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Nackte Könige begeistern das Fußvolk

Stumme "Revolution" wirkt Wunder: Maulkorb für Großmeister garantiert in Sofia Schach-Schlachten statt Remisvereinbarungen

Text von FM Hartmut Metz, Juni 2005

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   Vergeblich hatte das Fußvolk jahrelang auf solch prickelnde Szenen gewartet: Endlich aber gab es in Sofia nackte Könige zu sehen! Gleich in drei Partien standen am Schluss der weiße wie der schwarze Monarch mutterseelenallein ohne einziges verbliebenes Bäuerlein auf dem Schachbrett. Zufrieden nannte Organisator Silvio Danailow sein Turnier eine "Revolution". Den Bulgaren hatte ebenso wie viele Fans rund um den Globus das regelmäßige Remisgeschiebe der Topspieler genervt. Beispielsweise bei Paarungen zwischen dem Inder Viswanathan Anand und Weltmeister Wladimir Kramnik (Russland) standen Friedensangebote nach ein paar heruntergespulten Eröffnungszügen auf der Tagesordnung.

   Bei dem 600.000 Euro teuren Wettbewerb in Sofia durften Anand und Kramnik am Brett nicht miteinander parlieren – und oh Wunder: Das zweite Duell der beiden entschied der "Tiger von Madras" nach einem katastrophalen Schnitzer Kramniks in lediglich 20 Zügen für sich. Das sollte die kürzeste Partie des gesamten Turniers bleiben. Dank der stummen Revolution wurde bis zum letzten Bauern gekämpft. Fast ein Drittel der 30 Partien ging über 60 und mehr Züge - ein Novum im Spitzenschach, das mit kurzzügigen Arbeitsverweigerungen der Profis nervte. Man stelle sich die Reaktionen von Fußballfans vor, würden ihre Lieblinge nach einer Viertelstunde vom Feld schleichen, weil beiden Seiten ein Endergebnis von 0:0 als ganz passabel erschiene.

   Die Statistiken begeistern die Fans. 12 der 30 Vergleiche hatten in Sofia einen Sieger, nur 60 Prozent der Partien endeten friedlich. Und die hatten es mit durchschnittlich 49 Zügen auch mehr in sich als sonst. "Endlich werden die Spieler mal gezwungen, Partien auszuspielen, so dass jeder Zuschauer das Endergebnis versteht und auf seine Kosten kommt! Ein super Turnier", jubiliert ein Amateur im Internet-Forum des Deutschen Schachbundes. Anstatt selbst darüber befinden zu können, ob eine Partie remis ist, mussten die sechs Großmeister den Schiedsrichter für einen Friedensschluss hinzuziehen. In der Begegnung zwischen Judit Polgar und Ruslan Ponomarjow forderte der als Referee angeheuerte Ex-Europameister Surab Asmajparaschwili die Akteure zu weiterem Einsatz auf. Erst wenig später gab der Georgier dem Ansinnen nach einem Unentschieden - wie in fünf weiteren eindeutigen Fällen - nach. Neunmal endeten die Begegnungen gemäß der Schachregeln durch Dauerschach oder dreifache Stellungswiederholung ohne Sieger. Dreimal kämpften die Teilnehmer bis zu den so genannten "nackten Königen".

 

Schach-Turnier Sofia 2005

Wesselin Topalow (rechts) gab in der Rückrunde nur einen halben Punkt ab.

 

   Angesichts des Erfolgs des Schweigegelübdes für die Großmeister geriet der Endstand beinahe zur Nebensache. Mit dem drahtigen Wesselin Topalow (6,5:3,5 Punkte), der mit etwas Glück in der Rückrunde nur ein Remis abgab, gewann der einsatzfreudigste Spieler. "Für mich bedeutete das Remisverbot keine sonderliche Umstellung", kommentierte der stets kampfeslüsterne Bulgare. Ganz anders Kramnik, der als einziger des Sextetts "keine großen Unterschiede zu sonstigen Turnieren" bemerkt haben wollte. Der Weltmeister lamentierte schon zur Halbzeit, Ruhetage seien bei solch einem Wettbewerb dringend erforderlich. Der Russe verpatzte auch in der letzten Runde eine Gewinnstellung gegen Lokalmatador Topalow und belegte zum ersten Mal seit 1996 den letzten Platz. Kramnik räumte seine jämmerliche Form ein und befand sarkastisch: "Wenn du Figuren einstellst, kannst du keine großen Resultate erwarten." Zusammen mit dem 29-Jährigen musste in Sofia der Engländer Michael Adams (beide 4:6) die rote Laterne übernehmen.

