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Boll überwindet seinen inneren Schweinehund

Neuer Europameister will nun die Chinesen attackieren

von Hartmut Metz, April 2002


   "Er hat in seinem Spiel mehr vom genialen Schweden Jan-Ove Waldner als von mir", adelt Jörg Roßkopf seinen Mannschaftskameraden beim TTV Gönnern. Der Vergleich mit dem besten Tischtennisspieler aller Zeiten ist eine besondere Auszeichnung für Timo Boll, heimste doch Roßkopf selbst in seiner Karriere 16 Medaillen bei internationalen Wettbewerben ein. Darunter auch Gold bei der Europameisterschaft 1992. Zehn Jahre danach trat Boll nicht nur aus dem langen Schatten des verletzten deutschen Rekordnationalspielers heraus. Der als Roßkopfs Kronprinz titulierte 21-Jährige übernahm gleich das Zepter auf dem Alten Kontinent.

   Im Einzel-Finale in Zagreb schlug Boll den Griechen Kalinikos Kreanga in sechs Sätzen. Tags zuvor hatte der Linkshänder bereits mit seinem Doppelpartner Zoltan Fejer-Konnerth die Polen Lucjan Blaszczyk/Tomasz Krzeszweski mit 4:0 entzaubert. Die maximale Ausbeute von dreimal Gold bei drei Starts war dem Hessen nur vergangene Woche im Mannschaftsfinale verwehrt geblieben, als sich die alten Schweden trotz zweier Boll-Siege nochmals mit 3:2 durchsetzten. "Man muss den Ball flach halten. Viel besser kann es nicht für mich laufen. Silber mit der Mannschaft war auch super", befand der zweifache Europameister, der fast im Alleingang die Bilanz des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) aufpolierte. Die Damen des bei der EM erfolgreichsten Verbandes waren nach Mannschafts-Silber hinter den Erwartungen geblieben, weil die fünffache Ex-Europameisterin Nicole Struse (Kroppach) verletzt aufgab.

   Am seidenen Faden hing der goldene Glanz im Einzel. Weniger sorgte Timo Boll der Matchball von Werner Schlager im sechsten Satz des Halbfinales. "Beim 9:10 war ich ja wieder dran und glaubte an meinen Sieg", beschreibt der Europe-Top-12-Sieger seine Gefühlswelt in der kritischen Phase, "ich lag aber bereits mit 4:8 hoch zurück. Das hat mich angekotzt. Ich hatte schon mit mir gehadert, konnte mich aber nochmals zusammenreißen." Der siebte Satz gegen den Weltranglistenzehnten aus Österreich wurde dann zum leichten Spiel - wie auch die beiden letzten Durchgänge gegen Kreanga. "Ab dem fünften Satz variierte er die Aufschläge, so dass ich nicht mehr ins Spiel kam. Timo war einfach mental stärker", gratulierte der 30-jährige Grieche seinem Bezwinger zu einem "perfekten Turnier".

   Neben seiner deutlich verbesserten Fitness ("Ich musste erst lernen, meinen inneren Schweinehund zu überwinden") und seinem famosen Händchen, das alle technischen Raffinessen erlaubt, zeichnet Boll vor allem Optimismus aus. Zaudert die Konkurrenz und wägen die Trainer stets vorsichtig ab, ist für den Aufsteiger des Jahres aus Höchst im Odenwald der nächste Gegner nicht automatisch der schwerste. In einer der ersten Runden wusste er nicht einmal, auf wen er trifft. Sowohl gegen Schlager wie auch Kreanga verwies der dreifache deutsche Meister vor den Duellen furchtlos auf seine imposanten Siegesserien gegen beide Kontrahenten.

   Noch überlegener wirkte das Doppel. Lediglich die Niederländer Trinko Keen und Danny Heister, der Boll und Fejer-Konnerth vom täglichen Training in Höchst in- und auswendig kennt, vermochten dem deutschen Parade-Duo im Halbfinale zwei Sätze abzuluchsen. Die perfekte Aufgabenverteilung der Gönnerner, die seit drei Saisons zusammen spielen, bekamen Blaszczyk und Krzeszweski im Endspiel zu spüren. "Timo ist stärker in den Ballwechseln, ich verfüge über die besseren Rückschläge und nutze seine guten Aufschläge. Er bereitet vor und ich schließe mit meinem harten Schlag ab", erläutert Fejer-Konnerth. Der 23-Jährige wertet seinen Wechsel zum potenziellen Bundesliga-Aufsteiger TTC Karlsruhe-Neureut kaum als Nachteil für die ideale Links-Rechts-Kombination. "Doppel wird sowieso ganz selten trainiert", sagt Fejer-Konnerth und Boll ergänzt: "Wir passen gut zusammen, das ist wichtiger."

   Am Rande der Banden in Zagreb drehten Chinesen eifrig Videos. Nicht, weil die asiatischen Mädchen den jungen Deutschen niedlich finden. Der neue Europameister gilt als die weiße Gefahr. In der nächsten Weltrangliste dürfte der Hesse von Platz sechs auf einen der drei ersten Ränge klettern. Mitten hinein in die Phalanx der übermächtigen Chinesen. "Timo hat das Potenzial, sie bei großen Wettkämpfen zu schlagen", unterstreicht DTTB-Cheftrainer Dirk Schimmelpfennig. Boll will sich nicht auf "meinen Lorbeeren ausruhen". Für ihn lautet der nächste Schritt, "die Chinesen anzugreifen. Dafür muss ich aber hart an mir arbeiten und trainieren. Ich bin heiß auf mehr".


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