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Herausforderungen an den inneren Schweinehund

Fünf Neuerscheinungen für die Lernwilligen

Rezension von Harald Fietz, Mai 2006

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   Wenn man Großmeistern bei der Analyse zuschaut, erstaunt in der Regel die Sicherheit, mit der sie auf dem Brett befindliche oder absehbare Stellungen richtig einschätzen. Es offenbart sich die Fähigkeit, potentielle Wirkungen des Figurenzusammenspiels tiefer zu orten. Schachwissen, Rechengenauigkeit und Kreativität beim Verknüpfen von bekannten und neuen Stellungsmustern sind gefragt. Aber was beim Profi jahrelang in Training und Praxis angeeignet wurde, erhascht der Amateur nur vereinzelt, unstrukturiert, unregelmäßig usw. Viele Hobbyspieler glauben, mit steter Schacharbeit voranzukommen, wenige machen es konsequent. „Kaum Zeit“ lautet ein beliebtes Argument. Doch unzählige Ratgeber zum Zeitmanagement unterstreichen, dass dies oft nur ein vorgeschützter Grund ist. Zu wenig Zeit haben, bedeutet zu wenig Interesse haben. Wer will, der setzt die Prioritäten anders. Wer will, der sucht sich einen Coach in den jüngst vermehrt entstehenden Schachschulen oder Einzelunterrichtmöglichkeiten. Wer will, der organisiert sich zur Not alleine. Wer will, der muss den „inneren Schweinehund“ überwinden, d.h. die Bereitschaft haben, sich beim Schach zu quälen. Wer will, findet mehr als genug kompetentes Material. Von letzterem soll hier die Rede sein. Aber es bedarf der Ressource „Zeit“ für vier bis sechs Stellungen in drei Stunden oder einer vollständigen Partie an einem Abend. Wer mit solcher Intensität lernen will, kann sich mit den vorgestellten Werken – bei einem wöchentlichen Termin – zwei Jahre und mehr beschäftigten. Er wird seine Spielstärke sehr wahrscheinlich steigern und alles für eine Investition von knapp über 100 Euro.

 

Stellung als Herausforderung

Artur Yusupov: Chess Lessons

 

Igor Khmelnitsky: Chess Exam and Training Guide

Artur Yusupov: Chess Lessons
Chessgate 2004
ISBN 3-935748-07-8
196 Seiten; 19,80 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 5 aus 5

IamCoach Press 2004
ISBN 0-9754761-2-2
318 Seiten; 24,95 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

   Wie oft haben Sie jüngst eine Diagrammstellung gründlich analysiert, die nicht aus einer Kombinationskolumne stammte? Bestimmt nicht so häufig, wie schnell mal eine Partie nachgespielt oder eine bevorzugte Variante nachgeschlagen. Dabei sind Stellungen ohne gradlinige Lösungen die Hauptlast jeder Partie: „Wo lauern Potenziale, Vorteile anzuhäufen?“ oder „Wo ist konkretes Rechnen notwendig und wo allgemeine Abwägung?“ usw. Die Schachtrainer Artur Jussupow (www.jussupow.de) und Igor Khmelnitsky (www.iamcoach.com) stammen beide aus der Tradition der Schachschulen der Ex-Sowjetunion, doch ihren Wissensschatz brachten sie erst in ihren neuen Heimatländern zu Papier. Der Band des 1991 nach Deutschland ausgewanderten Jussupow basiert auf den zehn deutschsprachigen Lehrheften, die der Ex-WM-Kandidat bei den Seminaren seiner Schachschule einsetzt. Als Sammlung sind sie nun in gediegenem Layout für den internationalen Markt erhältlich, wobei die Übersetzung von Daniel King mit einfachem Schulenglisch leicht zu erfassen ist. Khmelnitsky siedelte ebenfalls 1991 über, wo er in den USA neben dem Schach-Coaching einen Universitätsabschluss in Betriebswirtschaft machte. Seinen wesentlich textreicheren Band prägt der Jargon eines Business-Englisch, was schwerer verdaulich ist. Dafür bietet er einige Extras, die für Trainingsarbeit und –aufbau nützlich sind. Beide Bücher kombinieren den Aufgabenteil mit Punktesystemen. Jussupow baut bei seinem Testmaterial zudem einen Zeitfaktor ein, d.h. z.B. für eine mittelschwere Aufgabe, die drei Punkte bringt, darf man unter DWZ 1500 dreimal zehn Minuten brauchen, unter 1800 dreimal sieben Minuten und bei über 1800 dreimal fünf Minuten. Khmelnitsky gibt als Besonderheit bisweilen für falsche Lösungen Punktabzüge an!

