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Diktator Kasparow verhalf zu mehr Demokratie

Matthias Wüllenweber über die Computerisierung des Schachs in der Ära des 13. Weltmeisters

von Hartmut Metz, November 2000

mehr Schachtexte von Hartmut Metz


Matthias Wuellenweber am Computer

Matthias Wüllenweber und "Fritz" kreuzten bereits die Klingen mit dem neuen Weltmeister Wladimir Kramnik

 

   Garri Kasparow hat das königliche Spiel in eine neue Dimension geführt. Als erster Großmeister arbeitete der 13. Schach-Weltmeister intensiv mit Eröffnungsdatenbanken. Anstatt Tonnen von Büchern mit zu Zweikämpfen schleppen zu müssen, reicht heutzutage ein paar hundert Gramm leichter Laptop, um dank der darauf katalogisierten ein bis zwei Millionen Partien gegen jeden Gegner gewappnet zu sein. Die Grundlagen hierfür schuf Matthias Wüllenweber anno 1986 mit der Erfindung von ChessBase. Mit dem 39-jährigen Software-Entwickler aus Hamburg sprach Hartmut Metz.

Frage: Herr Wüllenweber, wer hat den Schachsport mehr revolutioniert: Sie mit der Erfindung der Datenbank ChessBase oder Garri Kasparow mit der extensiven Nutzung und den daraus gezogenen Vorteilen?

Matthias Wüllenweber: Manche Ideen liegen zu einem bestimmten Zeitpunkt einfach in der Luft, und irgendjemand stolpert dann zufällig darüber. Ohne die positive Reaktion Kasparows auf die erste Programmversion und sein Drängen auf Weiterentwicklung in der frühesten Phase wäre ChessBase nie zu Stande gekommen.

Frage: Kasparow war der erste Großmeister, der die Vorteile damals erkannte. Befruchteten Sie sich gegenseitig in der Anfangsphase?

Wüllenweber: Ich bin selbst nur ein mittelmäßiger Vereinsspieler. Eröffnungstheorie und Mittelspiel-Analysen faszinierten mich immer, und wie Zehntausende von anderen Amateurschachspielern habe ich Dutzende von Schachbüchern durchgearbeitet. Für viele Funktionen von ChessBase war jedoch darüber hinaus Verständnis für die Arbeitsmethoden eines Großmeisters notwendig. Hier hat Garri Kasparow entscheidend geholfen.

Frage: Zu welchen Veränderungen führte Ihre Erfindung?

Wüllenweber: Eröffnungs- und Gegnervorbereitung im Schach bedeutete vor dem Einsatz von Computern eine erhebliche Fleißarbeit mit Papier-Archiven. Starke sowjetische Spieler waren im Vorteil, weil sie sich staatlich geförderte Sekundantenteams leisten konnten und gemeinsam analysierten. Datenbanken haben eine Art Demokratisierung eingeleitet, die jedermann den Zugriff auf alle relevanten Partien erlaubt. Außerdem sind Schachprogramme wie „Fritz" Analysepartner auf höchstem Niveau geworden. Deswegen bringen heute auch Länder ohne schachliche Tradition und staatliche Förderung starke Großmeister hervor. Insgesamt hat sich das Ost-West-Gefälle im Schach deutlich nivelliert.

Frage: Garri Kasparow war anfangs Ihr bester Werbeträger.

Wüllenweber: Das hat uns in der Gründungsphase sehr geholfen, und ich bin dafür dankbar.

Frage: Ihr Kompagnon bei ChessBase, Frederic Friedel, galt immer als Kasparow-Freund. Mittlerweile scheint das Verhältnis abgekühlt, dafür jenes zum indischen Weltranglistendritten Viswanathan Anand herzlicher. Haben sich die ChessBase-Eigner und Kasparow auseinander gelebt?

Wüllenweber: Frederic Friedel und Anand sind gut befreundet. Das ist in der Schachwelt bekannt. Wenn Anand anlässlich großer Turniere wie Frankfurt und Dortmund in Deutschland ist, kommt er regelmäßig ein paar Tage nach Hamburg. Dabei hilft er uns bei der Weiterentwicklung des Schachprogrammes Fritz. Kasparow hat neben seinen repräsentativen Pflichten zahlreiche geschäftliche Interessen und damit wenig Zeit für mußevolle Ausflüge nach Hamburg. In softwaretechnischen Fragen stehen wir nach wie vor in Kontakt.

Frage: Liegt´s am schwierigen Charakter des Ex-Weltmeisters? Manch einer, der ihm nicht mehr nutzte oder als Sündenbock abgestempelt wurde, schied aus seinem Freundeskreis.

Wüllenweber: Garri Kasparow dominiert Schach seit 15 Jahren, mehr noch als Bobby Fischer in seiner Ära. Ehrgeiz und Leistungsbereitschaft einer solchen Persönlichkeit stellen hohe Anforderungen an ihren Umkreis, die nicht jeder über Jahre erfüllen kann. Von seinen ausgeschiedenen Sekundanten heißt es, sie alle hätten die schachliche Zusammenarbeit als unerschöpflich bereichernd empfunden. Weil Schachspieler Gegner nicht lieben, gegen die sie immer verlieren, kann der Stärkste nie „everybodies darling" sein.