   Die stets engagierten Judit Polgar (Ungarn) und Ex-Weltmeister Ruslan Ponomarjow bildeten mit 5:5 Zählern das Mittelfeld. Die überragende Schachspielerin auf dem Globus brach eine Lanze für den Maulkorb. "Diese interessante Regel sollte häufiger bei Turnieren verwendet werden. Sie sorgt für längere Partien, die zudem extrem spannend verliefen", urteilte Polgar. Auch der zweitplatzierte Anand (5,5:4,5) bescheinigte dem Experiment "nur positive Effekte". Negativ für den Inder war allerdings der Turnierausgang. Schien der 35-Jährige nach dem Rücktritt von Garri Kasparow die designierte Nummer eins der Weltrangliste zu sein, rückt ihm nun Topalow auf die Pelle. Anand bescheinigte seinem Kontrahenten eine für einen 30-Jährigen "großartige Entwicklung". Turnierorganisator Danailow hörte das als Topalows Manager natürlich gerne - aber noch lieber war ihm sein Fazit der stummen Revolution: "Das Remisvirus hatte sich unter den Topspielern zu stark ausgebreitet. Dieser Misere haben wir mit dem Mobitel Masters den Kampf angesagt."

 










Topalow,Wesselin (2778) - Ponomarjow,Ruslan (2695) [E15]
MTel Masters Sofia BUL (9), 21.05.2005

