Garrys Größte Igor Stohl: Garry Kasparov's Greatest Chess Games, Volume 1 Rezension von Peter Oppitz, Februar 2006 |
Gambit 2005
ISBN 1-904600-32-8
320 Seiten; 35 Euro
Sprache: Intermediate Englisch
Bewertung des Rezensenten:
Im letzten Frühjahr schockierte Garry Kasparow nach seinem Sieg beim Turnier in Linares die Schachwelt, indem er im Alter von nur 42 Jahren seinen Abschied von Wettkampfschach erklärte. Höchste Zeit also, sein reiches schachliches Lebenswerk im Rückblick unter die Lupe zu nehmen. Offenbar hatte der Londoner Gambit-Verlag ein solches Projekt bereits bei dem slowakischen Großmeister Igor Stohl in Arbeit gegeben, denn kurz darauf erschien schon Band 1 von "Garry Kasparov's Greatest Chess Games".
Garry Kasparow. Foto: Harald Fietz
Für Kasparows Karriereabschnitt 1973 - 1993, von seiner Zeit als verheißungsvolles Jung-Talent bis zur erfolgreichen Titelverteidigung beim WM-Kampf gegen Short, hat Stohl aus ca. 800 vorliegenden Turnier- und Wettkampfpartien nun 74 für das Buch ausgewählt und anschaulich und ausführlich auf meist 3 - 4 Druckseiten erläutert. Auf den ersten Blick schon eine dicke umfangreiche Ausgabe in schöner Hardcover-Aufmachung mit Schutzumschlag, die den hohen Preis rechtfertigt.
Natürlich sind die Partien darin bestens bekannt. Wer 20 Jahre an der Spitze steht und so eindrucksvoll dominiert, dessen Werk ist oft abgedruckt, allenthalben begutachtet und vielfach kommentiert worden. Kasparow selbst hat in seinem großartigen Buch "Von der Zeit geprüft" seinen Aufstieg zum Olymp (bis 1984) und in "Weltmeisterschaft 1985" und "Ich setze auf Sieg" die WM-Matches 1985 + 1986 gegen Karpow ausgiebig dargestellt und analysiert. Seitdem ist jedoch keine umfassende Sammlung seiner Partien erschienen!
Etwas weniger vertraut sind nur die ersten (Jugend-)Partien des Buches wie etwa die folgende gegen Lputjan. Stohl schreibt dazu: "Kasparows wachsendes Verständnis für die Königsindische Verteidigung befähigte ihn, komplexe taktische Resourcen am Brett zu finden. Es ist seine erste Partie, die im Informator erschien, und die Harmonie zwischen Eröffnungsstrategie, Kampfphase und erfolgreicher Vorteilsverwertung macht sie zu einem echten Meisterstück."
Für sein vorheriges Gambit-Buch "Instructive Modern Chess Masterpieces" war Igor Stohl zurecht überschwänglich gelobt worden (dazu zwei Rezensionen, von Harald Fietz und FM Hans Wiechert), und auch beim Kasparow-Werk gefällt er als gewissenhafter und objektiver Analytiker, auch wenn die Anmerkungen diesmal nicht ganz so tief und ausschweifend ausfallen.
In einer achtseitigen Einleitung läßt er Kasparows Karriere Revue passieren, weist an den entsprechenden Punkten auf die jeweiligen Partien im Hauptteil hin und begründet, warum er ausgerechnet diese ausgewählt hat. Sogar auf die Frage, weshalb Kasparow seinen Erzrivalen Karpow als Weltmeister noch etwas überstrahlt hat und ihm in den K&K-Matches überlegen war, findet Stohl eine überzeugende Antwort!
