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Erste Hilfe für "Taktikopfer"

David LeMoir: Essential Chess Sacrifices

Rezension von Jennifer Sdunzik, Juli 2004

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David LeMoir: Essential Chess Sacrifices

Gambit 2003
ISBN 1-904600-03-4
224 Seiten; ca 25 €
Englisch: Intermediate Level

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 4,5 aus 5

 

   Sind Sie gut in Taktik? Nein? Dann machen sie was dagegen! Es gibt sogar ein wirksames Mittel für etwas fortgeschrittene Schachjünger. In dem Buch "Essential Chess Sacrifices" stellt der englische Meisterspieler David LeMoir typische Opferideen vor. Doch der zweimalige Gewinner der Einzelmeisterschaft von West of England bringt seinen Lesern nicht mit unzähligen Diagrammen Kombinationsmotive bei - nein, sein Anliegen ist das Aufzeigen von Opferwendungen als Teil von typischen Angriffsplänen.

   In den 15 Kapitel wandert der Lernwillige auf dem Schachbrett nach von links nach rechts, also angefangen mit berühmten Springer- und Läufereinschlägen auf b5 bis zum allseits beliebten Läuferopfer auf h7. Hier ist es eben so, dass man Material ins Geschäft steckt, und dann mit bisweilen langen und genauen Zugfolgen den Angriff auf den König erlegt oder Materialrückgewinn bzw. "Mehrholz" den vollen Punkt in die Tabelle bringt. LeMoir erklärt mit detailreichen Stellungseinschätzungen und ausführlichen Analysen der kritischen Stellen, warum in bestimmten Situationen die Voraussetzung für ein drastisches Vorgehen gegeben ist und welchen Plan man realisieren muss - wie gesagt, es ist kein Buch, wo eindimensional gleich ein Matt herauskommt. Manchmal scheinen Opfer auf den ersten Blick gar nicht so toll zu sein, man bekommt vielleicht nur zwei Bauern für den geopferten Springer und hat nicht mal großen Entwicklungsvorsprung. Man sollte aber bedenken, dass man dafür den König am Rochieren hindert, und dass zwei Bauern bisweilen sehr stark werden können. Also nie zu schnell vorurteilen - jedes Opfer hat (meist) seine Reize ;-) Ein Beispiel des Weltranglistenersten soll dies verdeutlichen (im Buch ist die Partie ausführlicher analysiert).

 










Van der Wiel,J - Kasparov,G [B96]
Amsterdam (Euwe Memorial), 1991
[Übersetzung von Jennifer Sdunzik]

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 e6 7.f4 Dc7 8.Df3 Sbd7 9.0-0-0 b5 10.e5 Lb7 11.Dh3 dxe5 12.Sxe6 fxe6 13.Dxe6+ Le7 14.Lxf6 Weiß kann eine weitere Figur auf b5 opfern, was die Türme verbindet und eine weitere Leichtfigur in den Angriff bringt. Wie auch immer bringen die offenen Linien am Damenflügel auch den weißen König in Gefahr, wie das Beispiel Van Rijn- Peng Zhaoqin, Dieren 1996, zeigt: [ 14.Sxb5 axb5 15.Lxb5 Le4! 16.Lxd7+ Kf8 17.Td2 Lb4 18.c3 Lxc3 19.bxc3 Dxc3+ 20.Kd1 Da1+ 21.Ke2 Dxh1 22.Lxf6 Dxg2+ 23.Ke1 Dg1+ 24.Ke2 Dxh2+ 25.Ke1 Dg1+ 26.Ke2 Lf3+ 27.Kd3 Dg6+ 0:1] 14...gxf6 15.Le2 h5 16.Sd5 verhindert den schwarzen Plan Sf8 16...Lxd5 17.Txd5 Sc5 18.Df5 Nun hat die Dame das Feld g6 unter Kontrolle, was in den meisten Fällen zum Remis reichte. Das war wahrscheinlich auch genug für Van der Wiel. 18...Dc6 19.Dg6+ Kf8 20.Thd1 De8 21.Df5 Dc8 22.Dg6 De6 23.Lxh5 Dg8 24.Td8+ [ Nun hält Weiß mit 24.Td8+ Txd8 25.Txd8+ Lxd8 26.De8+ Kg7 27.Dg6+ Dauerschach.] 24...Txd8 1/2-1/2

