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Mannschaftspokal-Wochenende Berlin

Aspirant erstmals glücklich wie im Himmel: SC Baden-Oos gewinnt im Pokal gegen SG Porz seinen ersten nationalen Mannschaftstitel bei den Herren

von Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, Mai 2003

mehr Schachtexte von Harald Fietz

 

   "Noch wachsen die Bäume für die Baden-Ooser Schachspieler nicht in den Himmel", resümierte Hartmut Metz in seinem Bericht für Schachmagazin 64 Nr.6 über das Pokalfinale 2002, in dem die Kurstädter dem Lübecker SV knapp unterlagen. Ein Jahr später strahlten die Gesichter der um den deutschen Spitzenspieler Rustem Dautov verstärkten Truppe, denn mit einem 2,5:1,5 bezwang man im Finale eine andere deutsche Schachhochburg, die SG Porz. Den Status eines regionalen Schachzentrums mit Ambitionen auf nationale Titel zu erreichen ist erklärtes Ziel des von Grenke-Leasing gesponserten Vereins: Nun klappte es - nach der Meisterschaft für das Frauenbundesligateam am Wochenende zuvor - auch erstmals bei den Herren. Was im vergangenen Jahr daheim im beschaulichen, traditionsreichen Kurhaus nahe des Spielcasinos nicht gelang, glückte mit etlichen Schreckmomenten in der Dreimillionenmetropole Berlin.

   Anders als beim Fußball, wo der Slogan "Wir fahren nach Berlin" bei Spielern und Fans wie selbstverständlich deutschlandweit positive Emotionen hervorruft, setzt die Bundeshauptstadt beim Schach selten durch überregionale Ereignisse Akzente. Verflossen sind die Erinnerungen an das 1998 letztmals ausgetragene "Berliner-Sommer"-Open, welches nur eine Kreuzung vom Austragungsort, dem BCA Hotel Wilhelmsberg an der Landsberger Allee / Ecke Weißenseer Weg, stattfand. Hausinterne Events sind Markenzeichen des BCA, was für Business Conference Accomodation steht. Anno 2002 wurde hier erstmals der auf 130 Teilnehmer begrenzte "Lichtenberger Sommer" beherbergt (neue Auflage vom 16. bis 24. August 2003). Heuer boten zwei zusammengelegte Konferenzsäle und der geräumige Analyseraum sowie Hausbar klimatisierten Komfort und kurze Wege für Spieler, Organisatoren und Zuschauer. Hier ein paar Fotos vom Berliner Pokal-Wochenende.

   Die Endrunde wollten alle Finalisten gerne ausgetragen, aber Turnierleiter Klaus Deventer gab im E-Mail-Schnellverfahren erwartungsgemäß dem SC Friesen Lichtenberg als Überraschungsteilnehmer der Endrunde den Zuschlag. Der Außenseiter aus der Oberliga Nord-Ost bezwang im Viertelfinale Bundesligist Godesberger SK mit 3:1 und überlebte zwei Runden zuvor durch glückliche Umstände, denn Aufbau Elbe Magdeburg setzte beim 2,5:1,5-Sieg drei nicht spielberechtigte russische Spieler ein und erhielt eine 0:4-Wertung. Auch der Sieg gegen den Zweitligisten SC Leipzig Gohlis bedeutete dazwischen einen Favoritensturz. Fünf Wochen hatte das Team um den Vereinsvorsitzenden Wolfgang Hartmann Zeit, die Rahmenbedingungen zu schaffen. Und hier passte, wie sich alle einig waren, fast alles. Einzig die drei Berliner Tageszeitungen geizen mit größeren Berichten. Dafür brachte der Sender Freies Berlin in seiner 35-minütigen Sendung "Sportpalast" einen Vierminutenbericht inklusive Porträt der Jugendarbeit des Gastgebervereins. Dies ist um so beachtlicher, als ausgerechnet an diesem Wochenende mit dem Eishockey-Play-off Eisbären Berlin gegen Hamburg Freezers, dem Basketballspitzenspiel Alba Berlin gegen Telekom Basket Bonn und dem Fußballbundesliga-Ostderby Hertha BSC gegen Energie Cottbus reichlich Spitzensport stattfand.

