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Banalitäten sind ein gutes Zeichen

Deutsche Tischtennisspieler haben bei der EM in jedem Wettbewerb Medaillenchancen

von Hartmut Metz, März 2002


   Die banalen Fragen, die gestellt werden, sind ein gutes Zeichen. Gibt es eigentlich in diesem Sport keine Skandale? Hat er noch seine Freundin? "Ich habe sonst nur mit Fußballprofis zu tun. Sie wirken im Vergleich zu denen geduldiger und weniger genervt. Kann es sein, dass Tischtennisspieler intelligenter sind?"

   Die Zelluloidartisten, die von Ostersamstag bis 7. April an der Europameisterschaft in Zagreb teilnehmen, grinsen. Der Medienauflauf im Bundesleistungszentrum in Heidelberg fällt diesmal geringer aus als vor zwei Jahren. 2000 fanden allerdings die kontinentalen Titelkämpfe in Bremen statt. Wichtiger ist diesmal, dass sich Journalistenmeute verirrte, die ansonsten wenig zu tun hat mit der schnellsten Rückschlagsportart der Welt. "Timo, ging dein Sieg beim Europa-Top-12 nicht unter?" Der 21-Jährige, der das neue Interesse am Tischtennis in Deutschland entfachte, widerspricht: "Das Fernsehen zeigte während Olympia nichts. Aber die Printmedien berichteten sehr viel. Ich bemerkte schon größeres Interesse", urteilt der bis auf Platz fünf der Weltrangliste vorgestürmte Timo Boll.

   Erfolge konnte der Deutsche Tischtennis-Bund (DTTB) seit dem WM-Titel des Parade-Doppels Jörg Roßkopf/Steffen Fetzner 1989 in Dortmund zuhauf erzielen. Vor allem in der Europaliga reihte sich ein Sieg an den anderen. Ein Boom wie damals wollte sich aber nicht mehr einstellen. Die "eingeheirateten" Chinesinnen um Einzel-Europameisterin Qianhong Gotsch, Jie Schöpp und Jing Tian-Zörner taugten kaum als Identifikationsfiguren. Blieb der 32-jährige Weltranglisten-14. Jörg Roßkopf, der jedoch immer häufiger - wie auch jetzt in Kroatien - wegen Verletzungen passen musste.

   Nach neuen, unverbrauchten Gesichtern lechzt vor allem das Fernsehen. Da kommt einer wie Timo Boll gerade recht. Nicht nur dass Roßkopfs Mannschaftskamerad beim TTV Gönnern die Weltelite aufmischt, der junge Bursche verfügt auch noch über einen "hohen Boygroup-Faktor", wie die "Frankfurter Rundschau" befindet. In Japan kletterten Teenies sogar auf Bäume, um den niedlich dreinblickenden Mädchenschwarm aus Hessen im Umkleideraum zu beäugen. Fast schon asiatische Verhältnisse entwickeln sich während der EM in Zagreb: Eurosport berichtet mehrfach live, das ZDF, das sich 2000 bei Olympia in Sydney dadurch hervortat, den Achtelfinalisten Boll für ein paar Bilder über den Strand zu scheuchen, plant ebenfalls "ein paar Stücke". Womöglich nicht nur im Morgenmagazin, sondern auch im Aktuellen Sport-Studio ("Mit Live-Schaltung, aber nur, wenn du ins Finale kommst!", hat es der ZDF-Reporter wichtig) und der Sport-Reportage ("Wenn du das Finale gewinnst!").

   Dirk Schimmelpfennig weiß um die Gunst der Stunde: "Die Mannschaft ist hungrig und giftig. Timo hat es selbst in der Hand, dass viel von uns gezeigt wird." Der Cheftrainer des DTTB war noch nie einer, der um den heißen Brei herumredete. Die Bilanz von Bremen mit nur einem EM-Titel kann Boll alleine übertreffen. Das Quintett, in dem Torben Wosik (Frickenhausen) nach Roßkopfs Ausfall zweiter Führungsspieler ist, gilt als Mitfavorit hinter Schweden. Je nach Gegner - im Viertelfinale trifft der gesetzte Europaliga-Sieger auf die Niederlande oder Jugoslawien - rückt einer der jungen Garde, Lars Hielscher, Bastian Steger (beide Borussia Düsseldorf) oder Zoltan Fejer-Konnerth (Gönnern), auf Position drei. Letzterer stünde ebenfalls jeder Boygroup gut zu Gesichte. In Zagreb will der ruhige, adrette Dunkelhaarige aber auch im Doppel mit Boll eine Medaille einheimsen. Möglichst die goldene soll es für die Weltcup-Dritten sein. "Wir jagen nach Siegen", unterstreicht Herren-Bundestrainer Istvan Korpa.

   Auch die Damen um die wiedererstarkte fünffache Europameisterin Nicole Struse und ihre Doppelpartnerin Elke Wosik (vormals Schall), die "als Krönung ihrer Ehe" mit Gatte Torben im Mixed "nach den Sternen greifen will", haben in allen Disziplinen Chancen auf Edelmetall. Ebenso wie Timo Boll im Einzel. Angstgegner? "Steger!", scherzt der 20-jährige Bastian Steger und blinzelt vergnügt wie Skisprung-Olympiasieger Simon Ammann durch seine Nickelbrille. Boll fürchtet keinen Kontrahenten. Am ehesten Abwehrspieler, weil diese dem inzwischen konditionsstarken wie schneller gewordenen Linkshänder viel Kraft abverlangen würden. Ein Endspiel gegen Wladimir Samsonow könnte sich der 21-Jährige gut vorstellen. Genauso wie der Weltranglistendritte: "Gegen Timo - das wäre ein tolles Finale!" Nur das Endergebnis vom Top-12-Endspiel würde der Favorit aus Weißrussland allzu gerne umdrehen. In dem hatte Boll einen Matchball gegen sich - bemerkte das aber gar nicht, wehrte ihn ab und gewann noch im siebten Satz mit 4:3.


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