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Mozart muss zu Beethoven mutieren

Der neue 40-Millimeter-Tischtennisball im Test

von Hartmut Metz


   Zwei Millimeter Unterschied. Was macht das schon? Man erntet ein ungläubiges Grinsen, selbst wenn man den Tischtennisspielern das Zelluloid unter die Nase hält. Lutz Schäfer bemerkt den Unterschied bereits nach wenigen Trainingsschlägen. Der hinterrücks statt des 38 Millimeter großen Standardgeschosses über die Platte gespielte neue Ball erweckt sofort sein Misstrauen. "Was ist das für ein merkwürdiger Ball?" Nicht nur, dass die Kugel mit exakt vier Zentimeter Durchmesser so klingt wie ein kaputter 38-mm-Ball - das Spielgerät besitzt ganz andere Eigenschaften.

   Darum will der Internationale Tischtennis-Verband (ITTF) während der Mannschafts-WM in Kuala Lumpur (Malaysia) den neuen Ball absegnen. "Nach den Olympischen Spielen in Sydney sollten die Fabriken in der Lage sein, 40-Millimeter-Bälle zu produzieren", verkündete ITTF-Präsident Adham Sharara. Bei der Einzel-WM in Eindhoven hatte der revolutionäre Vorschlag die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit unter den 127 Delegierten nur um zwei Stimmen verpasst. Die Materialkommission besaß vor Monaten noch Bedenken, weil die Schwere nicht definiert war. Jetzt soll diese von 2,5 Gramm auf 2,65 bis 2,75 Gramm steigen. Mit der prozentual geringeren Gewichtszunahme im Vergleich zur Größe verhält sich der Tischtennisball nicht wie ein "Luftballon". Stattdessen rauben die zusätzlichen 0,15 Gramm dem Zelluloid einen Teil seiner Rotationskraft, außerdem sorgen die zwei zusätzlichen Millimeter Durchmesser für mehr Luftwiderstand und somit weniger Tempo.

   Dem ITTF geht es nicht um einen Boom in den darbenden Ball-Fabriken Der Boom soll vielmehr im Fernsehen stattfinden. Erfreut sich Pingpong in Asien ausgiebiger TV-Präsenz, besonders in China, ergötzt es den Tischtennis-Fan hierzulande schon, dass Eurosport neuerdings ab und an dienstags Champions-League-Spiele überträgt. Für Zusammenschnitte von Bundesligaspielen am Samstag müssen die deutschen Vereine sogar Produktionszuschüsse zahlen, um das DSF bei Laune zu halten. Die öffentlich-rechtlichen Sender kommen schließlich nicht mehr ihrem Anspruch nach Vielfalt und Anspruch auf eine Grundversorgung nach. Warum auch? Es gibt Fußball, jeden Tag. Was scheren da 700.000 aktive Tischtennissportler?

   Der neue Ball soll die Malaise beseitigen: Weg vom Aufschlag, Topspin, Punkt; hin zu längeren und damit attraktiveren Ballwechseln für das Auge. Das gelingt. Lutz Schäfer freut sich. Der 40-Millimeter-Ball fliegt langsamer und lässt Abwehrspieler wie ihm mehr Reaktionszeit. Aber auch ein Haudrauf findet durchaus Gefallen, behilft sich mit Angriffsraffinesse oder lässt sich gar zwei, drei Meter hinter die Platte drängen. Durch Behändigkeit und flinke Beine bringt man schließlich viel eher als früher den Schläger noch hinter Schmetterbälle. Eine neue Ära für Abwehrspieler könnte anbrechen, inklusive mehr Spaß für sie und die Zuschauer.

   In Japan werden im Seniorenbereich seit Jahren langsamere Bälle eingesetzt: Die mit 38 Millimeter Durchmesser wiegen knapp über zwei Gramm, ein 44-Millimeter-Zelluloid bringt es dort auf bis zu 2,4 Gramm. Das Verbandsorgan "Deutscher Tischtennissport" wertete die Erfahrungen von 80 Testern mit dem Vier-Zentimeter-Ball aus. Das Ergebnis verblüfft, weil Spieler aller Kategorien in der Mehrzahl der ersten grundlegenden Ballreform seit 1891 positiv gegenüberstehen. Die Hemmschwelle sank, je höher die Klasse der Tester angesiedelt war. So verwundert es wenig, dass auch das übermächtige China hinter der Reform steht.

   Vor allem der kleine TTC Muggensturm unterstützt den Ballwechsel. Nicht, dass sich künftig Zuschauer oder gar das Fernsehen zu dem A-Kreisligisten verirrten, nein, aus schnöden finanziellen Erwägungen. Erst im letzten Verbandsspiel musterte der Autor drei Bälle aus, weil er mit seinem "absoluten Gehör" das 38-mm-Zelluloid als "kaputt" wähnte. Und nur weil Volkes Stimme bereits rumorte, verzichtete er auf den Austausch des vierten, offensichtlich kaputten Balles im zweiten Einzel. Der gehässige Wunsch des TTC-Schatzmeisters, der selbst ernannte "Mozart des Ball-Hörens" möge zu Beethoven mutieren, erübrigte sich bei Einführung des neuen Balles im Herbst. Über 40 Prozent der Test-Kandidaten störten sich vor allem am Fehlen des gewohnten "klack, klack", das nun einem kaputten Klang weicht. Somit muss jeder Mozart des Tischtennissports selbst auf einen tauben Beethoven umstellen.

 

Der Tischtennisball

   Seit 1891 sind Tischtennisbälle aus Zelluloid, zuvor kamen Gummibälle mit Flanellüberzug zum Einsatz. Das Reglement stellt präzise Anforderungen an das Spielgerät: 38 Millimeter Durchmesser (künftig womöglich 40), 2,5 Gramm schwer (2,65 bis 2,75) und der Ball muss, lässt man ihn aus 30,5 Zentimetern Höhe auf einen Stahlblock fallen, zwischen 23,5 und 25,5 Zentimetern hoch springen. Ob die Qualität der Bälle den höchsten Ansprüchen genügt, erkennt der Spieler am Aufdruck. Bei Wettbewerben sind nur Drei-Stern-Bälle (Kostenpunkt: rund drei Mark pro Stück) erlaubt, die bei Kontrollen auf einer schrägen Platte fast präzise geradeaus rollen. Die billigeren Trainings- oder Freizeitbälle tragen nur zwei oder einen Stern. Gute Bälle müssen einiges aushalten: Bei einem Schmetterschlag verformen sie sich um bis zu 35 Prozent. Bei Schmetterschlägen, die ihn auf 170 Stundenkilometer beschleunigen können, wirken auf den kleinen Ball bis zu 10.000 Newton ein. Das entspricht der Kraft, die man aufwenden muss, um etwa 1.000 Kilogramm in die Höhe zu stemmen.

   Die Bälle enthalten Fasern von Baumwollsamen, Ausgangspunkt für das Zelluloid ist überdies Nitro-Zellulose. In acht von zehn Bearbeitungsschritten entspricht die Herstellung jener von Nitroglyzerin. Das macht die Verarbeitung so gefährlich und reduzierte die Zahl der weltweiten Ball-Fabriken, die ausnahmslos in Asien liegen, durch häufige Brände und Explosionen auf sechs.


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