   Im Laufe der drei Tage zeigte sich an vielen Kleinigkeiten, was neben motivierten Spielern zum Flair und dem Stellenwert einer Veranstaltung beiträgt: Rege Helfer, stets aktualisierte Bild- und Wortpräsentation auf der Webseite, Internet-Liveübertragung durch Axel Fritz' "Schach.com" inklusive Nachschub mit O-Tönen, gedruckte Plakate und Siegerurkunden, extra angefertigte T-Shirts, ungezwungene Kontakte zwischen Spielern und Zuschauern im Analysebereich usw. Und Interessierte kamen besonders am Samstag mit schätzungsweise 200 Besuchern reichlich (im Internet waren es 4.000 Zuschauer pro Tag). Die meistgestellte Frage war, welche Super-Großmeister die Spitzenteams außer dem wegen des Monaco-Amber-Turniers verhinderten Viswanathan Anand aufbieten. Und der Blick auf die Wertungszahlendurchschnitte ließ nicht nur die Augen der Organisatoren funkeln: Porz 2659, Baden-Oos 2649, HSK 2557 und Friesen Lichtenberg 2345 (bzw. 2313 wegen Spielerwechsel). Angesichts der krassen Abstände konnte Hartmann in seinen Eröffnungsworten nur dem Wunsch Ausdruck geben, dass sich seine Mannen tüchtig halten, schließlich war der Namensgeber des Vereins Karl-Friedrich Friesen ein Pädagoge, der zusammen mit Friedrich Ludwig Jahn 1811 im Berliner Volkspark Hasenheide die Turnbewegung gründete.

 

Chancenlos - aber den Ex-Weltmeister im Schwitzkasten

   Doch dieser Appell sagte sich leicht. Das Los vermied eine Elefantenrunde im Halbfinale und der Oberligist, bei dem IM Jakov Meister mit Elo 2512 den Wertungsschnitt hob, erhielt die schwerste Herausforderung. Bereits nach zwei Stunden zeichnete sich ab, dass höchstens eine ehrenvolle Niederlage möglich war. Der frühere Fernschach-Weltmeister Friedrich Baumbach wurde von "Mister Bundesliga" Rafael Waganjan mit scheinbar einfachen Zügen in eine unangenehme Lage manövriert, denn die schwarzen Leichtfiguren standen am Damenflügel deplatziert. Ein Blackout sorgte an Brett drei für die erste Entscheidung des Tages.

 










R. Waganjan - F. Baumbach
Katalanisch [E06]

 

1.Sf3 d5 2.d4 Sf6 3.c4 e6 4.g3 Le7 5.Lg2 0-0 6.0-0 b6 7.cxd5 exd5 8.Sc3 c6 9.Se5 Lb7 10.Da4 a5 11.Td1 b5 12.Dc2 Sa6 Die Friesen-Berliner haderten hinterher, dass dieser Springer nicht die richtige Route über c7 nach e6 fand. 13.Lg5 Sd7 14.Lxe7 Dxe7 15.Sxd7 Dxd7 16.e4! Ein Zug, der von großem Schachverstand zeugt, wie die versammelte Analyseschar kopfnickend feststellte. Aber fragen sie mal einen Computer nach einem solchen Zug! 16...dxe4 17.Sxe4 Df5 18.Dd2 Tfd8 [ Auf 18...Sb4 zog Waganjan in der Analyse mit Genuss 19.Sc5 Lc8 20.Te1 und Weiß kontrolliert die Stellung.] 19.Dxa5 "Ein Sackzug", ärgerte sich Baumbach - Kommentar überflüssig! 19...Sc5 20.dxc5 1-0

 

