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Bücher von und über Emanuel Lasker

Rezension von Harald Fietz, Januar 2006

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Emanuel Lasker: Laskers Lehrbuch des Schachspiels

Beyer-Verlag 2005
ISBN 3-88805-477-X
256 Seiten; 19,80 Euro
Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

   Auf dem Schachbuchmarkt tummeln sich momentan Lehrbücher für alle Phasen einer Schachpartie. Sollte man da - selbst wenn es vom zweiten Weltmeister der Schachgeschichte verfasst wurde - ein Buch erwerben, welches vor genau 80 Jahren erstmals erschien und das Spiel von A bis Z erläutern will? Was und für wen bieten die 256 Seiten etwas, die Emanuel Lasker in den "goldenen 20er Jahren" in der Abgeschiedenheit seiner Sommerresidenz in Thyrow vor den südlichen Toren Berlin verfasste und drei Jahre später 1928 für die sechste Auflage mit etlichen eröffnungstheoretischen Nachträgen versah?

   Unterteilt ist das "Lehrbuch des Schachs" in sechs Bücher und zwei Schlussbetrachtungen: Buch eins "Die Elementarlehre des Schachspiels" erläutert die Zugarten und Tauschwerte der Figuren. Diese 28 Seiten taugen nur für absolute Anfänger. Buch zwei "Die Lehre von den Eröffnungen" spiegelt auf 55 Seiten in groben Konturen einen Überblick über die ersten Züge. Dieser Teil besitzt eher schachhistorischen Wert, denn drei Jahre nach Tartakowers bahnbrechendem Band über die "Hypermodernen Partie" wertet Lasker nicht über die neuen, indischen Eröffnungen und auch die halboffenen Entgegnungen stecken noch in den Kinderschuhen: Zweidrittel sind offenen Spielen gewidmet, ein Dutzend Seiten gibt es für halboffene Spiele und alles andere bekommt nur sieben Seiten. Die folgenden vier Bücher "Die Kombination", "Das Positionsspiel", "Das ästhetisch Wirksame im Schachspiel" und "Beispiele und Muster" sowie die Schlussbetrachtungen "Über Erziehung zum Schach" sowie "Über die Zukunft der Lehre von Steinitz" müssen allerdings auch heute noch als "Leckerbissen der Schachinstruktion" gelten.

   Anhand von 50 Partien (auch hier überwiegend klassisch mit 1.e4 e5 und 1.d4 d5), 90 Stellungsdiagrammen und 24 Studien (!), die in der Neuausgabe in einem vorbildlichen Index gelistet sind, durchforstet Lasker das grundlegende Rüstzeug für den Vereinsspieler. Dabei tritt zutage, was im 20. Jahrhundert in der Schachausbildung der damaligen Schachsupermacht Sowjetunion stets gepredigt wurde, dass nämlich die Kenntnis der Klassiker die Basis für das heutige Schachverständnis ausmacht. Dem damals 60-jährigen Lasker gelingt es, mit großer Souveränität Sachverhalte zu definieren bzw. zu korrigieren. Einerseits besticht die klare Sprache, wobei auch praxisnahe, philosophische Betrachtungen einfließen, andererseits scheut er nicht, seine Autorität herauszukehren, um Fehler in anderen Veröffentlichungen zu rügen. Daneben lesen sich insbesondere seine Charakterskizzen vergangener Größen oder Spieler seiner Zeit reizvoll. So pointiert wird heute selten über Schachkönner "hergezogen". Zwei Beispiele sollten belegen, wie erhellend er Stellungseinschätzungen zuzuspitzen vermag.

 

Laskers Klarheit

   Zunächst ein Endspiel seines WM-Vorgängers, wobei Lasker unverblümt die hagiographischen Ausführungen von Steinitz-Biographen Ludwig Bachmann vorführt:

 










