Das Paradies: Auf ewig am SchachbrettMit 75 ältester Leistungssportler der Welt / Interview-Auszug aus dem Schach-Magazin 64 mit Viktor KortschnoiText und Fotos von FM Hartmut Metz, März 2006 |
Viktor Kortschnoi ist der älteste Leistungssportler der Welt, der sich noch immer mit den Besten seines Metiers messen kann. Am 23. März feierte der Schweizer seinen 75. Geburtstag und steht mit 2608 Elo auf Platz 120 der Schach-Weltrangliste natürlich zu wenig für Viktor den Schrecklichen, der sich eher als Nummer 40 angesiedelt sieht. Einen Unterschied macht dies für die Turnierorganisatoren kaum. Sie laden den kampfeslüsternen Wundergreis, der dreimal dem sowjetischen Vorzeige-Kommunisten Anatoli Karpow den WM-Titel überlassen musste, stets gerne ein. Das Leben des Dissidenten und die politischen Dramen von 1974 bis 1981 inspirierten die Abba-Komponisten und Tim Rice zum Erfolgs-Musical Chess. Mit Viktor Kortschnoi und dessen Ehefrau und Managerin Petra Kortschnoi-Hajny, die in Wohlen (Aargau) leben, unterhielt sich Hartmut Metz. Das ausführliche Gespräch, das mehr als zwei Stunden dauerte und etwa fünfmal so lange ausfiel, ist in der ersten April-Ausgabe des Schach-Magazin 64 vollständig nachzulesen!
Auch mit 75 noch ein kritischer Geist: Viktor Kortschnoi.
Frage: Herr Kortschnoi, war es, im Nachhinein betrachtet, ein Glück, dass Sie nie Weltmeister wurden? So lodert die Schach-Glut bis heute in Ihnen, weil der Rastlose allen weiter etwas beweisen will.
Kortschnoi: Es ist peinlich, dass ich nie Weltmeister wurde. Es wäre leicht, Leonid Breschnjew als Ursache vorzuschieben, dessen Apparat den Vorzeigekommunisten Anatoli Karpow in allem unterstützte. Trotz der Widerstände hat der ebenfalls von den Sowjets unerwünschte Garri Kasparow den WM-Titel erobert. Ich glaube, ich kenne inzwischen die Gründe für mein Versagen: schachliche Charakterfehler. Erstens war ich nie ein Wunderkind und immer, nicht nur im Schach, war ich in meiner gesamten menschlichen Entwicklung zu langsam.
Kortschnoi-Hajny: Man muss aber schon auch sagen, dass die Umstände gegen Viktor sprachen. Die Russen konnten doch gar nicht zulassen, dass einer wie er, der flieht, Weltmeister wird. Ich weiß nicht, was die alles gemacht hätten, hätte Viktor gewonnen.
Frage: Die Theorien reichten bis zu Mord.
Kortschnoi: Meine Frau betont, dass Breschnjew meinen Titel verhinderte. Das ist sehr nett von ihr sie akzeptiert meine Schwächen nicht (grinst).
Frage: Sie strotzen mit 75 noch vor Energie Garri Kasparow ist 2005 mit 42 zurückgetreten. Verstehen Sie das?
Kortschnoi: Ich kann es weder verstehen noch mir vorstellen. Den Grund weiß ich indes: Eitelkeit. Ihm genügten nicht die paar Millionen Verehrer auf der Welt. Als guter Politiker hätte er vielleicht 50 Millionen Bewunderer. Vor 50 Jahren hätte ich das vielleicht verstanden, als ich auch überquoll vor Eitelkeit aber heutzutage fehlt mir das Verständnis dafür.
Frage: Wie brach sich Ihre Eitelkeit Bahn?
Kortschnoi: Ich wollte Schauspieler werden. Mir mangelte es jedoch an einer guten Aussprache. Eitelkeit ist bei jungen Leuten normal bei älteren wird sie zur Krankheit.
Frage: Letztlich haben Sie es doch vor die Kameras geschafft. Vor einiger Zeit drehten Sie einen witzigen Spot mit einer Kuh.
Kortschnoi: Ja, der Werbespot kam auf Wunsch der schweizerischen Milchindustrie zu Stande.