   Kurze Zeit später musste auch Hermann Brameyer gegen Alexander Graf die Waffen strecken. Sein König verlor im 15. Zug das Rochaderecht und, obwohl dem gebürtigen Usbeken gleiches widerfuhr, sickerten dessen Figuren schneller ein. Inzwischen hatte auch Christopher Lutz gegen FM Wolfgang Thormann einen Mehrbauern im Endspiel eingeholt. Die Frage war, ob er den Sieg herauspressen kann. Einzig am Spitzenbrett stand ausgerechnet Ex-Weltmeister Alexander Chalifman zur Freude der lokalen Schachfans unter Dampf. Sie nennen ihn liebevoll "Lokomotive", den kleinen, kauernd über das Brett gebeugte Mann im dunkeln Anzug. Meister lebt seit Sommer 2002 als Spätaussiedler in Berlin. Damals führte einer seiner ersten Wege vom Aufnahmelager Marienfelde zum Sommer-Open des SC Kreuzberg, welches er gewann. Trotzdem landete der 47-Jährige durch Vermittlung des Kreuzberger Vorsitzenden Norbert Sprotte nicht beim West-Berliner Bundesligisten, sondern schloss sich dem Ost-Berliner Friesen-Club an. In Deutschland mag sein Name - außer in Fachkreisen - ein bislang unbeschriebenes Blatt sein, aber in der früheren Sowjetunion und Russland gehörte er zu den Kandidaten, die in den vergangenen 20 Jahren die starken Halbfinal- und Finalmeisterschaften mitspielten. Mit Cheljabinsk trat er in den 90er Jahren mehrfach im Mannschaftseuropacup an. Auch als Schachinstruktor machte er sich einen Namen und einige seiner Schüler der jüngeren Zeit vollziehen große Fortschritte (darunter z.B. Jakow Geller, der in Cappelle la Grande 2003 mit vorne dabei war). Sicher wird er ihnen auch psychologische Kniffe beigebracht haben: Chalifman sprang er auf dem Brett unerschrocken an. Nach 19.g4 mussten die schwarzen Springer in die Defensive und im 34. Zug half nur ein entlastendes Bauernopfer. "Jakov ist Wahnsinn", frohlockten die Einheimischen angesichts des Freibauern in der a-Linie bereits. Doch im 47. Zug stellte der Weltranglistenzwölfte eine tückische Falle. Mit forciertem Turmtausch sanken die Gewinnchancen rapide und nach knapp sechs Stunden schloss man Frieden, um sich ohne Brett zur wortreichen Analyse unter hohem Nikotinkonsum in den Vorraum zu begeben. Kurz danach gewann Lutz sein Turmendspiel.

 










J. Meister - A. Chalifman
Caro-Kann [B13]

 

1.e4 c6 2.d4 d5 3.exd5 cxd5 4.Ld3 Sc6 5.c3 Sf6 6.Lf4 Lg4 7.Db3 Dd7 8.Sd2 e6 9.Sgf3 Lxf3 10.Sxf3 Ld6 11.Lxd6 Dxd6 12.0-0 0-0 13.Tae1 Dc7 [ Garry Kasparow wählte in jungen Jahren 13...Tab8 14.Se5 b5 15.a3 a5 16.Te3 Tfc8 17.Dd1 b4 18.axb4 axb4 19.Tfe1 bxc3 20.bxc3 , doch erreichte gegen Lanka (Leningrad 1977) wenig.] 14.Dd1 Tab8 15.Te3 g6 16.Sd2 Se7 17.De2 Sf5 18.Th3 a6 19.g4 Sg7 20.Df3 De7 21.Df4 h5 22.f3 Sh7 23.Tg3 Tfe8 24.Te1 h4 25.Tg2 Dg5 26.De3 Dxe3+ 27.Txe3 g5 28.Tf2 f5 29.Tfe2 Sf6 30.h3 Kf7 31.Tg2 b5 32.Sb3 b4 33.Lxa6 f4 34.Te1 bxc3 35.bxc3 Sd7 36.c4 dxc4 37.Lxc4 Tb4 38.Tc2 Ke7 39.Ld3 Ta8 40.Le4 Ta7 41.Lc6 Tc7 42.Tec1 Kf6 43.d5 exd5 44.Lxd5 Txc2 45.Txc2 Se5 46.Sc5 Td4 47.Td2 Clever gedacht, aber weltmeisterlich gekontert. Besser war [ 47.Se4+ Kg6 ( Schlecht ist 47...Ke7 48.Tc7+ Kf8 49.Sxg5! Td1+ ( 49...Txd5? 50.Sh7+! Ke8 51.Sf6+ ) 50.Kf2 Td2+ 51.Ke1 Td4 52.Sh7+ Ke8 53.Sf6+ Kf8 54.Ke2 Td3 55.a4 Te3+ 56.Kd1 und den depatzierten Springern geht bald die Luft aus.) 48.Tc5 Sxf3+ 49.Kg2 Se5 50.Lb3 f3+ 51.Kf1 Txe4 wegen des exponierten Königs auf g6 und 52.Lc2 Kf6 53.Lxe4 Se6 54.Tc3 mit guten Gewinnaussichten.] Nun führte 47...Se6 prompt zur Ernüchterung: "Das habe ich nicht gesehen", bekannte Meister hinterher. Nur mit Leichtfiguren ist der Vormarsch des Freibauern in der a-Linie allein nicht zu bewerkstelligen, da der weiße König an seinem Flügel kleben bleibt. 48.Txd4 Sxd4 49.Kf2 Ke7 50.La8 Kd8 51.a4 Kc7 52.a5 Kb8 53.Ld5 Ka7 54.a6 Kb6 55.Lb7 Ka7 56.Kg2 Kb8 57.Sa4 Ka7 58.Sc3 Sd3 59.Se4 Se1+ 60.Kf2 Sexf3 61.Sf6 Se5 62.Sh7 Sd3+ 63.Kf1 Se6 64.Ld5 Sdc5 65.Lc4 Kb6 66.Sf6 Sd4 67.Kf2 Ka7 68.Kf1 Kb6 69.Kf2 1/2-1/2