Frage: Welche historische Rolle wird Garri Kasparow zukommen: Die des Weltmeisters, der das Schach mit Computern in eine neue Dimension führte? Oder die des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nicht mehr loswurde? Als erster Champion unterlag der Russe der IBM-Maschine Deep Blue 1997 in einem Wettkampf.

Wüllenweber: Für mich ist Kasparow der bedeutendste Schach-Weltmeister aller Zeiten. Er hat wie alle starken Großmeister in privat organisierten Schaukämpfen Partien gegen verschiedene Computer gewonnen und verloren. Die wirkliche Auseinandersetzung Mensch gegen Maschine unter realistischen Turnierbedingungen steht noch bevor.

Frage: Kasparows Bezwinger galt lange Zeit als Computer-Muffel. Hatten Sie Wladimir Kramnik angesichts dieses Mankos Siegchancen in dem WM-Kampf eingeräumt?

Wüllenweber: Kramniks Sekundanten Miguel Illescas und Joel Lautier sind seit Jahren erfahrene Computeranwender. In der aktuellen ChessBase-Version stecken ein halbes Dutzend Verbesserungen, die auf Vorschläge Lautiers zurückgehen. Vielleicht hatte Kasparow einen Erfahrungsvorsprung in der rechnergestützten Analyse scharfer Eröffnungen wie der Najdorf-Variante. Diese wurden ja vom Herausforderer geschickt vermieden.

Frage: Bei den Frankfurt Chess Classic im Juni hatte Ihr Programm Fritz on Primergy - die Nummer eins der Computer-Weltrangliste - den neuen Weltmeister auf der Schippe. Am Schluss unterlag das ChessBase-Produkt unnötig mit 0,5:1,5. Damals äußerten Sie, ein Match gegen Kasparow sei die große Herausforderung. Gilt das immer noch?

Wüllenweber: Bekanntheit und Charisma Kasparows sichern jedem seiner Auftritte größtes Medieninteresse. Deswegen darf in einem Match gegen ihn auch der Gegner hoffen, sich ein wenig in diesem Glanz zu sonnen. Vor allem kommt sein oft wagemutiger Spielstil den im taktischen Rechnen guten Computern mehr entgegen als das kontrollierte Positionsschach Kramniks. Dabei ist er selbst stark genug, um auch schon mal tiefer als die Maschine zu sehen, was spektakuläre Partien verspricht.

Frage: 99 Prozent der Schachspieler haben heute schon keine Chance mehr gegen CDs, die für unter 100 Mark zu kaufen sind. Wann werden alle Menschen vor der künstlichen Intelligenz kapitulieren müssen?

Wüllenweber: Menschen sind lernfähige Wesen, die sich auf die typischen Schwächen von Computerschachprogrammen im strategischen Bereich einstellen können. Das wird den besten Großmeistern noch etwa drei bis fünf Jahre die Oberhand sichern. Wir selbst arbeiten derzeit verstärkt am Problem der „künstlichen Dummheit". Maximale Spielstärke ist nur in der Analyse interessant, frustriert jedoch in einer normalen Partie. Deswegen versucht unser neuestes Programm, „Schach dem Schweinehund", typische menschliche Schwächen und Fehler nachzubilden. Schach ist schließlich ein Spiel und soll als solches auch gegen den Computer Spaß machen.

Frage: Garri Kasparow äußerte einst: „Wenn ein Computer den Weltmeister schlagen kann, dann kann er die besten Bücher der Welt lesen, die besten Stücke schreiben und alles über Geschichte, Literatur und Menschen kennen." Nur ein weiterer Irrtum des entthronten Weltmeisters?

Wüllenweber: Menschen und Computer würden diese Aussage verschieden interpretieren. Aus Computersicht hat Kasparow völlig Recht. Rechner lesen die besten Bücher der Welt - oder kennen Sie einen Verlag, der noch in Blei setzt? Und das Internet speichert längst einen wesentlichen Teil unseres Wissens. Diese Leistung der Maschinen ist nützlicher und kulturell bedeutender als die Fähigkeit, vielleicht langweilige Romane schreiben zu können.

Frage: Kasparow hat es aber sicher vollmundiger gemeint. Glauben Sie, dass er nach der Niederlage dem Schach erhalten bleibt und weiter den Einsatz von Computern forciert? Sein neuestes, erfolgreiches Kind ist die Webseite kasparovchess.com.

Wüllenweber: In diesem Wettkampf war Kasparow in schlechter Form. Viele Schach-Weltmeister haben sich ihren Titel im nächsten Match zurückgeholt. Die schädliche Spaltung zwischen Kasparow und dem Weltverband FIDE, die er selbst leichtfertig provozierte, stellt eine Komplikation dar, doch er liebt das Schach zu sehr, um einfach in den Ruhestand zu treten. Der jetzt von ihm abgefallene Druck, sich ständig als Weltmeister legitimieren zu müssen, wird aus meiner Sicht neue Kreativität freisetzen und sein Webunternehmen Kasparov.com soll gewiss davon profitieren.


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