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Blind den Durchblick behalten

Multitalent Philidor setzte nicht nur die Generäle Friedrich des Großen matt

von Harald Fietz, Januar 2002 - die Bilder wurden vom Exzelsior-Verlag zur Verfügung gestellt

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Susanna Poldauf: "Philidor - Eine einzigartige Verbindung von Schach und Musik"

Exzelsior Verlag 2001
192 Seiten, 18 EUR
ISBN 3-935800-02-9

Bewertung des Rezensenten: Bewertung 5 aus 5

 

   Als sich der Essener FIDE-Meister Achim Illner vergangenen Oktober bei "Wetten dass ...?" nach kurzer Ansicht an fünf zuvor ausgewählte Schachpositionen korrekt erinnerte, war die Fernsehnation derart beeindruckt, dass Zweidrittel der Zuschauer diese Wette zu der besten kürten. Doch das Abrufen quasi photographisch gespeicherter Stellungen ist ebenso wie das Spielen ganzer Partien ohne Ansicht des Brettes kein neues Phänomen. Im 18. Jahrhundert nahm das Blindspielen seinen Aufschwung. Kaffeehäuser und Salons in Paris und London waren berühmte Orte, an denen "der Beweis für die Kraft des menschlichen Verstandes" angetreten wurde, wie die Londoner Morning Post 1782 anlässlich einer Vorstellung des Größten seiner Zunft würdigte.

 

Francois-André Danican Philido

Francois-André Danican Philidor (1726-1795)

 

   Zu diesem Zeitpunkt waren die Begabungen und Taten des 1726 geborenen Multitalents Francois-André Danican Philidor bereits Legende. Als erfolgreicher Berufsspieler, der das grundlegende Standardwerk zur Schachtheorie verfasste, und als gefeierter Opernkomponist, der die französische Oper am Übergang vom Barock zum Klassizismus mit neuen Impulsen belebte, erregte er in ganz Europa Aufsehen. Wie in der heutigen Unterhaltungsbranche bedurfte die Darbietung solcher Künste der Odyssee über den Kontinent. Wohl das die Postkutsche seit 1750 in den "Deutschländern", wie die Franzosen das zersplitterte Reich nannten, nach einem regelmäßigen Fahrplan verkehrte. Insbesondere in Preußen waren Künstler - neben Intellektuellen - seit 1740, dem Amtsantritt Friedrich des Großen, willkommen. Im Spannungsfeld zwischen Machtpolitik und Aufklärung wollte der Monarch Berlin zum "Tempel großer Männer" machen. In der Friedenszeit 1745-56 herrschte Aufbruchsstimmung: "Mon roi agit comme il écrit", lautete ein Bonmot Voltaires während seines dreijährigen Aufenthalts an der Spree. Neue Ideen und Reformen erfassten alle gesellschaftlichen Bereiche; theoretisches Gedankengut sollte praktische Anwendung finden - auch in der militärischen Schulung.

   Und exakt hier ließ man sich von Philidors neuem Schachverständnis beeindrucken. "Die Bauern sind die Seele des Schachspiels", postulierte er 1749 in seinem Werk "L'Analyze des Echecs" mit dem Untertitel "Ludimus Effigiem Belli" - wir spielen ein Abbild des Krieges. Welch revolutionärer Gedanke! In Militärtheorie übersetzt heißt das, die Infanterie wird zum Herzstück der Kriegsführung. Dies zu verinnerlichen, fiel preußischen Generälen, die fast ausschließlich durch Adelsmonopol ins Offizierskorps rückten, noch schwer. Der Bauer, die kleinste Kampfeinheit im Schach, der niedrige Stand, sollte Garant für den Sieg sein? Eine Abhängigkeit, die vor der französischen Revolution der Führungselite geradezu paradox erschien. Einem Vergleich mit Philidor konnten sie sich indes nicht entziehen - empfahl Friedrich das Spiel doch als Bestandteil der Ausbildung.

 

Francois-André Danican Philido

Porträt Philidors von Bartolozzi (1749)
 

   So stellten sich drei exponierte Kriegsführer dem Wettstreit: Generallieutenant Friedrich Rudolf Graf von Rothenburg, Feldmarschall und Gouverneur von Berlin, James Keith, sowie Generalmajor Christoph Hermann von Manstein saßen im April 1750 dem 24-jährigen Schachgenie aus Paris gegenüber. Dieser weilte im preußischen Machtzentrum, um eine mögliche Herausgabe und Subskription seines Buches in deutscher Sprache voranzutreiben. Neben der allgemeinen Würdigung in der Berlinerischen Priviligierten Zeitung, der späteren Vossischen Zeitung, waren solche PR-Auftritte schon damals ein probates Mittel, den Ruf zu festigen.