   Auch die inhaltlichen Schwerpunkte unterscheiden sich – für den ehrgeizigen Schüler ist dies eine willkommene Ergänzung! Jussupow hat sowohl Themenblöcke, die sich besser für einfaches Können eignen (Grundlinien-Kombinationen, Doppelangriff und Figurenfang), als auch Bereiche, die für mittelstarke Vereinsspieler gedacht sind (Abtausch, falscher Läufer, Zugzwang, Freibauer im Mittelspiel, Verbesserung der Figurenstellung), bzw. Lektionen, die für gehobene Ansprüche passen (Kandidatenzüge und Ausschlussmethode). Jedes Kapitel ist mit einer zwei- bis fünfseitigen Einführung versehen; Beispiele stammen sowohl aus Mittel- und Endspielen. Es gibt 261 Aufgaben mit fünf Schwierigkeitsstufen sowie 20 Trainingsbeispiele zur Transformation des Freibauern im Mittelspiel bzw. zur Suche nach Kandidatenzügen und bei der Ausschlussmethode 34 Übungen, für die bis zur einer Stunde Testzeit veranschlagt werden. Jedes Kapitel enthält Tabellen zum Punkteeintrag. In der Summe eine gelungene, abwechslungsreiche Mischung.

   IM Khmelnitsky führt an seine insgesamt 100 Aufgaben (bunt gemischt von Mittelspiel bis Endspiel plus einige Eröffnungsfallen) anders heran: Jede Übung hat zwei Teile (vier Optionen mit genereller Bewertung und vier Zugvorschläge). Der frühere Ukrainer erklärt auch falsche bzw. nicht ganz durchschlagskräftige Lösungen. Zudem gibt es zu jeder Aufgabe Statistik, wie in jahrelangen Testreihen Elogruppen (in 400er-Schritten) prozentual abschnitten. Dies wird insbesondere Trainer interessieren. Zahlreiche statistische Gesamtauswertungen treffen wahrscheinlich eher den Geschmack einer zahlenverliebten, amerikanischen Klientel; erkenntnisreicher sind über 60 Seiten zu Trainingstipps und Handlungsanleitungen zum Weiterstudium von Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel (garniert mit Praxisbeispielen der Autors aus dem „Haifischbecken“ der US-Openszene). Wie Jussupow versteht der frühere Jugendcoach seines Geburtslands, klassische und zeitgenössische Beispiele gleichrangig zu offerieren. Auffällig bei beiden, dass im Endspiel ein wichtiger Fokus auf technischen Stellungen - umrahmt von instruktiven Studien - liegt. Ein solches Beispiel (Wotawa / 1938) aus dem Jussupow-Band gestaltet sich atemberaubend simpel: Weiß hält Remis!

 









Wotawa 1938: Weiß am Zug hält Remis (Lösung weiter unten)

 

   Empfehlung: Wer nach besserer Stellungsbewertung und Rechenkapazität strebt, sollte mit Jussupow anfangen und – wenn man mehr verspürt – Khmelnitsky zum Aufbau eines weiterführenden Selbststudiums wählen.

Partie als Herausforderung

Daniel King: Test und Training

 

Zenon Franco: Chess Self-Improvement

Daniel King: Test und Training
Chessgate 2005
ISBN 3-935748-09-4
192 Seiten; 19,80 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 5 aus 5

Gambit 2005
ISBN 1-904600-29-8
240 Seiten; 26,50 Euro

Bewertung des Rezensenten:Bewertung 5 aus 5

 

   Die Methode, Partien durch Testfragen vollständig unter die Lupe zu nehmen, kam in der Schachliteratur in den 90er Jahren en vogue. Die gesamte Story eines Schachkampfs nachzuvollziehen birgt den Vorzug, das Ineinandergreifen von vorbereiteten, ereignislosen, dramatischen und rein technischen Phasen in ihrer Entwicklung zu begreifen. Es lehrt insbesondere, wie sich Wendepunkte anbahnen bzw. wie Taktik und Strategie harmonieren.