 

   Des weiteren weiß man an Hand eigener Erfahrungen (oder spätestens nach dem Durcharbeiten des Buches!), dass jedes Opfer unterschiedlich ist bzw. verschiedenen Merkmale eine bestimmte Angriffsführung ausmachen - manchmal folgt (fast) alles forciert, ein anderes Mal lässt man sich Zeit und holt weitere Figuren in den Angriff. Wie soll man da als Nichtprofi nur den Überblick behalten? Ich möchte behaupten, dass das Buch in dieser "verzweifelten" Lage wie ein kleiner Erste-Hilfe-Kasten ist: In der Partie "verletzt" man sich ein wenig, weil man sich vielleicht überschätzt hat, na ja, dann "heilt" das Buch schnell mal eben die ersten Wunden. Es legt - wie der Untertitel angibt - das Fundament für das Verständnis von Opferzusammenhängen, so dass man beim nächsten Kampf vielleicht unbeschadet über die Runde kommt. Ein Blick auf den Inhalt verrät, dass man am Brett einen hohen Blutzoll erlebt:

  1. Der Springer "bereinigt" den Damenflügel: Sxb5 im Sizilianer;

  2. Der Läufer "bereinigt" den Damenflügel: Lxb5 im Sizilianer;

  3. Die vielen Facetten des Springersprungs auf d5;

  4. Den König in der Mitte halten: Läuferopfer auf e6;

  5. Den König in der Mitte jagen: Springeropfer auf e6;

  6. Der andere, sizilianische Springersprung nach f5;

  7. Die g-Linie mit dem anderen Springeropfer auf f5 aufreißen;

  8. Den König rauszerren mit Sxf7;

  9. Der Läufer holte den König mit Lxf7 aus seinem Sattel;

  10. Den Sargnagel mit Springeropfer auf f6 einschlagen;

  11. Mit Sxg7 ins Herz der kurzen Rochade stechen;

  12. Die g-Linie mit Sg5- und Lg5-Opfern aufstemmen;

  13. Die Königsfestung mit Lxh6 zerstören;

  14. Das klassische Lxh7-Opfer;

  15. Das doppelte Läuferopfer

   Neben diesen 15 traditionellen Opferplänen gibt es auf zwei der großformatigen Seiten noch eine Gesamtschau der "Heilmethoden" für Angriffssüchtige. Außerdem sind über das gesamte Buch 28 Aufgaben verstreut, die ausführlich im Lösungsteil analysiert werden. Ein Index der Modellpartien und eine sehr nützlicher Eröffnungsindex (inklusive Untergliederung in Codes der Eröffnungsenzyklopädie auf dem Informator-Verlag) runden die 224 Seiten ab. Natürlich kann es auch mal schief gehen, doch das passiert jedem, auch den ganz großen Cracks (dies hier als Appetithappen; in Buch ist die Analyse eine ganze Seite lang):

 