   Chancenlos unterlagen die Generäle; das Interesse des Königs war vollends geweckt. Aber einen direkten Vergleich scheute er. Möglicherweise war es einfach die respektvolle Hochachtung vor einem Pionier, über den Bent Larsen meinte, Philidor sei seiner Zeit um 70 Jahre voraus gewesen - alle späteren Schachtheoretiker nur noch jeweils höchstens 15 Jahre. Das Erlebnis, den Meister am Hof Sans Souci gegen den Marquis de Varennes und den jüdischen Gelehrten Aaron Salomon Gumpertz spielen zu sehen, muss fesselnd genug gewesen sein. Obwohl der Franzose beiden die für heutige Verhältnisse unübliche Vorgabe von einem Springer gewährte, blieben es ungleiche Duelle.

   Die Kunde von diesen Auftritten verbreitete sich schnell im Land, und Philidor konnte nun, wie in Frankreich und England, kurzzeitig auch in deutschen Territorien den Status als Berufsschachspieler in bare Münze umwandeln. Besonders der Aufenthalt in der hessischen Residenzstadt Arolsen verschaffte ihm ein stattliches Einkommen. Aber auch seine zweite Ausnahmebegabung wurde vor zwei Jahrzehnten in der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek mit verschollen geglaubten Partiturauszügen genauer belegt.

   Philidor besaß eine umfassende musikalische Begabung, welche ihn zum Komponieren von Kirchenmotetten bis zur Oper befähigte. In seiner intensivsten Schaffensphase zwischen 1760 und 1770 schuf er zwölf Opern, die heute zu entdecken ein lohnendes Abenteuer sein kann. In Berlin feierte die Neuköllner Oper in dieser Spielzeit mit einem Hauptwerk, "Tom Jones" nach dem Schelmenroman von Henry Fielding, eine umjubelte Aufführung der Operngattung, die als Opéra Comique bekannt wurde. Eines der drei großen Opernhäuser der Bundeshauptstadt führt gar den Namen "Komische Oper". Wie beim Schach war Originalität der Schlüssel zum Erfolg: Der Sologesang der barocken Da-Capo-Arie wurde geopfert zugunsten einfach gegliederter Lied-Arien. Mehrere Solisten konnten gleichzeitig nebeneinander wirken - wie die Bauern auf einem Schachbrett.

 

Titelblatt der Partitut zur Oper Tom Jones

Titelblatt der Partitut zur Oper Tom Jones
 

   Und das königliche Spiel rettete Philidor den Lebensabend. Als in Revolutionszeiten die komische Oper nicht mehr gefragt war, gelang es, die Existenz in den Clubs im Londoner Exil zu sichern. Die dritte Auflage seines Buchs schaffte zudem eine schmale materielle Basis, der Eintrag in die Emigrantenliste stellte nach der Hinrichtung Ludwig XVI 1793 aber ein unüberwindbares Hindernis für die Rückkehr dar. Die Trennung von Frau und Kindern blieb bis zu seinem Tod 1795 endgültig. Blindes Wirken der Geschichte für den Mann, der blind den Überblick behielt.

   Soweit einige markante Lebensstationen eines Ausnahmekönners, über den sicher jeder einiges weiß, dessen Leben und Wirken im Umfeld vieler großer Persönlichkeiten des 18. Jahrhunderts bisher allerdings nicht umfassend dokumentiert und kommentiert war. Diese Lücke ist jetzt geschlossen. Mit dem im Berliner Exzelsior Verlag erschienenen Buch "Philidor - Eine einzigartige Verbindung von Schach und Musik" gelang der Berliner Kulturwissenschaftlerin Susanna Poldauf der Spagat, eine Biographie zu schreiben, die beide Domänen des großen Franzosen gleichberechtigt vor dem ideengeschichtlichen Hintergrund des Zeitalters der Aufklärung würdigt. Aufbauend auf einer 1998 an der Berliner Humboldt-Universität eingereichten Magisterarbeit wurden zudem - unter Mitwirkung von IM Dirk Poldauf, dem Bruder der Autorin, - auf 17 Seiten einzelne Analysen des Buches von 1749 überprüft und sechs Partien aus Philidors letzter Lebensphase aufgenommen. Erst ab 1783 sind Partien von ihm erhalten, so dass über seine praktische Spielstärke zur Zeit der Formierung seiner strategischen Prinzipien kein unmittelbarer Rückschluss möglich ist.

