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Die "polnische Violine" beklagt fehlende Musik

Timo Boll und die Fans schätzen die kurzen Sätze bis elf

von Hartmut Metz


   „Das Spiel hat seine eigene Musik verloren", findet Andrzej Grubba, "Einleitung, Hauptteil und Schluss gibt es nicht mehr." Kein falscher Akkord beleidigt dabei das Ohr der "polnischen Violine", wie ihn die Bibel der Pingpong-Artisten, "Table Tennis Legends", bezeichnet. Nein, den ehemaligen Weltklassespieler stört die neue Zählweise im Tischtennis bis elf. Der Trainer von Meister TTC Grenzau mag auch nach Ende der Vorrunde keine kürzeren Sätze, obwohl sein Quartett erneut mit 18:0 Punkten die Bundesliga-Tabelle souverän anführt.

   „Ich traf einst einen US-Amerikaner. Der wusste von Tischtennis nicht viel: Die Bälle sind weiß, der Tisch grün und jeder Satz geht bis 21. Selbst die Tische sind mittlerweile blau und die Bälle orange", klagt Grubba. Dem Traditionalisten gehen die Veränderungen nach 100 Jahren Konstanz zu rasch. "Das war eine Revolution. Größere Bälle im Vorjahr, anstatt zwei Gewinnsätze bis 21 nun drei bis elf und alsbald werden die Aufschläge weiter reglementiert. Wir im Profibereich können damit leben. Ein guter Spieler bleibt ein guter Spieler, aber die Basis kann sich nicht mehr mit Tischtennis identifizieren", glaubt der oberste Übungsleiter an der Tischtennisschule Zugbrücke Grenzau.

   Das Gros der Klubspieler hat sich inzwischen jedoch mit den kürzeren Sätzen arrangiert. Die angedrohte Austrittswelle blieb beim Deutschen Tischtennis-Bund (DTTB) aus. Gingen anfangs 500 Protest-E-Mails pro Woche ein, ist es inzwischen nur noch eine. Es murren nur noch Taktiker, die bei fünf anstatt zwei eigenen Aufschlägen ihr Spiel durchdachter aufziehen können, meint Pavel Levine. "Bis 21 war Tischtennis berechenbarer", urteilt der russische Trainer der DJK Offenburg.

   Jörg Roßkopf macht kein Hehl aus seiner Abneigung. Das 32-jährige deutsche Aushängeschild schätzt die "vielen Überraschungen" überhaupt nicht. Gewiss trugen auch viele Verletzungen zu seiner negativen Bilanz bei - aber an 6:8 Einzelzähler in der Bundesliga kann man sich bei dem Ex-Europameister kaum erinnern. Verächtlich klingt es, wenn der arrivierte Weltranglistenelfte auf die Dutch Open verweist, bei denen sich ein 51 Plätze tiefer notierter Pole durchsetzte: "Wenn einer wie Krzeszweski ein internationales Turnier gewinnt, zeigt das, dass jeder jeden schlagen kann."

   Leidtragender der Sensation war Timo Boll. Roßkopfs Mannschaftskamerad beim Tabellendritten Gönnern, der in der Bundesliga im vorderen Paarkreuz glänzende 13:3 Einzelpunkte verbuchte, zählt trotz der Final-Niederlage in Rotterdam gegen Tomasz Krzeszweski zu den Befürwortern der elf Punkte. "Die Spiele sind spannender. Für mich ist die Zählweise auch positiv, weil ich keiner bin, der bei 10:10 die Zitterhand bekommt", verweist der 20-jährige Weltranglisten-15. vor allem auf die Eigenschaft, die nun mehr denn je gefragt ist: Nervenstärke.

   Aller Lamenti zum Trotz wurde Tischtennis für das Publikum attraktiver. Begann ein Satz, holte sich der gemeine Zuschauer noch rasch ein Brötchen, plauschte mit dem Nachbarn hier oder einem Bekannten dort. Erst wenn die Spieler an 15, 16 Punkte heranrückten, wuchs die Aufmerksamkeit. "Jetzt sind die Fans von Anfang an dabei", registrierte Boll angesichts der um rund ein Achtel reduzierten Spielzeit. Drei Viertel der Zuschauer lobten die neue Zählweise bei einer Befragung während der German Open in Bayreuth. Nur 2,8 Prozent finden, Tischtennis sei "langweiliger" geworden. Die zwölf Prozent, die die schnellste Ballsportart jetzt für "unübersichtlicher" halten, will der Präsident des Weltverbandes ITTF, Adham Sharara, mit einer weiteren Reform überzeugen. Die ständige Wechselei in den Doppeln könnte nach Ansicht des Kanadiers dadurch gelöst werden, dass in jedem Satz immer nur einer der zwei Spieler aufschlägt.

   Ein weiterer Vorzug der kürzeren Sätze besteht in den besseren Chancen der Abwehrspieler, die spektakuläre Ballwechsel garantieren. Den Gegnern bleibt weniger Zeit, um sich auf die Schnittvarianten einzustellen. Die Koreanerin Kim Bok Rae sieht "durch die Regeländerungen Vorteile für uns Abwehrspieler" - ja, sogar der Gewinn eines WM-Titels scheint nach über 20 Jahren wieder möglich gegen all die Schmetterkünstler.

   Die ITTF wollte Tischtennis auch außerhalb Asiens zur begehrten TV-Ware puschen. Während Roßkopf vor der Saison reichlich desillusioniert klang ("Ob wir bis 6, 11, 15 oder 21 spielen - Tischtennis wird in Deutschland sowieso nicht im Fernsehen gezeigt"), freut sich sein Kronprinz Boll über kleine Fortschritte. "Die Bundesliga wird in der Rückrunde wieder im DSF übertragen." Außerdem zeigt Eurosport die EM in Zagreb. Um aber in Deutschland aus der Nische der Spartensender herauszukommen, hilft nur eines: "Ein großer Erfolg muss her." Dass nur er höchstselbst für diesen sorgen kann, weiß Timo Boll.


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