 

 

SG Porz

-

Friesen Lichtenberg

3,5:0,5
1.

Chalifman

-

Meister

remis

2.

Lutz

-

Thormann

1:0

3.

Waganjan

-

Baumbach

1:0

4.

Graf

-

Brameyer

1:0

  

Entschärft und doch explodiert

   Als die Kölner den Sieg sicherstellten, trauerte die Hamburger schon zwei Stunden den verpassten Chancen nach. Im zweiten Halbfinale gab es zwar nicht die krasse Underdog-Situation, aber der Hamburger SK, der im Viertelfinale Cupverteidiger Lübecker SV mit 2,5:1,5 entthronte, wählte eine ähnliche Mannschaftsstrategie: Möglichst viel dichthalten und einen "lucky punch" setzen. Auch hier beendeten die hinteren Brett den Arbeitstag früh. Robert Hübner verteidigte sich gegen Karsten Müller mit einem soliden Franzosen, aber Chancen die Remisbreite zu verlassen gab es objektiv keine. Der Däne Sune Berg Hansen wählte eine andere Vorgehensweise. Er überraschte die deutsche Nr. fünf mit einem interessanten Figurenopfer, dass bestimmt keine Computereingebung ist. Die Wirkung blieb nicht aus, denn nach zweieinhalb Stunden wanderten auch hier die Klötze in die Kiste zurück.

 










R. Dautov - S. B. Hansen
Tschigorin-Verteidigung [D07]

 

1.d4 d5 2.c4 Sc6 3.cxd5 Dxd5 4.e3 e5 5.Sc3 Lb4 6.Ld2 Lxc3 7.bxc3 Sf6 8.f3 0-0 9.Ld3 [ Martin Breutigam bietet auf seiner ChessBase-CD 9.e4 Dd6 10.d5 Se7 11.c4 als Hauptsystem, worauf er als guten Plan für Schwarz 11...Sd7 12.Se2 f5! empfiehlt. Diese Variante behagte Dautov wohl nicht.] 9...exd4 10.cxd4 Sxd4! Ein theoretisch bedeutsames Figurenopfer. 11.exd4 Dxd4 12.Le2 Sd5 Der Tschigorin-Spezialist urteilt über die aktuelle Partie: "Schwarz hat angesichts des weißen Königs in der Mitte äußerst angenehmes Spiel für die Figur: Die Türme kommen mühelos auf die zentralen Linien, auch der Sd5 steht prächtig (u.a. wegen des Lochs auf e3). Ergo: Wahrscheinlich sollte Weiß doch 9.e4 spielen." 13.Tc1 1/2-1/2

 

   Zwei Großmeister der 2600er-Kategorie entschärft und den Druck wiederum auf die vorderen Brettern verlagert. Dort ging es feuriger als im Parallelkampf zu, aber dann explodierten die Stellungen auf der falschen Seite. "Dauerläufer" Peter Swidler, der in den vier Stunden einer Turnierpartie wohl die Stecke eines Halbmarathons abschreitet, hatte gegen Lubomir Ftacnik besonderen Grund zur Sorge, während sein früherer Landsmann Michal Krasenkow allmählich seinen Eröffnungsvorteil verspielte. Doch Caissa schenkte diesmal alle Fortune an die Badener. Der St. Petersburger überlebte eine glatt verlorene Stellung, weil der HSKler aus Bratislava einen einfachen Figurengewinn ausließ. Orientierten sich seine Gedanken zu sehr auf die schwachen, schwarzen Felder am Königsflügel, wo er schließlich opferte, oder war es die Magie der seltsamen Läuferkonstellation im Zentrum? Einen solchen Blackout plausibel zu erklären gelingt nicht.