Bird,H - Steinitz,W

Steinitz zog hier ....d4, und sein Biograph sagt zu diesem Zug (L. Bachmann, 'Schachmeister Steinitz', erster Band, S. 167): 'Das schwierige Endspiel führt Steinitz mit bewundernswerter Korrektheit und feiner Beurteilung der Stellung zu Siege. Eine durch Hartnäckigkeit der Verteidigung wie treffliche Angriffsführung seitens des Siegers gleich bemerkenswerte Partie.' Nichts von dem allem ist wahr. Wenn Bird richtig spielt, macht er mit Leichtigkeit remis. Nach 1...d4 2.Sd5+ Ke5 3.Sxf6 dxc3 musste er nicht 4.Ke3? ziehen, sondern 4.Sd7+ Kd6 (am besten) 5.Sxc5 bxc5 6.Ke2 worauf ...c4 sogar verliert, ...cxb4 aber noch remis hält. Nach 6...c4 7.Kd1 Ke5 8.Kc2 Kf4 9.Kxc3 Kxf3 sprengt nämlich 10.a4 die Bauern, und Weiß marschiert ungehindert zur Dame. Wenn 8...Kd4, so 9.f4 Ke4 10.Kxc3 Kxf4 11.a4 bxa4 12.b5 Ke5 13.Kxc4, und der a-Bauer geht ohne Kompensation verloren. Am besten verzichtet Schwarz auf jeden Gewinnversuch: 6...cxb4 7.axb4 Ke5 8.Kd3 Kf4 9.Kxc3 g5 10.Kd4 Kxf3 11.Kc5 und so weiter mit Remisschluss. - Man darf wohl ohne Übertreibung sagen, dass die schachliche Literatur von Fehlern wie dem eben genannten wimmelt." (S. 116) 6...c4 [6...cxb4 7.axb4 Ke5 8.Kd3 Kf4 9.Kxc3 g5 10.Kd4 Kxf3 11.Kc5 ] 7.Kd1 Ke5 8.Kc2 Kf4 [8...Kd4 9.f4 Ke4 10.Kxc3 Kxf4 11.a4 bxa4 12.b5 Ke5 13.Kxc4 ] 9.Kxc3 Kxf3 10.a4

 

   Von gesteigertem Interesse sind jene Beispiele, in denen der einzige deutsche Weltmeister das eigene Schaffen unter die Lupe nimmt. Lasker gilt insbesondere als Meister der Mittelspielbehandlung und der Übergänge in Endspiele. Im nachfolgenden Beispiel begründet er, warum er - wie 1914 bei seiner berühmten Partie gegen Capablanca in St. Petersburg – mit dem Bauernzug f4-f5 eine nichtstandardisierte Fortsetzung wählte:

 










Lasker,Em - Janowski,D

Das Problem für den Weißen ist es, sich einen Freibauern zu verschaffen. Schwarz hat zwar das Übergewicht auf dem Damenflügel, wird sich aber wegen seines Doppelbauern dort nur schwer, nur mit Hilfe seiner Offiziere, einen Freibauern schaffen können. Weiß beginnt den Angriff mit einem paradoxen Zuge. Um sich einen Freibauern zu verschaffen, geht man gewöhnlich mit dem überwiegenden Bauern einer Reihe nach vorne, hier also mit dem e-Bauern. Mit Rücksicht auf den Läufer ist der Zug bedenklich, weil Weiß dann auf den weißen Feldern seien Halt zu verlieren droht, hat er doch einen Läufer auf schwarzen Feldern. Beispielsweise könnte beim Vorgehen on e4-e5 später einmal c5-c4 folgen und Scharz sich mit dem Springer auf d5 festsetzen; auch ...h7-h5, ...g7-g6 nebst ...Sc6 verschaffte dem Schwarzen dann ein Übergewicht auf den weißen Feldern. Andererseits muss Weiß sich einen Freibauern zu verschaffen trachten, da sonst die Partie gleichsam still steht. Er tut dies, indem er mit dem Bauern die weißen Felder betritt und dem Läufer den Kampf um e5 überlässt. 1.f5! Schwarz will sich nun des Feldes e5 versichern. Er kann dies mit Hilfe der Offiziere allein zu tun trachten, etwas, wie Tarrasch ("Die moderne Schachpartie") angibt mit ...Sc6, ...Te7, ...The8, worauf Weiß Lf4, Te3 und beispielsweise g2-g4 antwortet. Nun droht Weiß etwas mit Tde1, e4-e5 durchzusetzen und erzwingt ...Se5+, sobald er es nur will. Dann aber, was Tarrasch richtig einschätzt, kann Schwarz den Punkt e5 ohne Hilfe des Bauern f7 doch nicht behaupten, denn Weiß zieht beispielsweise Kf3-f4 und einen Turm nach h3. Mit Hilfe der Offiziere allein kann Schwarz e5 nicht behaupten. Fragt sich nur, wann der Zug ...f7-f6 geschehen soll. Vermutlich hat Tarrasch Recht, dass er den Zug tadelt, aber er hat Unrecht, ihn überhaupt zu untersagen, der Zug geschieht wohl nur zu früh. 1...f6 2.g4 Te7 3.Lf4 The8 4.Te3 Sc6 5.g5 Sa5 Das verschlimmert die Lage von Schwarz, weil nun Weiß, während Schwarz untätig bleibt, Reserve heranholt. [Nach 5...fxg5 6.Lxg5 Se5+ 7.Kg3 Sc4 8.Tee1 wird Weiß den Punkt e5 erobern können.] 6.h4 Sc4 7.Te2 Tf7 8.Tg1 Kd7 9.h5 Droht mit 10.h6 den ganzen Königsflügel aufzurollen, beispielsweise 10. ...gxh6? 11.gxf6 mit zwei furchtbaren Freibauern oder 10. ...g6 11.fxg6 hxg6 12.gxf6 mit eine starken Freibauern auf h6. 9...Sd6 10.h6 fxg5 11.Txg5 g6 12.fxg6 hxg6 13.Txg6 Tef8 14.Tg7 Txg7 15.hxg7 und Schwarz gab bald danach auf. "( S.136/137) 1-0