Frage: Der Film soll zeigen: Die Milch machts und deswegen setzt Sie eine Kuh matt. Ich finde, den unterlegenen Großmeister, der die Figuren verärgert vom Tisch fegt und aufspringt, haben Sie exzellent gemimt. Wie im richtigen Leben nach einer Niederlage!
Kortschnoi: Die Niederlage machte ausnahmsweise Spaß, wie die gesamten Dreharbeiten.
Frage: Wie viel trainieren Sie noch mit 75?
Kortschnoi: Jeden Tag so lange, wie eine Schachpartie dauert: durchschnittlich etwa vier Stunden.
Kortschnoi-Hajny: Du sitzt aber länger als vier Stunden am Brett oder Computer.
Kortschnoi (schmunzelt): Na ja, meine Partien dauern auch länger als der Durchschnitt.
Frage: Keine zwölf oder 18 Züge!
Kortschnoi (lacht herzlich): Ja, sehr oft ist bei Turnieren der alte Kortschnoi derjenige, der am längsten am Brett sitzt.
Frage: Ein aktuelles Beispiel dazu vom Großmeister-Turnier in der fränkischen Pulvermühle, bei dem Sie Rang vier belegten und auch gegen Michael Bezold bis zum Schluss kämpften. Im Endspiel mit Turm und Springer gegen Ihren Turm bot der Gegner mangels Bedenkzeit ein Remis an. Sie lachten erst und murmelten danach: Vier Sekunden, vier Sekunden! Hätte der junge Kortschnoi die Remisofferte auch angenommen?
Kortschnoi: Der junge, sehr eitle Kortschnoi hätte diese Partie gewonnen.
Frage: Und bei Anatoli Karpow?
Kortschnoi: Kein Erbarmen. Den würde ich sogar noch heute über die Zeit heben (kichert).
Frage: Wer ist derzeit der beste aktive Schachspieler der Welt?
Kortschnoi: Wesselin Topalow. Er gewann nicht nur die WM, sondern weitere fünf, sechs Turniere.
Frage: Ihnen gefällt bestimmt sein Stil: Er kämpft wie Sie bis zur letzten Patrone.
Kortschnoi: Das ist wahr, das ist wahr! Ich bewundere sein Spiel. Er verdient seit zwölf Jahren unsere Achtung für seinen kämpferischen Einsatz.
Frage: Wo ordnen Sie Anand ein?
Kortschnoi: Anand war gut, er ist gut und er wird gut bleiben! Ich denke, er wird der nächste Herausforderer von Topalow sein. Nach dem Abgang von Kasparow besitzt Anand mehr Gelegenheiten zu brillieren. Er ist ein Gentleman, er verhält sich tadellos am Brett und gerade deswegen hatte er Probleme, mit Kasparow zu spielen.
Frage: Wie halten Sie sich fit?
Kortschnoi: Ich müsste mehr Sport machen. In diesem Jahr ließ ich es etwas schleifen und machte keinen Skilanglauf in unserer Ferienwohnung. Ende März laufe ich drei Tage.
Frage: Ihre Frau hält Ihnen den Rücken immer frei. Wie lange sind Sie nun zusammen?
Kortschnoi-Hajny: 30 Jahre! 30 Jahre? Wie man das aushält (beide lachen schallend)! Da wundere ich mich.
Kortschnoi: Sie hören die Trauer in ihrer Stimme (lacht weiter herzlich)!
Frage: Ich denke, Sie sind manchmal anstrengend, wenn Sie eine Partie verloren haben
Kortschnoi-Hajny: Au, au.
Frage: Mit Ihrer dreibändigen Autobiographie haben Sie sich selbst automatisch einmal mehr mit der Schach-Geschichte beschäftigt. Wo sehen Sie Ihren Platz darin?
Kortschnoi: Ich muss mich nicht bei den Weltmeistern einmischen, sondern mit denen, die kurz vor dem Thron standen: Ich stehe in einer Reihe mit berühmten Leuten wie Rubinstein, Schlechter, Tarrasch, Keres und Bronstein. Das ist eine Ehre.
Frage: Mit Verlaub: Bronstein hatte ein paar gute Jahre, Sie haben 50 gute Jahre.
Kortschnoi: Hmmm, im Vergleich zu Bronstein Ja, das ist Ihre Meinung (grinst).