 










L. Ftacnik - P. Swidler
Grünfeld-Indisch [D87]

 

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 Lg7 7.Lc4 c5 8.Se2 Sc6 9.Le3 0-0 10.0-0 Ld7 11.Tb1 a6 12.dxc5 Sa5 13.Ld3 Dc7 14.f4 [ 14.Dc2 Tfc8 15.Sc1 e6 16.Sb3 Tab8 17.Tfd1 wurde in Chalifman - Averbukh, Panormo 2001 ohne Begeisterung als Remis vereinbart!] 14...Le6 15.Da4 Tfd8 16.Ld4 Ld7 17.Db4 Tac8 18.e5 Lc6 19.Sg3 e6 20.Db2 Lf8 21.Df2 Lxc5 22.Lxg6 [ Gewann 22.Lxc5 Txd3 23.Lb6 Dd7 24.Lxa5 nicht einfach Haus und Hof?] 22...Lxd4 23.Lxh7+ Kxh7 24.cxd4 Tg8 25.f5 Ld5 26.Tbe1 exf5 27.Dxf5+ Tg6 28.Te2 Sc6 Mit aufziehender Zeitnot fügte sich der Slowake ins Remis - noch hielt auch die Stellung an Brett zwei. 29.Dh3+ Th6 30.Df5+ Tg6 31.Dh3+ Th6 1/2-1/2

 

   Doch damit nicht genug. Als der dritte Remisschluss besiegelt war, rechneten alle mit einem Blitz-Tie-Break. Spätestens mit Tausch der Damen hatte Jan Gustafsson, der zur Zeit als Teil des mehr oder weniger intensiv betriebenen Jurastudiums ein Praktikum bei einem Notar absolviert, den Beweis geliefert, dass die Stellung die Remisbreite erreicht hat. Nachdem das weiße Angriffstreiben die gesamte Partie auf seiner Stellung lastete, dämmerte mit dem Umschwung wohl nach und nach die Aufmerksamkeit des 24-Jährigen weg. Eine Standardposition in einem Turmendspiel, die er sonst mit 99-prozentiger Sicherheit hält, ruinierten zwei aufeinanderfolgenden Gedankentrübungen.

 










M. Krasenkow - J. Gustafsson
Slawisch [D10]

 

1.d4 d5 2.c4 c6 3.Sc3 Sf6 4.e3 a6 5.Dc2 e6 6.c5 e5 7.dxe5 Sfd7 8.f4 Sxc5 9.Sf3 g6 10.Sd4 f6 Sehr "offenherzig" gespielt! 11.exf6 Dxf6 12.b4 Se6 13.Sxd5 Dh4+ 14.g3 Dd8 15.Sxe6 Lxe6 16.Sc3 Lxb4 17.Lb2 Sd7 18.0-0-0 Einen Bauernschutzschild braucht dieser weiße König nicht. 18...De7 19.e4 La3 20.f5 Lf7 21.Sa4 0-0 22.Lc4 Lxb2+ 23.Sxb2 Se5 24.Lb3 b5 25.Thf1 Lxb3 26.Dxb3+ Kg7 27.Sd3 Sxd3+ 28.Txd3 Tae8 29.Dc3+ De5 30.Tf4 Dxc3+ 31.Txc3 Tf6 32.fxg6 Txf4 33.gxf4 Txe4 34.gxh7 Txf4 35.Txc6 Kxh7 [ Was passiert auf 35...a5 ? Der schwarze König fühlt sich nach Tc7+ oder Th6 im h8-Eck sehr wohl.] 36.Txa6 Tf2 37.h4 Th2 38.Ta5 Kg6? [ Richtig war 38...b4 39.Kb1 Weiß muss ja seinen a-Bauern halten. ( Oder 39.h5 Kh6 40.Kb1 Txh5 mit Remis.) 39...Txh4 40.Kc2 Kg6 41.Kb3 Kf6 42.Tb5 Ke6 43.Txb4 Txb4+ 44.Kxb4 Kd6 ] 39.Kb1 b4? [ Nochmals geht die Chance vorüber. Nach 39...Txh4 40.Txb5 fehlt dem Randbauern das "Gewinnpotenzial", wie es Karsten Müller ausdrückte, dessen mit IM Frank Lamprecht zusammen verfasstes Endspielbuch "Fundamental Chess Endings" bald im GAMBIT-Verlag in deutscher Übersetzung erscheinen wird.] 40.Tg5+ Kf6 41.Tg4 Ke5 42.Txb4 Kd5 43.a4 Kc5 44.Tg4 Kd5 45.a5 Kc6 46.a6 Kb6 47.Ta4 Ka7 48.Kc1 Tg2 49.Kd1 Th2 50.Ke1 Tg2 51.Kf1 Th2 52.Kg1 Tb2 53.h5 Tb5 54.Th4 Kxa6 55.h6 1-0