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6 4.g3 La6 5.b3 Lb4+ 6.Ld2 Le7 7.Sc3 0-0 [Zwei Runden zuvor versuchte Anand 7...c6 und verlor ebenso gegen einen auftrumpfenden Topalow: 8.e4 d5 9.Dc2 dxe4 10.Sxe4 Lb7 11.Seg5! c5 12.d5 exd5 13.cxd5 h6 14.Sxf7! Kxf7 15.0-0-0© Ld6 16.Sh4 Lc8 17.Te1 Sa6 18.Te6 Sb4 19.Lxb4 cxb4 20.Lc4 b5 21.Lxb5 Le7? 22.Sg6!? Sxd5 23.Txe7+?! Sxe7 24.Lc4+ Kf6 25.Sxh8 Dd4 26.Td1 Da1+ 27.Kd2 Dd4+ 28.Ke1 De5+ 29.De2 Dxe2+ 30.Kxe2+/- Sf5 31.Sf7 a5 32.g4 Sh4 33.h3 Ta7 34.Td6+ Ke7 35.Tb6 Tc7 36.Se5 Sg2 37.Sg6+ Kd8 38.Kf1 Lb7 39.Txb7 Txb7 40.Kxg2 Td7 41.Sf8 Td2 42.Se6+ Ke7 43.Sxg7 Txa2 44.Sf5+ Kf6 45.Sxh6 Tc2 46.Lf7 Tc3 47.f4 a4 48.bxa4 b3 49.g5+ Kg7 50.f5 b2 51.f6+ Kh7 52.Sf5 und Schwarz gab auf wegen 52...b1D 53.g6+ Kh8 54.g7+ Kh7 55.g8D# ] 8.Tc1!? Diese Idee verfolgte Topalow bereits im Vorjahr beim Schnellturnier in Monaco. 8...c6 [8...Lb7 9.Lg2 d5 10.Se5 Sa6 11.cxd5 exd5 12.0-0 c5 13.Le3 Te8 14.Sd3 Dd7 15.Sa4 cxd4 16.Lxd4+/= bescherte Topalow in Monaco gegen Kramnik leichten Vorteil in der Blindpartie.; 8...d5 9.cxd5 Sxd5 10.Sxd5 exd5 11.Lg2 Te8 12.Tc2 Ld6 13.Lg5 Lb4+ 14.Kf1 f6 15.Lf4+/= war auch etwas besser für Topalow gegen Judit Polgar (Wijk aan Zee 2005).] 9.e4 d5 10.e5!N [Und der letzte Hinweis auf Monaco: Gegen Boris Gelfand hatte Topalow, wie er in Sofia erzählte, seine Vorbereitung vergessen und statt des jetzt gespielten Zuges 10.Ld3?! ausgeführt. Nach 10...dxe4 11.Sxe4 Sbd7 12.Sxf6+ Sxf6 13.Lc3 c5 14.dxc5 Lxc5 15.0-0 Lb7 durfte Schwarz sehr zufrieden sein.] 10...Se4 11.Ld3 Sxc3?! [Topalow plädierte stattdessen für 11...Sxd2 mit leichtem Vorteil für den Anziehenden. 12.Dxd2 dxc4 13.bxc4 c5!? schien Ponomarjow spielbar.] 12.Txc3! Weil Weiß die Rochade hinauszögern konnte und so über die h-Linie Angriffsmöglichkeiten erhält, befanden Anand und Kramnik, dass der Ausgang der Partie schon hier vorbestimmt gewesen sei. 12...c5 13.dxc5 bxc5 14.h4! h6 [14...Te8 Ponomarjow dachte zunächst nach der Niederlage, dass dieser Zug die Partie hält - doch darauf entscheidet das kräftige Läuferopfer 15.Lxh7+! Kxh7 16.Sg5+ Kg8 17.Dh5 Lxg5 18.hxg5 Kf8 19.Tf3 Dc7 20.g6 ] 15.Lb1! Alles noch Vorbereitung von Topalow. Schwarz unterschätzte diesen stillen Zug, der Dc2 nebst Dh7 plant. 15...f5? [Laut Topalow hält allein 15...Sd7! 16.Dc2 f5 17.exf6 Sxf6 das Duell offen. Mit 18.Te3 gedachte Topalow allerdings am Drücker zu bleiben.] 16.exf6 Lxf6 17.Dc2 Gegen das Eindringen auf h7 gibt es bereits keinen wirksamen Schutz mehr. 17...d4 18.Sg5!! Anstatt den angegriffenen Turm aus dem Schlagbereich des Bauern zu ziehen, bietet Weiß ein weiteres Figurenopfer an. Ponomarjow muss reagieren, weil schlicht Dh7 matt droht. 18...hxg5 [18...Lxg5 19.Dh7+ Kf7 20.Lxg5! hxg5 21.Tf3+ Ke8 22.Lg6+ Kd7 23.Dxg7++- kostet den Turm auf f8.] 19.hxg5 dxc3 20.Lf4 [Auf der Hand liegt 20.Th8+! , doch der Turniersieger sah danach keinen klaren Gewinnweg - dieser existiert jedoch: 20...Kf7 21.Dg6+ Ke7 22.gxf6+ gxf6 23.Th7+ Kd6 24.Lf4+ Kc6 (24...e5 25.Lxe5+! Kxe5 26.De4+ Kd6 27.Dd5# ) 25.Le4+ Kb6 26.Lc7+ Dxc7 27.Txc7 Kxc7 28.Lxa8 Td8 29.Dc2 Sd7 30.Le4 ] 20...Kf7 [20...Ld4 rettet den Nachziehenden auch nicht: 21.Dg6! und gegen Th8+ nebst Dh7 matt ist nichts mehr zu erfinden.] 21.Dg6+ Ke7 22.gxf6+ Txf6 [22...Kd7 23.fxg7 Tg8 24.Df7+ Kc6 25.Dxe6+ Kb7 26.Le4+ Sc6 27.Dxc6# ] 23.Dxg7+ Tf7 24.Lg5+ Kd6 25.Dxf7 Dxg5 26.Th7! De5+ [26...Dc1+ 27.Ke2 Dd2+ 28.Kf1 Dd1+ 29.Kg2 und der weiße König hat sich in Sicherheit gebracht.] 27.Kf1 Kc6 28.De8+ Kb6 29.Dd8+ Kc6 30.Le4+! nebst Matt nach Dxe4 31.Dc7. 1-0

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