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Aus der Kriminalgeschichte: Morde, die die Welt bewegten

Mord auf Checkmate-Castle, Teil 1

von Wolfgang Gerstner, 1993

zu den Schachtexten

 

   Weiße Nebelschleier waren aus dem Hodgson-Moor aufgestiegen und hatten sich über die bei Tage herbromantische, nun aber bei Nacht düster und bedrohlich wirkende Landschaft gelegt. Die beim Sonnenuntergang am westlichen Horizont bedenklich rasch aufgezogenen Gewitterwolken hatten die wenigen vorhandenen Tiere in ihre Höhlen und Unterschlüpfe vertrieben, und nur hin und wieder war aus der Ferne der Ruf eines einsamen Wolfes zu hören, welcher vom inneren Instinkt angetrieben unruhig die Gegend durchstreifte.

Man hätte fast glauben können, daß sich das Leben in Erwartung des Gewitters vom Hochmoor zurückgezogen hatte, wenn nicht ein dumpfer, flackernder Lichtschein zu erkennen gewesen wäre, der aus einem der Fenster des auf einer leichten Anhöhe gelegenen Schlosses nach außen drang. Dort hatten sich nämlich in der Bibliothek sechs Personen eingefunden, die bei Kerzenschein eine Schachpartie verfolgten.

Während George mit seiner Frau Virginia spielte, betätigten sich Albert und seine Gattin Marian sowie die beiden weiteren Kinder des greisen Lords Sir Thomas, John und Patricia, - neben Virginia und Albert - als Kiebitze. Die Kerzen waren an den vier Ecken des wuchtigen Elfenbeinschachbrettes aufgestellt und warfen bei jeder hastigen Bewegung eigentümliche Schatten und bizarre Formen auf die einzelnen Felder. Hin und wieder gab es ein leichtes Flüstern oder war der schleichende Gang zu der Ecke, in der sich eine üppig gefüllte, holzvertäfelte Bar befand, manchmal auch der heranrollende Donner der Gewitterfront zu hören, ansonsten jedoch verlieh die herrschende Stille dieser ungewöhnlichen Szenerie einen fast schon feierlichen Rahmen.

Da - Virginias Hand bewegte sich gerade auf eine ihrer Figuren zu - zerriß ein lauter Schrei aus dem Nebenraum, dem Arbeitszimmer von Sir Thomas, die trügerische Stille des Hochmoors und verband sich mit dem einsamen Heulen des Wolfes zu einem schauerlichen Duett. Die sechs Anwesenden erstarrten in ihren Bewegungen und richteten ihren Blick auf die beide Räume verbindende Tür, welche geöffnet war, und in der Sekunden später eine Frau auftauchte, deren kalkweißes Gesicht und geweitete Augen im dahinhuschenden Licht einen Eindruck vom Haupte der Medusa zu vermitteln vermochte.

"Was ist passiert, Cathy?" fand John als erster die Sprache wieder.

"Sir ..." Cathy schüttelte langsam den Kopf und zeigte ins Innere des Arbeitszimmers "... Thomas!" Mehr brachte sie nicht heraus.

Allmählich verschwand der erste Schock. John ergriff hastig die ihm am nächsten stehende Kerze und lief eilig zu Cathy, ihm folgten Albert und Marian, während Patricia und Virginia ebenfalls eine Kerze nahmen und mit George nachkamen. Im unwirklich scheinenden Licht der Kerzen erkannten sie Sir Thomas, der auf seinem Arbeitsstuhl saß, den Kopf auf der linken Seite herunterhängend, die rechte Hand noch auf dem Schreibtisch, wo eine bald zur Neige gehende Kerze einige Wachstropfen hinterlassen hatte, die linke noch neben der Stuhllehne baumelnd. Außer der Schreibfeder, die auf einem sich mit blauen Punkten anhäufenden weißen Papier lag, fiel sofort das Messer auf, welches in der linken Brustseite steckte.

Patricia wagte sich als erste an ihren Vater, suchte den Puls und verkündete gerade "Er ist tot!", als es plötzlich an der Eingangstür klingelte. Wie schon keine Minute zuvor erstarrte wiederum die ganze Gesellschaft. Erst auf ein zweites Läuten hin meinte Albert:"Cathy, schauen Sie nach, wer da ist!"

"Ich??" kam es mehr als Schrei denn als Frage.

"Bleiben Sie da, Cathy" sagte George, der Virginia leicht zitternd die Kerze abnahm "Ich gehe schon."

Wenig später kehrte er mit einem Mann zurück, dessen Trenchcoat vor Wasser nur so triefte. In der Hand hielt er einen Hut, dem es nicht gelungen war, den Kopf seines Trägers vor den herabstürzenden Wassermassen zu bewahren.

"Guten Abend" grüßte er mit einer leichten Verbeugung die Runde, von der ungewöhnlichen Versammlung in dem engen Zimmer, welches nur von den Kerzen erleuchtet wurde, offenbar überrascht "Könnte ich bitte Sir Thomas sprechen?"

