sportheroen dieser Zeit, z.B. Mark Spitz, dem siebenfachen Schwimmolympiasieger von München 1972, standen für ihn Show und Vermarktung jenseits seines Denkens. Alle Lobeshymnen würdigten seine außerordentliche Hingabe an das königliche Spiel. Aber es schwang bereits der Unterton mit, dass dieses Bezugsystem nicht alles sein kann. Salo Flohr, der Altmeister kritisch-reflektierender Berichterstattung, meinte unmittelbar nach den Titelgewinn: "So ist also Fischers Traum in Erfüllung gegangen. Dazu half ihm vieles: sein Riesentalent, seine direkt fanatische Liebe zum Schach (vergleichbar mit Aljechin und Tal), seine Leidenschaft und der Ehrgeiz und nicht zuletzt seine enorme Arbeitskraft und sein Fleiß, sein Selbstbewusstsein." Aber ein Weltmeister hat eine Verantwortung für die gesamte Schachszene: "Wenn Fischer als Weltmeister wie es sich gehört ein Vorbild für ein diszipliniertes FIDE-Mitglied sein wird, dann wird die Schachwelt sicher mit ihrem neuen Weltmeister zufrieden sein. Wollen wir unserer Überzeugung Ausdruck verleihen, dass Fischer diesen zweiten Weg, diesen einzig richtigen Gewinnzug finden wird." (Salo Flohr in Schach-Echo Nr. 18, 1972, S.279)
Doch gute Aktionen abseits vom Brett gelangen dem in geschäftlichen und organisatorischen Fragen geradezu kindlich-nativen Schachgenie selten. Ihm lag es fern, seine Stellung in Gesellschaft und Schachsport überhaupt einzuschätzen. Anno 1970 antwortete er im jugoslawischen Fernsehen auf die Frage, was Fischer über Fischer denke, völlig entrückt: "Ich weiß nicht, dass ist eben mein Name." Die Wirklichkeit außerhalb des Schachumfelds zählte nicht; er hatte nunmehr die Erfahrung gemacht, dass alles auf seine Wünsche und Eskapaden reagierte. Auch Geld blieb für ihn letztlich nur "ein Mittel, um seine Würde zu unterstreichen", wie es der Schriftsteller Fernando Arrabal ausdrückte (Carle/Coudari 1982). Für den Emporkömmling zählte der Dollarsegen als einzig sichtbares soziales Erfolgskriterium, und er glaubte, jederzeit einen hohen Preis erzielen zu können. Wo andere Spitzensportler neben ihren Trainern noch Manager für sich arbeiten ließen, blieb Fischer Einzelkämpfer. Zudem bildete die räumliche und geistige Nähe zur fundamentalistischen "Church of God" in Pasadena einen "Schutzschild" gegenüber einer sich verändernden Schachwelt. Fischers kometenhafte Karriere hatte sich mit jenen Schachspielern entwickelt, die noch die Erfahrungen des 2. Weltkriegs kannten und die sich in ihrem jeweiligen System wie in einem Mikrokosmos gut aufgehoben fühlten. Sie verteidigten eine kollektive Organisation des Sports, die der Individualist Fischer rundweg ablehnte. Nun drängte - inspiriert durch die Fischer-Erfolge - insbesondere im Westen eine Schachspielergeneration vor, die - aufgrund der höheren Preisgelder - das Spiel als einen Beruf sahen, auch dann, wenn es nicht ganz zur Weltmeisterschaft langte. In ihrer Mentalität zählte eigenes Fortkommen vor Idealen eines Systems. Seit den 70er Jahren nährten mehr Turniere mehr Spieler, Organisatoren, Händler usw.
Robert James Fischer
Die frühen 70er Jahre waren ein Zeit des Wandels - das Ende einer Periode, in der das Match um den höchsten Titel 1969 und davor schlechter entlohnt wurde, als die Schachreisenden heute auf einem drittklassigen Open-Turnier. In Anlehnung an die biblische Stunde Null nennt die jugoslawische Spitzenspielerin Alisa Maric es die Gezeitenmarke "BF" "Before Fischer" - die Stunde Null des modernen Turnierschachs mit akzeptablen Preisgeldern. Ohnehin drängte es überall auf Veränderung: der Mond war betreten und Weltallphantasien durchzogen Technologie, aber auch Musik und Film, politische Reformen standen nach den Studentenunruhen in West-Europa auf der Tagesordnung, die Führer in Ostblockstaaten verharrten mit kleinen Reformen in ihren Nomenklatursystemen und widersetzten sich dem Aufbegehren von unten, das militärische Wettrüsten und der internationale Terrorismus nahmen stetig zu. Auch im Schach deuteten sich rund um Fischers Erklimmen der Weltspitze, der Generationenwechsel an. Der zwanzigjährige Anatoli Karpow gewann 1971 zusammen mit Leonid Stein das stark besetzte Aljechin-Gedenkturnier in Moskau, der gleichaltrige Jan Timman analysierte mit Passion die Spiele des Amerikaners (siehe Euwe/Timman 2002). Der letztes Jahr verstorbene Anthony Miles tummelte sich als Jugendlicher auf Open-Turnieren im Schachboomland England, wurde 1974 Jugendweltmeister und kurz darauf erster Großmeister auf der Insel. In der Sowjetunion machte die "Lwower Schule" auf sich aufmerksam: Oleg Romanschin gewann 1973 die Jugendeuropameisterschaft und Alexander Beljawski im gleichen Jahr die Jugendweltmeisterschaft. Im fernen Baku übte bereits Garri Kasparow und besuchte Botwinniks Schachschule, wo er eine überraschende Verbesserung im legendären Endspiel Botwinnik gegen Fischer (bei der Olympiade 1962 in Warna) fand.
