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Kein Ende des Mythos Schachtürke

Robert Löhr: Der Schachautomat

Rezension von Harald Fietz, April 2006

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Igor Stohl: Garry Kasparov's Greatest Chess Games, Volume 1

Piper Verlag 2005
ISBN 3-492-04796-3
406 Seiten; 19,90 Euro.
Bewertung des Rezensenten: Bewertung 5 aus 5

 

   Was fasziniert uns an Erfindungen vergangener Tage? Warum interessiert uns, dieser Vergangenheit ein Gesicht, sogar eine intime Geschichte zu geben? Es mag die Sehnsucht nach dem Ursprung des Wissens sein, und im Fall des legendären Schachtürken der einst – im Zeitalter der Aufklärung – unendlich ferne Traum von einer künstlichen, rationalen Intelligenz. In den letzten Jahren thematisierte dies u. a das Sachbuch von Tom Standage über die Erfindung des Baron von Kempelen oder der Nachbau des Schachautomaten im Paderborner Heinz Nixdorf Museums-Forum neu. Aktuell rückt der Mythos eines der bekanntesten Apparate des 18. Jahrhunderts, der Epoche der Automatenbegeisterung, wieder ins Bewusstsein. Der Berliner Journalist und Drehbuchautor Robert Löhr legt einen historischen Roman vor.

 

Schachtürke literarisch

   Anders als die Gegenwartsliteratur wirkt der historische Roman selten durch seinen Sprachstil. Wo osteuropäische Autorinnen wie die Russin Irina Denezkina oder die Polin Dorota Maslowska die Gefühlwelten der Jugendsubkultur im 21. Jahrhundert mit krudem Vokabular rausfetzen, wo deutsche Autoren wie Judith Hermann oder Sven Regener mit wohl-temperierten Sprachgestus Beziehungsumfelder ihrer 80er- und 90er-Jahre-Generationen entflechten, da muss der historische Roman einen Spagat bewältigen – nämlich das Zurückzoomen in gesellschaftliche Realitäten und Alltäglichkeiten, die fast gänzlich unvertraut sind. In Löhrs 400-Seiten-Werk „Der Schachautomat“ erfährt der Leser ebensoviel über die Szenerie wie über die Geschehnisse. Da bleiben Dialoge naturgemäß – um nicht in hölzernem Stil von damals zu kommunizieren - in nüchterner Redeform, versetzt mit ein wenig französischem Sprachchic, wenn die Adeligen parlieren. Gleichwohl stört dies nicht, drängt doch der krimiartig angelegte Plot durch überschaubare Handlungsorte und geschickte Vor- und Rückblenden mit immer neuen Spannungsmomenten voran.

   Im topographischen Zentrum steht Preßburg, das heutige Bratislava, welches bis 1784 Hauptstadt des ungarischen Teils der k.u.k-Monarchie war, was zu jener Zeit das Gebiet der heutigen Slowakei und Westungarns umfasste. Es ist die Heimat von Wolfgang von Kempelen, der sich im realen Leben als Hofrat von Maria Theresia beim Siedlungsbau im Banat einen Namen machte, bevor ihm die österreichische Kaiserin eine halbjährige Sabbatzeit gestattet, um seinen Neigungen als Erfinder zu frönen. So konstruierte der Mechaniktüftler schließlich in den Jahren 1769/70 den Schachtürken, jenen Automaten, der den vermeintlichen Triumph der Simulation des Aufklärungsgedankenguts anhand des Prüfbretts mit 64 Feldern als Sensation an die europäischen Höfe tragen sollte. Und die Themen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind denen der Gegenwart durchaus ähnlich: Es geht um Machtspiele, Intrigen, Ehrgeiz, Liebschaften, Reichtum, Anerkennung, Religionstoleranz, Minderheiten, Außenseiter und auch um die Spaßgesellschaft – hier als barocke Fassade mit ständischen Regeln. Bis auf vier Charaktere bedient sich Löhr Protagonisten, die tatsächlich gelebt haben. Aber gerade durch die fiktiven Figuren nähert sich der Leser – gleich ob Kenner oder Neuling in Sachen Schachtürke – der möglichen Wirklichkeit: Dem nie bekannt gewordenen Insassen des Originaltürken gibt Löhr in Person eines italienischen, gottesgläubigen Zwergs den Hauptpart als redliches Gewissen in trügerischer Umwelt, ein Bindeglied verkörpert eine Kurtisane am österreichischen Hof, die im Auftrag von Maria Theresias Hofmechanicus Friedrich Knaus, dessen Intimfeind von Kempelen ausspioniert, eine tragik-tödliche Rolle spielt eine ungarische Gräfin, die als von Kempelens schmachtende Geliebte für Verwirrung sorgt, und schließlich sucht ihr ebenso frei erfundenen Bruder, ein Militär, diese durch den damals üblichen Ehr- und Duellkodex zu rächen.

   Mit diesem Personal führt Löhr den Leser in die Vitas der Hauptakteure ein, verdeutlicht das Funktionieren des Schachtürken, bildet die euphorischen Wirkungen der Vorführungen ab, entspinnt große und kleine Motivationen der Beteiligten, lässt das Geschehen philosophisch, aber gleichwohl verständlich beleuchten und bringt durch Mord und Ränke jede Menge Aktion ins Spiel. Je weiter die Zeitreise fortschreitet, desto mehr umfängt einen der Gedanke, dass dieser Stoff filmreif aufbereitet ist, so plastisch sind die meisten Szenen dargestellt. Für einige gibt es ein Happy-End, für andere ein grausames Ende. Ob für Schachkönner oder Laien, dieses Werk ist eine unterhaltsame und bisweilen nachdenkliche Lektüre gleichermaßen.

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 19 / 2005, S. 532
das Buch wurde zur Verfügung gestellt von Piper-Verlag (www.piper.de); über den Buchhandel erhältlich


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