 

   Jeder, der einmal versucht hat, Partien zu kommentieren, kann sich auf über 150 Seiten am präzisen Vokabular und den überall eingestreuten Maximen des Kämpfers Lasker ergötzen und dazulernen. Mit der Neuausgabe in der Regie von Annette Borik ist dieser "Schach-Schatz" endlich in augenfreundlicher Aufmachung verfügbar. Die "technische Renovierung" betraf nicht nur Notation, Satz und Layout, sondern platzierte einzelne Absätze im Sinne eines besseren Leseflusses. Allerdings ist dem Verlag beim Lektorat entgangen, dass bereits 1977 in dem Reprint der Ausgabe von 1925 im Hamburger Rattmann-Verlag ein strenger Blick angelegt wurde: IM Rudolf Teschner wies damals auf vier Fehler Laskers hin. Ein Eröffnungsvorschlag war wenig substanziell, aber die Korrekturen zu drei Mittel- bzw. Endspielstellungen sollen hier für den potentiellen Käufer der Neuausgabe Erwähnung finden.

 

Laskers Übersehen

   In dem in der einschlägigen Literatur oft zitierten Endspiel (Neuauflage, S. 37) zeigt Lasker auf 1...Ta2 ein langzügiges Zickzackmanöver, wo bereits die Züge 2.Dd4+ Kh1 3.Dh8+ (nebst Dg8+) einen Schlussstrich ziehen:

 










Lasker Lehrbeispiel 2

1...Ta2 2.Dg5+ [2.Dd4+ Kh1 3.Dh8+ Kg1 4.Dg8+ ist die viel kürzere Variante, auf die Teschner hinwies.] 2...Kh1 3.Dc1+ Kh2 4.Dh6+ Kg1 5.Dg6+ Kh1 6.Dh7+ Kg1 7.Dg8+ Diese Variante gibt Lasker an (S. 37 der Neuausgabe).

 

   In einem anderen Endspiel (Neuauflage, S. 34) will Lasker eine Methode demonstrieren, die weiße Stellung in einen statischen Verlustzustand zu überführen. Allerdings gibt es eine dynamische Ressource, wonach die Sache nicht so eindeutig liegt:

 










Lasker Lehrbeispiel 1

1.Td4 "Weiß stempelt den gefesselten Bauern d5 zum Angriffsziel, in dem er ihn mit Td1-d4 blockiert. Alsdann folgt, wenn Schwarz den Bauern nicht entfesselt und dabei preisgibt, c2-c4, Angriff mit Übermacht (Lasker, Neuausgabe, S. 34) "Der Bauerngewinn ist irrig, weil Schwarz auf Td4 mit 1...Kf8 2.c4 Tb8 antworten kann" (Teschner, Ausgabe Rattmann 1997, die auf den 4. Nachdruck der Originalausgabe von 1925 basiert!). 3.Txd5 [3.cxd5 Txb2 reicht einfach zum Remis.] 3...Txb2 z.B. Remis - vgl. Belov-Savon, Podolsk 1991 (Emms, Survival Guide, S. 117) "Das Turmendspiel mit dem c-Freibauern sollte in der Tat theoretisch remis sein und in der Praxis nicht unerhebliche Gewinnchancen bieten." (Karsten Müller)