In Deutschland ruhten die internationalen Hoffnungen erstmals auf Robert Hübner, die mittlere Generation künftiger Profispieler (Lobron, Kindermann, Bischoff usw.) opferte derweil meist auf Jugendturnieren und heutige Spitzenspieler wie Christopher Lutz, ebenso wie der niederländische Meister Loek van Wely Jahrgang 1971, turnte noch in der Wiege. Sie alle erlebten die Höhepunkte ihrer Karriere in der Nach-Fischer-Ära und profitierten - wie Millionen anderer Schachfreunde - vom Ideal des Exzentrikers. In Deutschland stiegen die Mitgliederzahlen von 48.000 im Jahr 1972 auf über 80.000 in den 80er Jahren - Schweizer-System-Turniere erlaubten allen Schachfans, dem Maßstab des Schachmythos nachzueifern. Fischer bedeutete Kampf und Hingabe an die Spiellust; sein Spiel polarisierte. Doch glaubte er, seine Person wäre unabdingbar bei der Inszenierung von Titanenkämpfen als Stellvertreterkriege der politischen Systeme - die Karpow-Kortschnoi-Konstellation sollte ihn aber bald in Vergessenheit geraten lassen. Seinen Ruhm bedeckte der Staub der Geschichte. Und er hatte es selbst zu verantworten.
Seltsamerweise brachten gerade der Weltmeistertitel und seine spektakulären Umstände Fischer in Zugzwang. Er musste sich treu bleiben, mehr Geld für seine Kunst fordern. Und überhaupt, wohin sollte er seine Schachziele künftig orientieren, wenn alle geschlagen waren? Welchen Olymp konnte er anstreben, wo war die nächste Herausforderung? Keine Orientierung zu haben ist das Schlimmste für einen ehrgeizigen Vagabunden, denn Richtungslosigkeit verwirrt. Nie akzeptierte Fischer eine soziale Ordnung, ein Umfeld, das es zu pflegen und zu erhalten galt. Er strebte ausschließlich im "Koordinatensystem Schach" nach dem nächsthöheren Ziel, nach einer weiteren sensationellen Ruhmestat, die ihm die ungeteilte Anerkennung von Freund und Feind eintrug. Angekommen in einem Zustand, da alle willig oder huldvoll seine Bauern wurden und ihn als den Vorboten eines golden Zeitalters erblickten, nun fiel er in ein Vakuum. Besitzstandwahrung lag ihm völlig fremd, so schottete sich der Schachkönig ab und driftete durch eigene Realitäten. Ein unberechenbarer Schachabhängiger ohne den "Schuss" eines täglichen Schachsiegs. Bei wenigen Turnieren - wie San Antonio 1972 - tauchte er kurz auf, weil sein alter Spezi Kenneth Smith mitspielte, aber sonst verschreckte er unnachgiebig alle Veranstalter mit seinen Forderungen.