"Ich glaube, da gibt es ein Problem" erhob John das Wort und deutete auf den Lord. Nur ein Augenzucken war zu bemerken, als der Unbekannte seinen Blick auf Sir Thomas richtete. Eher mechanisch untersuchte er - wie Patricia zuvor auch - den Puls, bevor er nachdenklich nickte und einen prüfenden Blick durch den Raum gleiten ließ.

"Darf man auch erfahren, wer Sie sind?" ließ sich George vernehmen.

"Aber sicher" antwortete der Gast, ohne sich ablenken zu lassen "Ich bin Chief Inspector King von Scotland Yard. Vor etwa einer Stunde rief mich Sir Thomas an und teilte mir mit, daß er um sein Leben fürchten müsse, da er hinter die Machenschaften einer seiner sechs Erben gekommen sei." Dabei schaute er jedem einzelnen der sieben Anwesenden einige Augenblicke lang ins Gesicht.

"Wie bitte?" entfuhr es Marian "Einer von uns - ein Verbrecher?" "Ein Mörder" berichtigte ihr Ehemann Albert "So ist es doch, Mr.King?"

"Es sieht ganz danach aus" gab King zu, neugierig das weiße Blatt hebend, auf dem die Feder einige Tintenspuren hinterlassen hatte.

"Ist etwas mit dem Blatt?" forschte Virginia.

"Die Tinte ist noch nicht ganz getrocknet" erklärte King, legte das Papier aber wieder achtlos beiseite, so, als ob es doch keine Bedeutung hätte. Der Chief Inspector wandte seine Aufmerksamkeit dem übrigen Raum zu, während ihn sieben Augenpaare gespannt und besorgt zugleich verfolgten. Plötzlich bückte er sich und holte aus dem Papierkorb einen fast verkohlten Zettel hervor, den er intensiv und von allen Seiten begutachtete. Keiner der übrigen wagte ein Wort von sich zu geben, aber die Atmosphäre war spannungsgeladen: Hier der Tote, der gerade seinen letzten Schlaf schlief, dort der Chief Inspector, der sich zur Kerze hinunterbeugte, um das Geschrieben besser entziffern zu können, und in dem zu engen Raum weitere sieben den Atem anhaltende Personen, deren Schatten an den Wänden gespenstergleich umhertanzten.

"Steht etwas Wichtiges darauf?" erkundigte sich John.

Nachdenklich betrachtete King die Familienmitglieder, ehe er sagte:"Es ist eine Niederschrift seines Wissens über den Mörder - leider jedoch ist das Wesentliche vernichtet worden, nämlich sein Name ..." Pause "... oder ihr Name ..." Pause "... und die Art des Verbrechens."

Irrte sich hier sein Ohr oder war da tatsächlich ein unterdrücktes, erleichtertes Ausatmen zu hören?

"Ja, hat mein Vater Ihnen nicht den betreffenden Namen genannt?" Patricia schien als erste wieder klar denken zu können.

"Leider wurde das Telefongespräch kurz nach seiner Aufnahme unterbrochen, weshalb ich mich sofort auf den Weg machte." Kings Gesicht verdunkelte sich "Bei einem sehr scheußlichen Wetter übrigens."

"Oh, wie nachlässig von uns!" rief Marian aus "Legen Sie doch erst einmal ab."

"Und vielleicht wechseln wir auch den Raum" schlug Albert vor "Auch wenn es in der Bibliothek nur Kerzenlicht gibt, da vor einer Stunde etwa der Strom ausfiel ..." Er stockte, als er merkte, welche Bedeutung in seinen einfachen Worten lag.

"Vor einer Stunde?" hakte King nach "Nun, das überrascht mich nicht. Aber gut, gehen wir in die Bibliothek."

Gemeinsam gingen sie in den angrenzenden Raum, wo die Anspannung wich und der Realisierung des schrecklichen Ereignisses Platz machte.

"Kannten Sie eigentlich die Tatwaffe?" fragte dabei King beiläufig Cathy, die sich als das Dienstmädchen entpuppt hatte, als er ihr Mantel und Hut übergab.

"Aber ja" antwortete jedoch George "Normalerweise liegt es hier in der Bibliothek."

"Und wo?" wollte King wissen.

"Dort an der Bar" wies George in die entsprechende Richtung.

"Also direkt neben der Tür zum Arneitszimmer" konstatierte King, ehe seine Aufmerksamkeit von dem Schachbrett in Anspruch genommen wurde. "Wer spielt denn hier Schach?" rief er erfreut aus.

"Jeder von uns" gab Virginia Auskunft "Wer auf Checkmate-Castle leben will, muß laut einer Verfügung von 1843 das Schachspiel beherrschen, wie einer unserer Urahnen festlegte. Heute abend haben übrigens mein Mann und ich gespielt."

"Entschuldigen Sie bitte," wandte sich King ihr zu "aber könnten Sie mir bitte sagen, wer von Ihnen hier wer ist?"

Nachdem Virginia die Familie vorgestellt hatte, warf King noch einmal den Blick auf das Brett.

 

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