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Schachkönner müssen auch berühren können

Figos Schach-Klassiker Teil 2

von Harald Fietz, Januar 2004

Rezensionen von Harald Fietz

 

   Typen braucht jeder Sport; selbst Mannschaftssportarten ehren jährlich die besten Einzelkönner. Der Schachsport ist besonders prädestiniert, das beispielhafte Werk eines Heroen mit seinen Höhen und Tiefen einzugrenzen. Lebensumstände, zeitgeschichtliche Kontexte und gelungene Produktionen auf den 64 Feldern können in der Darstellung anschaulich verwoben werden. Das Genre gestaltet sich aber höchst unterschiedlich: Manchmal liegen Autobiographien oder eigene Partiesammlungen vor, andermal erinnert ein Zeuge aus dem Umfeld oder ein zeitlich entfernter Analytiker an herausragende Begegnungen und ihre Bedeutung für die Schachgeschichte.

   Es gibt keine objektiven Kriterien, warum einen ausgerechnet dieser oder jener Spieler in Bann zieht. Zu mannigfach können die Beweggründe sein: Ein nachhaltiger Tipp von einen Schachlehrer in der Jugend, ein zufälliges Stoßen auf einem Spieler, der ein bestimmtes Eröffnungsrepertoire anwendet oder dessen Spielstil durch eine viele spektakuläre Taten anzieht, ein latentes historisches Interesse, warum dieser Schachgröße eine besonders bemerkenswerte Karriere gelang, oder ein bewusstes Suchen nach einem Ausnahmekönner, der als Modell für das eigenen Streben nach schachlichem Erfolg dienen soll. Manche brauchen ihre Helden nur in der Zeit des schachlichen Heranwachsens, andere finden früher oder später ein lebenslanges Studienobjekt. Auf alle Fälle muss das Vorbild durch seinen sportlichen Leidensweg einen emotionalen Bezug schaffen, um zu mehr zu taugen, als der nüchternen Einsicht, einen großen Klassiker zum Studium vor sich zu haben.

 
Isaak und Wladimir Linder: Schachgenie Lasker  

Isaak und Wladimir Linder "Schachgenie Lasker"
Sportverlag 1991 (nur noch antiquarisch erhältlich)

   Der einzige deutsche Weltmeister ist ein Titan schlechthin! Multitalent auf den Gebieten verschiedener Denksportarten, der Mathematik, der Philosophie, der Schriftstellerei und als gesellschaftlicher Kommentator. Zwei Stationen seiner langen Spielpraxis faszinierten mich besonders: Die zähe Aufholjagd gegen die 20 bzw. 24 Jahre jüngeren Himmelstürmer Capablanca und Aljechin in St. Petersburg 1914 und das erfolgreiche Comeback 1923/24/25 nach dem Verlust des Weltmeistertitels 1921. Die Lasker-Forschung erlebte jüngst einen gewaltigen Aufschwung und die definitive Biographie steht noch aus. Aber das Buch der Moskauer Schachhistoriker bringt einem auf 280 Seiten in solidem Erzählstil mit 50 Partien und zahlreichen Stellungen den unvergleichlichen Weg und das Denken des Schachgenies auf und abseits vom Brett nahe.

 

 

Hans Kmoch: Rubinstein

John Donaldson, Nikolay Minev: Akiba Rubinstein (1)

John Donaldson, Nikolay Minev: Akiba Rubinstein (2)

 

Hans Kmoch "Rubinstein gewinnt! Hundert Glanzpartien des großen Schachkünstlers"
Edition Olms 1981 (nur noch antiquarisch erhältlich)

John Donaldson / Nikolay Minev "Akiba Rubinstein: Uncrowned King"
International Chess Enterprises 1994 (nur noch antiquarisch erhältlich)

John Donaldson / Nikolay Minev "Akiba Rubinstein: The Later Years"
International Chess Enterprises 1995 (nur noch antiquarisch erhältlich)

   Das Schicksal von Akiba Rubinstein ist von unglaublich lichten ebenso wie von trüben Momenten geprägt. Vielleicht sind es gerade diese eigentümlich gegensätzlichen Schaffensperioden, die ihn zu einem reizvollen Vorbild machen. Allein die ästhetische Schönheit der Duplizität des Damenzugs Dd1-c1 in den Partien gegen Lasker (18. Zug St. Petersburg 1909) und gegen Capablanca (17. Zug San Sebastian 1911) gereichen, ihm einen Meilenstein in der Schachgeschichte zu setzen. Aber Rubinstein gelangen zeitlebens für kreative Innovationen in Eröffnung, Mittelspiel und vor allem dem Endspiel.

   Der Anlass des ursprünglich 1933 erschienen Kmoch-Buchs war jedoch ein tragischer; verarmt lebte der Pole - seit seinem letzten Turnier in Rotterdam 1932 - in Belgien, wo er 1961 starb. Die Wiener Schachzeitung wollte mit der Herausgabe seiner Glanzleistungen finanzielle Unterstützung betreiben. Ende des 20. Jahrhunderts legten der Amerikaner Donaldson und der gebürtige Bulgare Minev eine partien- und faktenreiche, zweibändige Biographie vor, die wohl kaum zu übertreffen sein wird.