Prinzipientreue blieb ihm zeitlebens eine Maxime. Und damit war die Konfrontation um die Modalitäten der Weltmeisterschaft 1975 vorgezeichnet. Fischer gegen FIDE oder Alleinanspruch gegen Weltverband, der keine zweite "Erpressung" dulden wollte. Fischer liebte schon immer die langen, zermürbenden Wettkämpfe - das war seine Welt: Seine großen Triumphe, wie Stockholm 1962 oder Mallorca 1970, dauerten wochenlang mit 22 bzw. 23 Runden. Schachkunst maß er nicht nur am Sieg, sondern an möglichst langanhaltender Intensität. Deshalb hasste er das fade Kurzremis. Dieses Lebenselixier wollte er nun auf die Weltmeisterschaft übertragen wissen: Zehn Gewinnpartien sollte der Herausforderer ihm abnehmen müssen. Ein 9:9 bewahrt ihm seinen heiligen Gral. In einem Telegramm an den während der Schacholympiade in Nizza 1974 die Entscheidung treffenden FIDE-Kongress führte er aus: "Ein langes Match ist notwendig, um ein gerechtes Ergebnis mit fast absoluter Gewissheit zu erhalten." Mit einer knappen Zweistimmenmehrheit folgte der Kongress dem Zehn-Gewinne-Vorschlag. Doch wurde eine Begrenzung auf 36 Partien festgelegt; so dass der dann Führende Sieger ist, falls keine zehn Siege zuvor erreicht werden. Im Falle eines Unentschieden bleibt der Titelinhaber Weltmeister. Zwei Tage danach erklärte Fischer am 27. Juni 1974 seinen Verzicht, denn "seine Forderungen sind nicht verhandelbar." Spitzfindig trat der vom "Weltmeistertitel der FIDE" zurück. Obwohl die Delegierten nochmals in Diskussion gingen und immerhin 17 Stimmen auch das Partienlimit aufheben wollten (35 Stimmen dagegen und 12 Enthaltungen), siegte letztlich die Auffassung, dass der Weltverband nicht dauerhaft nachgeben dürfe. Das Band zwischen Fischer und der organisierten Schachwelt war zerschnitten. Das kommende Kandidatenturnier zwischen Viktor Kortschnoi und Anatoli Karpow galt als Entscheidung über die Weltmeisterschaft - und hier konnte in der Breschnejew-Ära ein linientreuer Vorzeigedenksportler auf den Thron gehievt werden. Zwar öffnete der FIDE-Präsident erneut eine Hintertür, in dem er Fischer eine Einwilligung bis 1. April 1975 anbot, aber Fischer schwieg in seinem kalifornischen Schmollwinkel. Auch Belgrader Telefondiplomatie von Gligoric fruchtete diesmal nichts; am 3. April 1975 legte Max Euwe Karpow den Lorbeerkranz um. Anders als Fischer sah er die Notwendigkeit, ständig Legimitation für seinen Titel zu erlangen - gleich im Juni ging es nach Ljubljana/Portoroz, im Juli zur Spartakiade nach Moskau und im August zum internationalen Turnier von Mailand. So startete er durch und wurde der aktivste Weltmeister mit den meisten Turniersiegen überhaupt.
Die Jahre vergingen und jeder fühlte sich zufrieden mit der Erinnerung an den Mythos Fischer. Alle respektierten, dass sein Spiel dem Schach das sportliche Element schenkte, aber da er sich nie gegen die neue Generation gemessen hat, schob man ihn friedlich in die Historie ab. Bisweilen gelangten Informationen über seine Lebensumstände in die Presse, aber nur Sensationslüsterne sehnten sich danach. Einige, leider oft mit banalen Nebensächlichkeiten verfasste Insiderberichte von Personen, die er zeitweilig an sich heranließ (Kraushaar 1977 oder Dautov 1995), offenbaren, dass er seine schwarz-weiße Interpretation der Schachwelt auf sonstige Lebensumstände übertrug. Journalisten gehörten hier zu den Sündenböcken, denn sie suchten bloß die sensationsheischende Story, anti-semitisches und neonazistisches Gedankengut vermengte er vorzugsweise in politische Verschwörungstheorien. Seine These von abgekarteten Weltmeisterschaftswettkämpfen fügte sich gut in sein reines Gewissen als Schachpuritaner ein. Neue Ziele und Aufgaben schien er nicht zu haben. Im Großstadtdschungel von Los Angeles Herumirren und Herumlungern an Orten rund um Pasadena bestimmte - vorwiegend zu nächtlichen Stunden - seinen Tagesrhythmus; die Polizei von Pasadena inhaftierte ihn im Mai 1981 gar als Verdächtigen eines Bankraubs. Auch Deutschland besuchte einigen Male. In West-Berlin, wo er 1960 eine Matchpartie gegen Klaus Darga gespielt hat, sichtete man ihn Ende der 70er Jahre beim Interesse an neuen Schachcomputern und Anfang der 90er Jahre schlüpfte er bei der späteren Ehefrau von Rustem Dautov in der Nähe von Darmstadt unter und auch Lothar Schmid in Bamberg genoss als Gastgeber ebenso sein Vertrauen wie die Pension des Vaters von Großmeister Michael Bezold in der Fränkischen Schweiz. Nichts deutete auf eine Änderung dieses Zustand hin, niemand glaubte an eine Rückkehr - bis in den Kriegswirren des Balkans 1992 die Uhren anders zu ticken begannen ...
Bobby Fischer (4) | zur Figo | Bobby Fischer (6) |