   Daniel Kings Konzept, eine Modellpartie mit Prüfungsstopps und einem Punktsystem nachvollziehbar zu machen, ist den SM-64-Lesern vertraut. In jeder zweiten Ausgabe widmet sich der Engländer zumeist einer Begegnung aus dem aktuellen Turniergeschehen. Weniger bekannt ist, dass Zenon Franco, ein in Spanien lebender paraguayischer Großmeister, in Beiträgen für argentinische, spanische und italienische Schachzeitungen eine ähnliche Testserie veröffentlichte. Während von King nun 20 Partien in deutscher Sprache erschienen, sind es bei Franco 50 Partien in englischer Sprache. Trotz gleicher Vorgehensweise gibt es deutliche Unterschiede in den Präsentationen.

   Kings Partienauswahl stellt auf die Gegenwart ab: 15 Spiele, d.h. genau Dreiviertel, fanden nach der Jahrhundertwende statt. Sechs der 20 Partien erschienen bereits im "Schachmagazin 64" (SM64), wurden aber für die Buchausgabe überarbeitet. Der Engländer versieht seine Beispiele mit unterhaltsamen Anekdoten aus dem Umfeld der Partie oder bringt zuvor lehrreiche Stellungen, die in Abwandlung in der Hauptpartie auftauchen (z.B. zum „Morosewitsch-Manöver“, wo ein Springer von f3 wegzieht, um dem f-Bauern den Weg zu ebenen). Insgesamt „verbalisieren“ seine Kommentierungen viel, d.h. strategische Ausrichtungen und die Ideen von Figuren- und Bauernmanövern werden stärker als Gedankengänge umschrieben. Zudem gebraucht King stets ein identisches 100-Punkte-Schema, was dem Schüler eine Vergleichbarkeit seiner Performance bei unterschiedlichen Partietypen gestattet sowie eine Gesamtbilanz erleichtert.

   Francos Partienauswahl orientiert sich wohl an seiner bisherigen Trainertätigkeit und fächert zeitlich breiter: Zwei Partien stammen aus der Zeit vor 1945 (beide Beispiele von Emanuel Lasker!), 39 Kämpfe fanden zwischen 1945-1999 statt (15 davon aus den 90er Jahren) und neun Begegnungen datieren seit dem Jahr 2000. Der frühere Coach von Spaniens Top-Spieler Francesco Vallejo Pons springt stets ohne Vorrede in das Lehrbeispiel. Anders als King, der bei Fragen keinen Hinweis raus lässt, fordert Franco an verschiedenen Stellen mit drei bis vier Optionen Stellungsbewertungen und gibt dort, wo ein konkreter Zug erkannt werden soll, fast immer zwei bis vier Auswahlzüge an. Insgesamt ist seine Partienschau variantenlastiger (27 Partien firmieren unter der Überschrift „Positionsspiel“, 17 unter „Angriffsspiele“ und sechs unter „Endspiele“). In Gegensatz zu King ist bei Franco die zu erreichende Punktezahl jeweils unterschiedlich. Dafür bietet er für die nicht so erfolgreichen Schüler bei jeder Partie individuelle, witzige „Ermutigungen“. Seine Schlussfolgerungen des Partieverlaufs ähneln denen eines Trainers, der stichpunktartig die Höhepunkte resümiert; King fasst mehr die jeweiligen Vorgehensweisen und Überlegungen der Spieler zusammen.

   Empfehlung: Beide Werke zeigen, dass die Autoren ein ausgeprägtes didaktisches Gespür für die Trainingsbedarfe von ambitionierten Vereinsspielern haben, aber auch zum bloßen Genuss können diese Test-Parcours dienen. Beide Bände ergänzen sich ideal (keine einzige Partieüberschneidung!). Wer mit King einen befriedigenden Anfang macht, wird sich danach den Franco kaum vorenthalten!