Dann dominieren weitgehend die Schachzüge. Meist führen ein paar Zeilen in die jeweilige Turniersituation ein, Erläuterungen zum Eröffnungssystem oder Vorgängerpartien werden in gebotenem Maß angeführt. Stohl führt in einer gelungenen Mischung aus verbalen Erklärungen und Varianten durch die Partie, so daß der Leser jederzeit den wesentlichen Kampfverlauf verfolgen kann, ohne daß die Anmerkungen ausufern oder unübersichtlich werden. Wo Stohl eigene Analysen darbietet oder vorherige Urteile korrigiert, ist nicht leicht ersichtlich. Meist versieht er die Aufgabe eines Redakteurs, der aus den vielen vorliegenden Analysen abgleicht, sichtet und das Wesentliche anschaulich anführt. Und diesen Job macht er gut!
Den Titel "Greatest Games" interpretiert Stohl nicht nur als eine Sammlung der besten Partien, sondern eher als eine von Kasparows bedeutendsten Schlachten. Manch einseitiger Sturmsieg ist weggelassen. Vielmehr sind Entscheidungs-Partien aus kritischen Situationen der Karriere mit all ihren spannungsbedingten Fehlern und Irrtümern aufgenommen.
Beim WM-Kampf 1987 in Sevilla, dem schwächsten der legendären K&K-Matches, war Kasparow offenbar nicht in bester Form. Häufige Zeitnot, Probleme mit Karpows Caro-Kann und dem eigenen Grünfeld-Indisch und ein kapitaler taktischer Schnitzer in Partie 23 führten dazu, daß er die letzte Partie unbedingt gewinnen mußte, um nicht auch jüngster Ex-Weltmeister zu werden:
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Kasparov,Garry (2740) - Karpov,Anatoly (2700) [A14]
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Wir erleben im ersten Teil von Stohls Rückschau nochmals das junge Ausnahmetalent Kasparow, das mit seinem dynamischen und aggressiven Stil zum Weltmeistertitel stürmte und die Schachfans in aller Welt faszinierte und begeisterte. Da Stohl auch als Eröffnungsexperte gilt, läßt sich aus der Partienauswahl besonders viel über das damalige 1.d4-Repertoire (z.B. Damenindisch mit 4.a3) sowie Sizilianisch Najdorf und ausnehmend viel über Königsindisch lernen. Kasparow perfektionierte seinerzeit die Eröffnungsvorbereitung, setzte ständig neue Trends und bereicherte die Theorie um eine Vielzahl neuer Ideen.
Aufsehenerregend war die folgende theoretische Neuerung, auch wenn Kasparow die Partie letztlich sogar verlor. Übrigens die einzige Niederlage, die Stohl neben vier Remispartien für sein Buch ausgewählt hat.
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Jussupow,Artur (2610) - Kasparov,Garry (2775) [E92]
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Hier und da kam bereits Kritik auf, warum man denn die sattsam bekannten Partien nochmals herausgeben müsse und ob Stohl, der kein Kasparow-Intimus ist, dazu der richtige Autor sei. Dabei wird schnell vergessen, daß viele Spieler des Internet-Zeitalters zu jung sind, um Garrys kometenhaften Aufstieg und die großartigen K&K-Wettkämpfe als Zeitgenossen erlebt haben zu können. Hierfür hat Stohl eine ausgezeichnete Auswahl getroffen und mit dem entsprechenden Abstand die vorhandenen Analysen und Erkenntnisse gut zusammengestellt. Sicherlich erst einmal das Maß der Dinge, bis sich - wie angekündigt - irgendwann Kasparow höchstselbst in seiner "Predecessors"-Reihe mit seinen eigenen Partien und den K&K-Matches analytisch auseinandersetzen wird. Igor Stohls zweiter Band über den Zeitraum 1994 - 2005 soll jedenfalls bereits im März/April dieses Jahres erscheinen.
Fazit: "Garry Kasparov's Greatest Chess Games, Vol. 1" bietet eine gelungene Auswahl von 74 der bedeutendsten Kasparow-Partien des Zeitraums 1973 - 1993. Stohl analysiert objektiv und gewissenhaft und führt den Leser sehr anschaulich, übersichtlich und nachvollziehbar durch den Partieverlauf. Starke Partien, schönes Buch: absolut lesenswert!
das Buch stellte Schach Niggemann (Industriestr. 10, 46359 Heiden) für die Rezension zur Verfügung