 

 

 
Mikhail Tal: The Life and Games of Mikhail Tal  

Mikhail Tal "The Life and Games of Mikhail Tal"
Cadogan Chess 1997

Joe Gallagher "The Magic of Mikhail Tal"
Everyman Chess 2000

   Der Hexer aus Riga bleibt unvergleichlich. Sein Aufstieg kometenhaft, sein WM-Erfolg ein Plädoyer für Angriffsschach, seine Laufbahn durchzogen von spektakulären Meisterleistungen. An diesem Lebenswerk kommt keiner vorbei - gleich welche Art von Schach er bevorzugt. Seine 1997 wieder aufgelegte Autobiographie aus dem Jahre 1976 wurde von John Nunn und Murray Chandler durchgesehen und macht auf fast 500 Seiten den Meister bis 1974 durch die eigene Brille sichtbar. Die restlichen Jahre des 1992 verstorbenen Letten, der lange Zeit in Köln eine zweite Heimat fand, breitet Joe Gallagher in einer sympathischen-kritischen Würdigung aus. Da der englisch-schweizerische Großmeister ebenfalls ein verwegener Draufgänger ist, hätte kein besser Autor gefunden werden können!

 

Joe Gallagher: The Magic of Mikhail Tal

 

 
Gufeld, Lazarev: Leonid Stein - Master of Risk Strategy  

Gufeld, Eduard / Lazarev, Efim "Leonid Stein - Master of Risk Strategy"
Thinkers Press 2001

   Er starb zu früh und seine Leistungen verdienen, - ähnlich wie Rubinsteins Taten - einen würdigen Platz in den Annalen der Weltmeisteranwärter zu erhalten. Ausgestattet mit einem feinen Gespür für die Balance zwischen Risiko und Solidität trug der Ukrainer viel zur Entwicklung des dynamischen Schachstils sowjetischer Prägung bei, was vor allem in vielen Partien mit sizilianischen, spanischen und königsindischen Eröffnungen neue Wege aufzeigte. Auf der Grundlage eines 1978 in der Ukraine erschienen Buchs und dem Band aus der berühmten "schwarzen Reihe" großer Persönlichkeiten des Sowjetschachs (von 1980) haben Gufeld und Lazarev mit Unterstützung des Teams von Herausgeber Bob Long vom Thinkers Press Verlag eine ansprechend gestaltete, aktualisierte Ausgabe ins Englische übertragen. 61 Partien, etliche Endspielstellungen und unbekanntes Bildmaterial bieten ein facettenreiche Porträt des dreimaligen Landesmeisters. Ein "Geheimtipp"!

 

 
Lew Polugajewski: Aus dem Labor des Großmeisters (2)  

Lew Polugajewski "Aus dem Labor des Großmeisters - 2. Teil"
Rau-Verlag 1984 (nur noch antiquarisch erhältlich)

   Der 1994 in seiner neuen Heimat Paris verstorbene mehrfache Weltmeisterschaftsanwärter legte Anfang der 80er Jahre zwei spannende Insiderberichte über die Arbeit eines Großmeisters unter Bedingungen des großen Konkurrenzdruck innerhalb des Machtgebildes der Schachmacht Sowjetunion vor. Während der erste Teil über die "Erfindung" und Anwendung der sizilianischen Polugajewski-Variante handelt (und heute eher als eröffnungstheoretisches Relikt von Interesse ist), widmet sich der zweite Teil den ungeheueren Mühe wichtiger Abbruchstellungen. Ja, es geht um schlaflose Nächte zu einer Zeit, als Hängepartien noch über ein Turnierschicksal entschieden. Polugajewski versteht es, mit wortreichen Ausführungen die Zuspitzungen zu schildern und den schachlichen Gehalt knapper Endspiele nahe zu bringen. Außerdem gibt es einige seiner besten Partien aus Zugabe. Eine 135-Seiten-Beichte, die mehr verzaubert als manche Partiensammlung berühmter Spieler.

 

 
Anatoli Karpow: Wie ich kämpfe und siege  

Anatoli Karpow "Wie ich kämpfe und siege"
Schmaus-Verlag 2. Aufl. 1984 (nur noch antiquarisch erhältlich)

   Als Fischer abseits im Schmollwinkel saß, kam die Zeit des Vorzeigerussen Anatoli Karpow. Auch seinen Stil durchdrang eine bestechende Klarheit und Logik. Mit 33 Jahren spielte er noch überwiegend 1.e4 und stand der breiter werdenden Schachspitze in der Ära des Fischer-Booms vor. Sicher ist diese Zwischenbilanz an vielen Stellen in den Analysen und Betrachtungen tiefer als spätere Zusammenstellungen. Auf alle Fälle 60 Partien, die jede für sich anschauliche Lehren über Kampfeinstellung und Schachtechnik vermitteln. Pflicht für Turnierspieler!

 

 
Alexei Shirov: Fire on board - Shirov's best games  

Alexei Shirov "Fire on board - Shirov's best games"
Cadogan Chess 1997

   Der legitime Nachfolger des Angriffszaubers Tal legt im Alter von 25 Jahren eine Schau seiner bis dahin besten Partien, Endspielleistungen und Forscherleistungen in der slawischen Botwinnik-Variante vor. Trefflicher als "Feuer auf dem Brett" konnte diese Sammlung einfach nicht benannt werden. Wohltuend gilt es hervorzuheben, dass hier tiefe Analysen mit vielen textlichen Erklärungen zu Geschichten um die Begegnungen, zu Entscheidungsfindungen und psychologischen Erwägungen einhergehen. 82 Partien und zahlreiche Fragmente bieten Schachinspiration ohne Ende. Wie dick wird wohl der Band sein, den der Lette mit spanischen Pass zu seinem 50. Geburtstag herausbringen mag?


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