Anand,V - Karpow,A [D21]
Las Palmas, 1996

1.Sf3 d5 2.d4 e6 3.c4 dxc4 4.e4 b5 5.a4 c6 6.axb5 cxb5 7.b3 Lb7 8.bxc4 Lxe4 9.cxb5 Sf6 10.Le2 Le7 11.0-0 0-0 12.Sc3 Lb7 13.Se5 a6 14.Lf3 Sd5 15.Sxd5 exd5 16.Tb1 Db6 17.Le2 axb5 18.Txb5 Dc7 19.Lf4 Ld6 20.Ld3 La6 21.Lxh7+! dabei schien die Stellung doch normal, oder!? 21...Kxh7 22.Dh5+ Kg8 23.Tb3 Lxe5? 24.Th3 f6 25.dxe5 De7 26.Dh7+ Kf7 27.Tg3 Ke8 28.Txg7 De6 29.exf6 Sc6 30.Ta1 Kd8 31.h4 Lb7 32.Tc1 La6 33.Ta1 Lb7 34.Td1 La6 35.Db1! Txf6 36.Lg5 Hier verliert Karpov nach Zeit, doch nach 36. ...Kc8 37. Db6 gewinnt Weiß ohnehin 1-0

 

   Nach diesem Beispiel erkennt der Vereinsspieler, dass auch bei ihm Hopfen und Malz noch lange nicht verloren sein muss. Man wird gewahr, dass Hauruck-Aktionen nicht immer die effektivsten Spielfortsetzungen sind - stille Züge bzw. Vorbereitungszüge können die Position des Gegners sogar gezielter verschlechtern.

 

Die Katze nicht aus dem Sack lassen - leichter gesagt als getan??

   Wie sollte man mit dem Buch umgehen, für wenn kommt es in Frage? LeMoirs Führer durch den Opferdschungel eignet sich sehr gut für unterschiedliche Trainingsmethoden: Zum einen lernt man einiges über Eröffnungsopfer, was ja immer besonders wichtig ist, wenn man die Eröffnung selbst spielt bzw. lernt. So ist man auf die Fallen einfach besser vorbereitet. Zum anderen fördert das Durcharbeiten auch das Stellungsverständnis und Taktik. Ein Mehrwissen an sogenannter "Schachlogik" stärkt ja immer das Selbstbewusstsein eines Spielers, der im DWZ-Korridor von 1500 bis 2000 nach Verbesserung strebt. Am Ende jedem Kapitels stehen die erwähnten Übungsaufgaben - so kann gleich mal geschaut werden, ob man das Kapitel verinnerlicht hat.

    Aus meiner Sicht mit nunmehr um die 1700 DWZ fand ich bemerkenswert, wie viele sehenswerte Partien Geheimnisse bergen, die man mit bloßen "Schachauge" nicht sieht (oder deren Wirkungszusammenhänge man so noch nicht gesehen hat): Oft sagt man sich, dies "ist doch 'ne ganz normale Stellung, schon in vielen Mittelspielen vorgekommen ..." - doch die Beispiele in diesem Band zeigen, dass man sich nicht selten getäuscht hat! ;-) Häufig sind mit einem Opfer gleich mehrere Motive verbunden, so spielt man z.B. Sf5 mit dem Ziel den schwarzen Schutzläufer zu tauschen, offene Linien zu ergattern oder sogar einen Bauernsturm auf den bald vereinsamten kurz rochierten König zu tätigen. Erbarmen kennt man in dieser Hinsicht nach "Verschlingen des Schachwälzers" in diesen Situationen nicht mehr ... die Katze kommt dann nicht mehr aus dem Sack!

   Für jemanden meiner Spielstärke ist es auch interessant, wie man mit Initiative umgeht (bei Materialnachteil), den Angriff bei ungleichfarbigen Läufern führt oder auch das Verwerten des durch das Opfer erzielten Vorteils im Endspiel verwirklicht. Da hilft es, dass LeMoir gute Tipps meist als Extrapunkte heraushebt. Auch die Übersichtlichkeit sticht heraus, denn die Kapitel sind in kleinere Abschnitte unterteilt, meist nach Ideen (also ideal als Lerneinheit!).