 

   Definitiv irrte Lasker aber in einer Mittelspielanalyse (Neuauflage, S. 124, 2. Diagramm), wo auf 1.Th4 die von ihm viel beschworenen, "gewalttätigen" Züge 1....Th4 nebst 2...Lh3 unmittelbar gewonnen hätten, während in seiner Variante, Weiß auf Td8 den Rettungsanker Th5 hat.

   Trotz dieses Übersehens bleibt das Werk eine inspirierende Lektüre, die insbesondere Spielern bis DWZ 2000 angeraten werden kann. Und neben dem schachlichen Gehalt äußert sich der Meister auch zu Lehrprinzipien und Erziehungsfragen. Dass seine Aussagen wie just aus der heutigen Zeit klingen, mag folgende Stelle belegen (alle PISA-Interessierten und Leistungsreferenten aufgehört!): "Unsere Erziehung leidet überall an einer außerordentlichen Vergeudung von Zeiten und Werten (...). Ist dabei nicht eine Tendenz zur Verdummung der Massen im Spiele? Für die Herrschaft der Mittelmäßigen ist die Dummheit der Masse ja eine Lebensbedingung. Bei unserem Schach fällt dies Motiv fast ganz fort, hier ist an dem schlimmen Zustande nur unsere Beschränktheit schuld." (S. 249) Solche Sichtweisen verdeutlichen, warum Lasker nicht nur als Schachspieler, sondern als politischer und akademischer (ja sogar schriftstellerischer) Geist von seinen wechselnden gesellschaftlichen Umfeldern in Deutschland, England, Amerika, der Sowjetunion und anderswo gehört wurde.

 

Laskers Multitalent

Kotowski, Poldauf, Wagner: Emanuel Lasker Homo ludens - homo politicus

Verlag für Berlin-Brandenburg 2004
ISBN 3-935035-12-2
256 Seiten; 29,00 Euro

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

   Wer sich über Züge hinaus mit dem Phänomen Lasker auseinandersetzen will, bekommt in dem im vergangenen Jahr erschienenen Band "Emanuel Lasker – Homo ludens – homo politicus, Beiträge über sein Leben und Werk" einen weitgefächerten Überblick zu seinen Fähigkeiten. Die Aufsätze basieren auf den Reden der Potsdamer Konferenz im Januar 2001, auf der sich die Lasker-Gesellschaft konstituierte, die u.a. Laskers Thyrow-Haus in seinem ursprünglichen Zustand renovieren will (mehr unter www.lasker-gesellschaft.de). Schachliche Aspekte loten Helmut Pfleger ("Laskers psychologischer Stil"), Wolfgang Unzicker ("Die Antipoden Tarrasch und Lasker") und Robert Hübner ("Laskers ‚psychologische Spielweise’") aus; sein Schachwirken beschreiben Juri Awerbach ("Lasker in Russland"), Isaak Linder ("Laskers Moskauer Exil") und Henriette Reerink ("Lasker und Holland"). Daneben geht es um andere Interessensgebiete: Seine politischen, philosophischen, kultur-bezogenen und spieltheoretischen Schriften, seine schriftstellerischen Versuche und seine Affinität zu anderen Spielen (insbesondere dem Go). Auch lokalpolitische Traditionspflege in Barlinek, seinem heute in Polen gelegenen Geburtsort, Thyrow und Berlin wird beleuchtet. Ohne Zweifel ist Lasker ein entdeckter und zu entdeckender "Klassischer Moderner", der zur spannenden Auseinandersetzung reizt.

 

 

die Rezension erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 19/2005, S.523/524
"Laskers Lehrbuch des Schachs" stellte der Joachim Beyer Verlag für die Rezension zur Verfügung
der Konferenzband "Emanuel Lasker – Homo ludens – homo politicus, Beiträge über sein Leben und Werk" ist in jeder Buchhandlung und den Schach- Fachhandel erhältlich


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