 

   Keiner der Beteiligten fand eine schlüssige Erklärung für die Tragikomödien. "Was soll ich sagen. Es war einfach nicht unser Tag. Glückwunsch an die sympathischen Baden-Ooser zum Pokalsieg", meinte Müller im Rückblick. Norddeutsche bleiben selbst in der Niederlage eher nüchtern und haderten nicht viel.

 

SC Baden-Oos

-

Hamburger SK

2,5:1,5
1.

Swidler

-

Ftacnik

remis

2.

Krasenkow

-

Gustafsson

1:0

3.

Dautov

-

Hansen

remis

4.

Hübner

-

Müller

remis

 

   Der Finaltag verlief undramatischer als manche Beobachter erwarteten. Nach gut vier Stunden waren alle Kämpfe und um 14 Uhr die Ehrungen vorbei. Als kurz vor 9 Uhr die Mannschaftsaufstellungen abgegeben und die Farben ausgelost wurden, offenbarte sich, dass über Nacht etliche Gedanken in Taktikspielereien investiert worden waren. Anders als in der Bundesliga, wo die Brettfolge nach Rangliste geschieht, muss im Mannschaftspokal nur ein Kader von 14 Spielern gemeldet werden. Die Aufstellung kann für jeden Kampf neu festgelegt werden. Davon machten alle Teams Gebrauch.

 

Routine reicht für Bronze

   Im kleinen Finale war der Aufstellungspoker weniger bedeutsam, denn schon die erste Zwischenbilanz nach einer Stunde zeigte, dass die Amateure einen schweren Stand hatten. In allen Partien besaßen die Titelträger bereits in dieser frühen Phase Zeitvorteile von 15 bis 40 Minuten. Außer am vierten Brett, wo es nach drei Stunden zum Remisschluss kam, konnte aber keine Balance mehr hergestellt werden. Sicher war der Sieg für Gustafsson keine Widergutmachung für das Malheur am Vortag, aber er demonstriert, wo die Unterschiede lagen. Nachdem die Figurenaufmärsche beendet waren, reichte schon die erste Ungenauigkeit im 20. Zug, um die gewinnbringende Initiative zu erringen.

 










J. Gustafsson - H. Badestein
Königsindisch [E92]

 

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.Sf3 0-0 6.Le2 e5 7.Le3 Sg4 8.Lg5 f6 9.Lh4 g5 10.Lg3 Sh6 11.d5 a5 12.Sd2 Sa6 13.f3 f5 14.h3 De8 15.Lf2 f4 16.a3 Ld7 17.b3 Dg6 18.Tb1 Sf7 19.b4 axb4 20.axb4 h5 21.c5 Lf6 22.c6 bxc6 23.dxc6 Le6 24.Lc4 Lxc4 25.Sxc4 Tfb8 26.Sd5 Ld8 27.b5 Sc5 28.b6 Se6 29.b7 Ta2 30.Ta1 Txf2 31.Ta8 g4 32.Txb8 gxh3 33.Se7+ 1-0

 

 

Hamburger SK

-

Friesen Lichtenberg

3,5:0,5
1.

Ftacnik

-

Thormann

1:0

2.

Hansen

-

Meister

1:0

3.

Gustafsson

-

Badestein

1:0

4.