   Eventuell wäre die Zugabe des umfangreichen Materials auf einer CD nicht schlecht, da es viel Zeit kostet, sämtliche Partien nachzuspielen - am PC geht es schneller und man merkt sich ähnliche Stellungen bewusster. Die Ideen gehen leichter ins Hirn über. ;-)

   Die optische Gestaltung des Buches gefällt äußerlich und inhaltlich - schickes Cover, gute Leimung des großformatigen Softcovers sowie lese- und augenfreundliche Einteilungen in Kapitel und untergeordneten Abschnitte (zwei bis drei Diagramme pro Seite sind die Regel).

   Meiner Meinung nach eignet sich "Essential Chess Sacrifices" insbesondere für fortgeschrittene Schachspieler ab DWZ 1500. Schachneulinge könnten unter Umständen verwirrt sein, denn es wird wirklich viel Schachwissen auf einmal an den Mann (oder die Frau) gebracht. Günstig ist es im Idealfall, man hat die Unterstützung eines Trainers und bespricht es gemeinsam mit Freunden. Gute Englischsprachkenntnisse setzt dieser "Schachwälzer" voraus, um die Ideen und Gründe für "extravagante" Züge nachzuvollziehen. Zum Abschluss - zur Ermutigung aller Schachfreunde ab 1500 DWZ - noch eine eigene Opferpartie, die ich allerdings vor der Lektüre von LeMoir produzierte.

 










Sdunzik,J (1591) - Klyszcz,M (2078) [B80]
Goerlitz (Aeskulap-Turnier), 08.04.2004
[Analysen von Jennifer Sdunzik]

Zum Abschluss kommt ein persönliches Beispiel zur konkreten Angriffsführung, von der es im Schachwälzer von LeMoir viele professionelle Varianten ähnlicher Machart gibt ... Ich muss allerdings gestehen, dass ich zum Zeitpunkt der Partie, das Buch noch nicht verschlungen hatte, sonst wäre ich in anderen Partien des Turnieres auch taktisch gewiefter gewesen ... :-)

1.e4 c5 2.Sf3 e6 3.Sc3 a6 4.d4 cxd4 5.Sxd4 d6 6.Le3 Sf6 7.f3 Sbd7 8.Dd2 Alles verlief bis hier nach Plan, der Gegner kannte den Englischen Angriff wohl nicht so gut ... 8...Dc7 9.0-0-0 Le7 10.g4 h6 11.h4 b5 12.Lg2 Vorbereitung für g5 12...Lb7 13.g5 hxg5 14.hxg5 Sh5 15.g6! Dieser Zug schwächt sowohl Königsflügel als auch Zentrum. Beispiele für solche stillen Züge bringt "Essential Chess Sacrifices" auch. 15...Da5 16.Sb3 Dc7 17.Sd4 Mein Springer stand auf d4 eigentlich ideal, doch auf Da5 blieb mir nur Sb3 ... Remisgefahr, mein Vorteil: der Unterschied bei den DWZ-Punkten (die Wertungszahl meines Gegner war allerdings eine Elo-Zahl)! 17...Sb6 18.gxf7+ Kxf7 19.Lh3 Mit der unverhinderlichen Drohung, auf e6 zu schlagen! 19...Lc8 20.Lxe6+ Lxe6 21.Sxe6 Kxe6 22.Lxb6 Dxb6 23.Dd5+ Kd7 24.Df5+ Kd8 25.Sd5 Verstärkt die Stellung weiter, denn die Figur bekomme ich auch so wieder zurück. 25...Dc5 26.Txh5 Txh5 27.Dxh5 Tc8 28.c3 Lf6 29.Sxf6 De3+ 30.Kb1 gxf6 31.Dh8+ Kd7 32.Dxf6 Tc6 33.e5 d5 34.Txd5+ Kc7 35.Dd8+ 1-0

 

Mein Fazit: Wer in der Partie gerne zupackt, sollte auch bei diesem Buch zupacken!

 

 

Eine zweite Meinung: Rezension von Harald Fietz.

 

 

das Rezensionsexemplar stellte die Firma Niggemann (Industriestraße 10, 46359 Heiden) zur Verfügung


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