 

Susanna Poldauf

Susanna Poldauf
 

   Dies ist auch nicht der primäre Anspruch des Werkes. Vielmehr leuchtet Susanna Poldauf die entscheidenden Lebensphasen und -stationen des Meisters aus und spürt in thematischen Kapiteln Erklärungen nach, warum sich Talent in lebenslange Passion wandelte, wie künstlerischer und spielerischer Anspruch mit geschäftlicher Notwenigkeit in Einklang gebracht wurde und wer diese Prozesse stimulierte und förderte. Eingebettet in detailreiche Beschreibungen von Örtlichkeiten und Szenerien werden zudem die "Wanderungen" der Mehrfachbegabung zwischen europäischen Machtzentren und ihren kulturellen Spielstätten, den Kaffeehäusern, Salons, Clubs und Opernhäusern, chronologisch nachvollzogen. In knapp sieben Jahrzehnten vorzog sich manche Entwicklung: von der Doppelbegabung des Wunderkindes, dem Aufstieg als Schachspieler und Blindschachvirtuose in der Pariser Szene, dem Leben als Schachboheme in Amsterdam, London, Aachen, Berlin/Potsdam und anderen Höfen, der Verteidigung einer Schachtheorie, den Jahren intensiven Komponierens, der Rückkehr zum Schachprofitum, der Auseinandersetzung mit dem ersten Schachautomaten und dem erzwungenen Exil. Außerdem was es eine Umbruchzeit des Wissens: Leibnitz'sches Streben nach einer Universaltheorie prägte wissenschaftliche und philosophische Diskussionen. Allerorts suchte man, allgemeingültige Prinzipien und Regeln für Zusammenhänge von Dingen zu schaffen. Philidor gebührt das Verdienst, Elemente und Phasen des Schachspiels in ein systematisches Gedankengebäude fassen zu wollen. Stärken und Schwächen seines Ansatzes werden ausführlich gegenübergestellt.

   Die Spurensuche gelingt, weil sich das Werk nicht nur auf Schachinhalte beschränkt, sondern - unter Zitierung zahlreicher Originalquellen aus Schachliteratur, wissenschaftlichen Abhandlungen, Lebensbeschreibungen, Briefen und Zeitungen - den Bogen zu Berührungspunkten mit anderen zeitgenössischen Theorien und Künsten spannt. Die Stärke des Buches liegt zwar darin, zu zeigen, wie sich der Hang zum Perfektionismus und zu absoluten Erklärungsmustern auf einzelnen Gebieten auswirkte, doch wird nicht vergessen, zu interpretieren, welche Wechselwirkungen zu orten sind. Schach und Musik sind Sphären, die insbesondere im Schaffensprozess Parallelen aufweisen:
 

   Obwohl Schachspieler gemeinhin in ihrem "Revier" bleiben, sollte man den Einblick in eine Welt wagen, in der das königliche Spiel noch den Glanz breiterer gesellschaftlicher Aufmerksamkeit genoss. Wer seiner Umgebung heute nicht nur ein obstinates Erscheinungsbild des Schachsports liefern will, und Argumente für den ursprünglichen Reiz des Spiels sucht, ist hier genau richtig. Der gefällig gebundene Band sollte auf den eigenen Nachtisch - ob daheim oder auf Reisen (man studiere für die Trickkiste des Schnellschachfinish besonders die immer wieder gefragten Endspielführungen Turm gegen Turm und Läufer und das Läufer-Springer-Matt im Analyseteil!). Das Buch eignet sich auch vorzüglich als Geschenk für jene, die unsere Leidenschaft für das Spiel zwar vage erahnen mögen, aber nichts von seiner glorreichen Tradition kennen.


Kurzum: Pflichtlektüre für alle, die mehr wollen als A07 oder B85!

Zielgruppe: Alle Schachfreunde unabhängig von der Spielstärke, die sich für den Menschen hinter dem Spieler interessieren.

Besonderheit: Das Werk betritt an vielen Stellen Neuland, führt Quellen zusammen und interpretiert Sachverhalte unter neuen Fragestellungen. Aufgrund der jahrelangen Beschäftigung mit dem Thema ist es gelungen, nicht nur das Einzelschicksal Philidors zustellen, sondern kulturelle, soziale und politische Hintergründe seiner Zeit und das Wirken bedeutender Persönlichkeiten, mit denen dieser den Weg kreuzte. Insofern wurde nicht nur eine Wissens- und Erkenntnislücke geschlossen, sondern ein Standard hinsichtlich Schachbiographien gesetzt, den zu erreichen sich andere Autoren ziemlich anstrengen werden müssen.


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