Startseite Rochade Kuppenheim

Die „Welt" spricht für Anand

Schirow gewinnt aber durch famoses Spiel Fürsprecher vor dem WM-Finale

von Hartmut Metz, Dezember 2000

mehr Schachtexte von Hartmut Metz


   „Das Wörtchen Welt war für mich dieses Jahr gut - vielleicht kann ich das in Teheran fortsetzen", hofft Viswanathan Anand auf den „Grand Slam". Der indische Schach-Großmeister gewann 2000 den Welt-Blitzcup in Warschau, die Schnellschach-Weltmeisterschaft in Frankfurt und den Weltcup im chinesischen Shenyang. Von Mittwoch bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag will der „Tiger von Madras" in Teheran seine Leistungen der vergangenen Monate im Finale der Weltmeisterschaft des Weltverbandes FIDE krönen.

   Vor Beginn der WM in Neu Delhi galt der Weltranglistendritte als der Favorit. Souverän trotzte der ehemalige indische Sportler des Jahres dem gewaltigen Interesse der Medien an seiner Person - das Fernsehen berichtete zum Teil live über die Partien - wie seinen Gegnern. Nur Titelverteidiger Alexander Chalifman (Russland) stürzte Anand im Viertelfinale in einer Begegnung in Nöte. Doch in der Verlängerung des Schnellschach-Tiebreaks zog der 31-Jährige den Kopf aus der Schlinge. Auch im anschließenden Halbfinale blieb Anand ungeschlagen, obwohl der Engländer Michael Adams als zäher Brocken gilt. Ein Sieg mit Weiß, das war's. Die restlichen drei Partien wickelte der Topgesetzte gegen den Weltranglistenfünften mit kühler Arithmetik ins Remis ab.

   Ganz anders sein Endspiel-Kontrahent: Alexej Schirow ist ein Hasardeur auf dem Brett. Die Nummer eins von Bundesliga-Tabellenführer Lübeck setzt mit seinen geistreichen Kombinationen das Brett in Flammen, selbst wenn ihm hie und da ein Unentschieden gereicht hätte. Gegen Alexander Onitschuk (Ukraine), Michail Gurewitsch (Belgien), den Israeli Boris Gelfand und Jewgeni Barejew (Russland) musste er in die Verlängerung. Die gewann der Wahl-Spanier jedoch ausnahmslos mit 2,5:1,5. Dasselbe Resultat nach vier Turnierpartien gelang dem 28-Jährigen auch in der Vorschlussrunde. Wie ein Tornado wollte der „Hexer von Riga" in nur drei Begegnungen über den 17-jährigen Alexander Grischuk hinwegfegen, um nach 15 Tagen endlich einen Ruhetag zu erhalten. Doch ein Anfängerfehler kostete ihn Partie zwei. Auch nach der 2:1-Führung stand das Match wieder auf der Kippe, ehe Schirow mit einem diabolischen Trick dem jungen Russen, der sich in die Top 20 der Weltrangliste katapultierte, ein Remis abluchste. Der Schnitzer im 30. Zug kostete Grischuk 65.000 Mark. 300.000 Mark sind aber immer noch ein Vielfaches von dem, was der Weltmeister von übermorgen bisher verdiente.

   Von den 3,5 Millionen US-Dollar, die der kalmückische FIDE-Präsident Kirsan Iljumschinow mangels Sponsoren aus seiner Privatschatulle ausschüttet, erhält der neue Weltmeister rund 1,1 Millionen Mark. Mit weniger als einem Fünftel musste sich dagegen die alte und neue Damen-Weltmeisterin Xie Jun, die Qin Kanying (beide China) mit 2,5:1,5 schlug, begnügen. Der Verlierer von Teheran darf sich mit fast 700.000 Mark trösten. Dass das Schirow nach sechs Partien sein wird, scheint den Experten nicht mehr so sicher. Die Gesamtbilanz von zehn Siegen und nur fünf Niederlagen (bei 29 Unentschieden) spricht zwar für Anand, doch in den Turnierpartien dieses Jahr steht Schirow mit einem Erfolg und einem Remis zu Buche. Auch beim olympischen Demonstrationswettbewerb diktierte der Weltranglistensechste eher das Geschehen, gleichwohl das Match in Sydney 1:1 endete.

   Während Grischuk seinem Vorbild Schirow die Daumen drückt, sieht Adams seinen Bezwinger Anand im Vorteil. „Ich rechne aber dennoch mit einem knappen Ergebnis", ergänzt der Engländer. Anand spricht nur vom „großen Knaller" im Finale und hält sich bezüglich seiner Chancen gewohnt bedeckt. Derweil schiebt Schirow seinem Kontrahenten in der iranischen Hauptstadt die Favoritenrolle zu. „Er ist frischer und sehr gut vorbereitet, während ich von Turnier zu Turnier hetzte. Das ist der Hauptunterschied." Der FIDE-Turniere boykottierende Weltranglistenerste Garri Kasparow kommentiert aus der Ferne via Internet, die „Psychologie" entscheide und er sei sich nach dem bisherigen Verlauf nicht mehr sicher, dass Anand gewinne. Ja, der Wolf hat sogar Kreide gefressen und schwelgt in höchsten Tönen über das wagemutige Spiel Schirows, der ihn wegen eines verweigerten WM-Duells hasst.


zur Meko