 

Schachtechnik als Herausforderung

Valeri Bronznik, Anatoli Terekhin: Techniken des Positionsspiels im Schach

Kania Verlag 2005
ISBN 3-931192-30-X
272 Seiten; 22,50 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4 aus 5

 

   Wissenslücken, die viele Vereinsspieler plagen, schließt eine neue deutsche Produktion des in Stuttgart beheimateten ukrainischen IM Valeri Bronznik in Kooperation mit FM Anatoli Terekhin, dem Leiter einer Schachschule im russischen Perm, der die russische Originalausgabe veröffentlichte. Das auf 270 Seiten gewachsene, überarbeitete Werk handelt vom Aufspüren positioneller Entscheidungen im Schach. Insgesamt werden 45 Techniken aufgezeigt; zum Abschluss gibt es 40 Aufgaben mit jeweils einer Technik als Hauptmotiv (die Reihenfolge willkürlich ist, womit man realer an den Umständen einer Partie unter Turnierbedingungen ist!). Das Buch eignet sich insgesamt eher zur Wissensaneignung als zur Wissensüberprüfung. Die Thematiken dürften - wie eine kleine Auswahl zeigt - den meisten Vereinsspielern „unter den Nägeln brennen“: „Welcher Turm gehört auf die c-, d- oder e-Linie?“, „Läuferhemmung: Bauern auf welche Felderfarbe?“, „Die künstliche Rochade“ oder „Linienöffnung durch den Randbauern“. Andere Techniken rühren aus der Praxis bedeutender Schachgrößen her, z.B. „Das Rubinstein-Manöver: … Dd8-b8-a7!“, „Capablancas Motiv: Den Läufer kaltstellen“, „Botwinniks Rezept: Figuren, die Einbruchsfelder schützen, abtauschen!“, „Die Smyslow-Batterie: Db2/Lc3 (Db7/Lc6)“ oder „Karpows Linienverstellung“. Wie häufig bei Lehrbüchern russischen Ursprungs wird dem klassischen Erbe große Bedeutung zugemessen. Insofern kann die Lektüre speziell jungen Spielern angeraten werden, die häufig zu einseitig auf trendige Neuerungen der Gegenwart fixiert sind. Aus Sicht der Spielstärke sollten Amateure bis DWZ 2000 den meisten Nutzen ziehen. Die Beispiele sind nicht zu sehr mit Varianten überfrachtet, sondern zielen auf die Prägnanz der jeweiligen Idee. Neben Techniken, die dem Hobbyspieler vielleicht bewusst sind, die er aber noch zu wenig in ihrer Wirkungstiefe durchdachte, kommen auch neue Methoden zu Tage (z.B. der „Wellenbrecher“, d.h. die Bauernformation f2-g3-h4 bzw. f7-g6-h5, die eine potentielle Freibauernbildung oder eine ungünstige Linienöffnung verhindern soll, oder das „Schloss“, was den Aufzug eines Randbauern auf die 6. Reihe bezeichnet, der beim Ziehen eines gegnerischen Bauern nach b5 oder g5 auf seiner Linie die 5. Reihe betritt und abriegelt). In der Summe ein spannendes Buch mit vielen, neuartigen „Aha-Effekten“!

   Es ist nicht bekannt, ob Jussupow beim Lösen der Wotawa-Studie einen Jubelschrei ausstieß, doch seine Erläuterung lässt es vermuten:

 










Alois Wotawa 1938
Weiß am Zug: Remis
[Artur Jussupow]

Mein Trainer Dworetzki gab mir diese Studie zum Lösen. Ich hielt lange Zeit nach Ressourcen in diesem Endspiel Ausschau - aber ohne Erfolg. Nicht so günstig kommt 1.Kg7? wegen 1...Te8. Ich befand mich vertieft in Überlegungen mit diesen Varianten, als mich die Stimme meines Trainers aufschreckte: "Was hast Du noch nicht erwogen?" Ich fand die Lösung geradewegs: 1.e4!! fxe4 2.Kg7 Th5 3.Kg6 Te5 4.Kf6 Te8 5.Kf7 mit andauerndem Angriff auf den Turm. 1/2-1/2

 

   Die Tests in den fünf Bänden können den eigenen, inneren Schweinehund ähnlich glücklich machen, wenn sie als regelmäßiges Training mit überprüfbarer Kontrolle absolviert werden. Den Umfang seiner „Qualen“ muss allerdings jeder entsprechend seiner Ausdauer selbst festlegen ...

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 1 /2006, S. 15/16
die Bücher von Daniel King und Artur Jussupow stellte Chessgate AG zur Verfügung
die Bücher von Igor Khmelnitsky und von Zenon Franco stellte Schach Niggemann zur Verfügung
das Buch von Valeri Bronznik und Anatoli Terekhin stellte Schachverlag Kania zur Verfügung


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