Frage: Selbst unter den Weltmeistern gab es mit Ausnahme von Emanuel Lasker und mit Abstrichen Wassili Smyslow keinen, der im hohen Alter formidable Leistungen zeigte.
Kortschnoi: Das mag sein. In der Geschichte des Schachs bin ich vielleicht ein Beispiel für Langlebigkeit, für viele Jahre gutes und erfolgreiches Schach. Das ist meine Ecke.
Schach-Legende Viktor Kortschnoi vor einem seiner Pokalschränke im heimischen Wohlen.
Frage: Welchen Mangel erkennen Sie in Ihren Partien im Vergleich zu früher?
Kortschnoi: In meiner Biographie schrieb ich darüber, dass ich bereits 1985 beim Kandidatenturnier in Montpellier mit vollem Einsatz spielen wollte und trotzdem nicht einmal 50 Prozent erreichte. Ich konnte einfach eine Grenze nicht überschreiten. Mir wurde klar, dass sich mein Eröffnungswissen nicht auf aktuellem Niveau befand. Zudem beklagte ich da schon mangelnde Energie. Heute verhält es sich genauso. Hinzu kommt die kürzere Zeitkontrolle. Für mich ist das schwieriger als für einen 20-Jährigen.
Frage: Welche Ziele stecken Sie sich im Schach mit 75?
Kortschnoi: Meine derzeitige Ratingzahl von 2608 Elo ist lächerlich. Wenn ich sehe, wer in der Weltrangliste vor mir steht, halte ich 2660 Elo und Platz 40 für angemessen.
Frage: Die Schweiz, in der Sie seit 30 Jahren leben, gefällt Ihnen?
Kortschnoi: Ich nahm in der Schweiz alles bis auf eines mit Vergnügen an: Ich betrachte Neutralität als schlimme Krankheit! Und ich will nicht von Neutralität angesteckt werden!
Frage:Sie haben sich schon mit dem Jenseits beschäftigt. Ihr ungewöhnlichster Gegner neben der Kuh im Werbespot war der Geist von Géza Maróczy. Gegen den 1951 verstorbenen ungarischen Großmeister spielten Sie von 1985 bis 1993 eine spirituelle Partie.
Kortschnoi: Damals rief ein Freund an und fragte mich, gegen welchen verstorbenen Großmeister ich am liebsten spielen würde. Ich nannte Keres, Capablanca und Maróczy. Eine Woche später meldete er sich wieder und berichtete: Wir konnten dort (betont es besonders) Capablanca nicht finden, aber Maróczy hat geantwortet (lacht)! Ich lernte das Medium, das mit Maróczy verbunden war, erst nach der Partie bei einer Fernsehsendung in Köln kennen. Kurz darauf starb der Mann. Der Herr, der alles organisiert hatte, bemerkte mit schwarzem Humor, es sei richtig gewesen, dass er zuvor das Experiment beendete. Die Partie dauerte sehr lange, so um die acht Jahre. Manchmal fehlte mir die Zeit, dann erkrankte das Medium oder Maróczy war im Jenseits nicht in der Lage zu spielen (grinst). Viele Leute meinten, dass ich in Wahrheit eine Fernpartie gegen den Züricher Schachclub austrage. Ich weiß es nicht.
Frage: Wenn schon nicht wissen, glauben Sie mit 75 an Schachpartien nach dem Tode? Im Paradies dürften Sie bessere Chancen gegen Karpow haben ungläubige Kommunisten genießen dort weniger Privilegien.
Kortschnoi-Hajny: Die Kommunisten fahren alle zur Hölle!
Kortschnoi (lacht): Ihre Fantasie entwickelt sich in eine gute Richtung!
Frage: Viktor Kortschnoi wird also ewig Schach spielen!
Kortschnoi-Hajny: Viktor sagte, wenn er mal stirbt, will er unbedingt im Sarg ein Schachbrett dabei haben!
Kortschnoi: Und Figuren!
Beim prächtig besetzten Open in Gibraltar belegte Kortschnoi mit 6,5:3,5 Punkten den geteilten elften Platz. Gegen den Schweden Pontus Carlsson spielte der Jubilar in der letzten Runde einmal mehr eine dramatische Partie.
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Kortschnoi,Viktor (2608) - Carlsson,Pontus (2430) [E15]
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