Müller

-

Baumbach

remis

 

 

Knapp dem Blitz entgangen und im Himmel gelandet

   Im Finale kam es nicht zum Treffen der "St. Petersburger Wanderfreunde", denn Chalifman, der wie Swidler während der Partie ein unermüdlicher Spaziergänger ist, wurde von Brett eins an Brett vier versetzt. Offenbar trauten die Köln-Porzer Lutz, der in Bundesliga und Nationalmannschaft schon oft das Spitzenbrett unter Kontrolle hielt, einiges zu. Doch warum den wertungsstärksten Spieler an das "bedeutungslose" letzte Brett verbannen? Nach einer Annahme aus dem Hamburger Rechnerlager ist hier der Ausgang in 90% der Fälle wegen der Berliner Wertung nicht relevant. Den Prozentwert der sogenannte "Thies-These" bezweifelt Karsten Müller, der Doktor der Mathematik, zwar, doch auch er glaubt, dass der im Einzelpokal engagierte Thies Heinemann, der sein Diplom in Stochastik ablegte, in der Tendenz die richtige Wahrscheinlichkeitsdimension vermutet. Selbst bei 75% wäre die Statistik revolutionär, aber eine Beweisführung steht noch aus.

   Solche Zahlen scherten die beiden hinteren Brett wenig. Nach zwei bzw. zweieinhalb Stunden wurden 20- bzw. 21-zügige Unentschieden unterschrieben. Und fünf vor zwölf spitzte sich die Lage an Brett zwei zu. Für 18 Züge blieben Graf noch 25 Minuten bis zum 40. Zug, während der Pole in Baden-Ooser Reihen eine satte Viertelstunde mehr übrig hatte. Auf das Feld f2 wirkten die schwarzen Figuren ein. Lange sieben Minuten fahndete der in Leipzig ansässige Porz-Spieler, um sich zu versichern, dass ihm nur ein einziger Damenzug hilft. Krasenkow kehrte ans Brett zurück und schob nach Sekunden den Bauern auf e3 - Damentausch war unvermeidlich, ebenso wie 25.Td5 a tempo. Seine Antwort notierte der Schwarzspieler schon nach einer Minute, aber die Überprüfung dauerte: zwei, drei, vier Minuten und der Pulk der Zuschauer schwoll an. Es sah gefährlich aus, denn der König musste in die Ecke und der prächtige Läufer auf d4 erhielt umgehend mit e5 Befestigung. Doch der Schein trog. Als Graf g3 spielte, um den Eindringling auf f2 abzuholen, war die Luft raus.

 










A. Graf - M. Krasenkow
Grünfeld-Indisch [D85]

 

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 Lg7 7.Le3 c5 8.Dd2 cxd4 9.cxd4 Sc6 10.Lb5 Ld7 11.Tb1 0-0 12.Sf3 Der Anfang 2000 verstorbene russische Spitzenspieler Alexei Vyzmanavin versuchte in einer ereignislosen Partie gegen Alexander Huzman [ 12.Se2 a6 13.Ld3 b5 14.h4 Da5 15.Dxa5 Sxa5 16.Kd2 Tfc8 17.Thc1 e6 mit Remis (Vilnius 1995).] 12...b6 13.0-0 Sa5 14.De2 f5 15.Ld2 fxe4 16.Sg5 Lxb5 17.Txb5 Dd7 [ Schwarz kann auch anders Gegenspiel bekommen 17...a6 18.Tbb1 ( oder 18.Tb4 Dd5 19.Dxe4 Dxe4 20.Sxe4 b5 ) 18...Dxd4 19.Lxa5 bxa5 20.Se6 Dd3 und der schwache Punkt e6 hat - wie in der Partie - keine Bedeutung.] 18.Lxa5 bxa5 19.Dc4+ Kh8 20.Txa5 Dxd4! Diesen Gegenschlag unterschätzte Graf. 21.Sf7+ Txf7 22.Dxf7 Tf8 23.Dd5 Der einzige Zug, denn [ 23.De6 Txf2! 24.Td5 ( 24.Ta4 Txf1+ 25.Kxf1 Dd3+ 26.Kf2 Ld4+ ) 24...Tf4+ 25.Txd4 Lxd4+ 26.Tf2 Txf2 lässt die Dame hilflos gegenüber der fürchterlichen Abzugsdrohung.] 23...e3 24.Dxd4 Lxd4 25.Td5 exf2+ 26.Kh1 e5 27.Td7 Te8 28.g3 Lb6 1/2-1/2

 

   Um 12.20 Uhr kämpfte nur noch das Spitzenbrett. Und hier verfinsterte sich der Zustand für Schwarz. Nach 20 Zügen und jeweils exakt einer Stundenumdrehung auf beiden Zifferblättern herrschte noch Sorglosigkeit. Dann aber setzte der Deutsche mit 23...d5 auf Figurenkontakt. Nicht nur die Variantenberechnung wurde komplexer, sondern auch seine Uhr tickte länger. Bei Zug 30 näherte sich der Zeiger bis auf drei Minuten dem Strich der zwölf und im 37. Zug brachte der vermeintlich aktivste Damenzug von c2 nach c1 die Wende (auf b1 oder a4 wäre wenig losgewesen). Wie am Vortag bei Gustafsson folgte dem ersten Fehlgriff unmittelbar der zweite Fauxpas - eine Leichtfigur ward abgängig und Thilo Gubler, dem Mannschaftsführer des Teams aus dem Baden-Badener Stadtteil Oos, stand das Strahlen im Gesicht.

 










P. Swidler - C. Lutz
Sizilianisch [B85]

 

1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sc6 5.Sc3 Dc7 6.Le2 a6 7.0-0 Sf6 8.Le3 Le7 9.f4 d6 10.a4 0-0 11.Kh1 Te8 12.Lf3 Tb8 13.g4 Lf8 14.g5 Sd7 15.Lg2 b6 16.Dh5 g6 17.Dh4 Lb7 18.Df2 [ Diese Eröffnungsvariante kam wiederholt in der Turnierpraxis vor, nur setzte der Weißspieler stets mit 18.Tf3 fort, doch nach 18...Lg7 19.Th3 hält 19...Sf8 alles. Swidler setzt auf einen neuen Plan.] 18...Sb4 19.Tad1 Tbc8 20.Td2 Sc5 21.Sde2 Lc6 22.b3 Db7 23.Sg3 d5 24.exd5 Sxd5 25.Sxd5 Lxd5 26.Tfd1 Lg7 27.Lxd5 exd5 28.Txd5 Tcd8 29.c4 Sxb3 30.Df3 [ Nach 30.Lxb6 Tc8 31.c5 Lf8 wird Weiß den gewonnenen bauern auf c5 bald wieder verlieren. Swidlers Plan ist chancenreicher.] 30...Sa5 31.Se4! Unterbricht die lange Diagonale und droht, auf d8 zu nehmen. 31...Txd5 32.cxd5 Dd7 33.Lxb6 Dxa4 34.Te1 Sc4 35.Lf2 Td8 36.Kg2 Dc2 37.Te2 Dc1 38.Db3 h6? Übersieht den gegnerischen Trick. 39.Te1 Dxf4 40.Dxc4 hxg5 41.Lg3 Df5 42.Sd6 1-0

 

   Durch den Sieg entging der Großmeisterriege - und leider den Zuschauern - ein Blitzentscheid mit vier Runden nach Scheveninger System, welcher erstmals in einem Finale angesetzt worden wäre.

 

SC Baden-Oos

-

SG Porz

2,5:1,5
1.

Swidler

-

Lutz

1:0

2.

Krasenkow

-

Graf

remis

3.

Hübner

-

Waganjan

remis

4.

Dautov

-

Chalifman

remis

 

   Bei der Würdigung des Siegers muss angemerkt werden, dass beim "Pokern" an den beiden Spitzenbrettern eine übergroße Portion Schachglück zur Seite stand. Leicht hätte es gegen die Hamburger zum Aus kommen können und ein Finalblitz wäre bei diesen Kräfteverhältnissen völlig offen gewesen. Aber die Resultate geben immer dem Gewinner Recht und die Unterlegenen haben eben ihren unfreiwilligen "Beitrag" dazugetan. Bemerkenswert ist darüber hinaus - angesichts der neuentfachten Diskussion um den Einsatz ausländischer Spieler - zu erwähnen, dass bei diesem Wettbewerb mindestens die Hälfe der Spieler pro Team die deutsche Staatsbürgerschaft besaß. Die Spannung und den sportlichen Wert minderte es keineswegs und das war letztlich auch der befriedigende Lohn für den umsichtigen Organisationseinsatz der Gastgeber.

 

 

(erschien zuerst in leicht gekürzter Fassung in Schachmagazin 64, Nr. 7, S. 186 - 190)


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