Kramnik verteidigt WM-TitelDrama im letzten Akt kostet Leko Schach-Krone; Ausgleich zum 7:7 durch eine Glanzpartievon FM Hartmut Metz, Oktober 2004 |
Nachdem Peter Leko zwei Züge vor dem Matt die Hand zur Aufgabe und Gratulation über das Schachbrett gereicht hatte, ergriff sie Wladimir Kramnik kurz und warf dann jubelnd die Fäuste in die Luft. Für den Stoiker aus Moskau ein überschwänglicher Gefühlsausbruch. Mit einer Energieleistung rettete der 29-Jährige in der 14. Partie seinen Titel als Schach-Weltmeister. Ein 7:7 genügte Kramnik in Brissago (Schweiz), um den Angriff des Herausforderers aus Ungarn gerade noch einmal abzuschlagen. Wie schon seine Vorgänger auf dem WM-Thron, Garri Kasparow 1987 gegen Anatoli Karpow und Michail Botwinnik 1951 gegen David Bronstein, egalisierte der Russe in letzter Sekunde das Ergebnis. Die Teilung des Preisgelds von einer Million Franken war für Leko kein Trost.
Auftakt zur entscheidenden Partie zwischen Wladimir Kramnik (links) und Peter Leko.
"Auch wenn das 7:7 ein gutes Resultat gegen Kramnik ist, reicht es leider nicht für die Schach-Krone", zeigte sich der Großmeister aus Szeged ebenso enttäuscht wie seine mit ungarischer Nationalflagge und T-Shirts mit dem Aufdruck "Hungary forever" angereisten Fans. "Ich bin aber erst 25 Jahre alt und blicke an diesem unglücklichen Tag in die Zukunft." Der Weltmeister atmete erleichtert auf: "Ich musste wirklich alles geben. Peter ist ein phänomenaler Verteidiger und hat mich mehr gefordert als Garri Kasparow bei meinem Titelgewinn 2000. Kasparow ist ein Genie, aber sehr emotional. Seine Schwäche spürt man. Dagegen zeigt Peter keinerlei Gefühle, egal wie schlecht er auf dem Brett steht. Er ist durch und durch sportlich."
Diese Trumpfkarte hat er aber nach Ansicht der Experten nicht ausreichend eingesetzt. In dem in der ersten Hälfte als "Kuschelwettkampf" verspotteten Duell gönnte der exzellente Fußballer dem physisch deutlich schwächeren Kontrahenten zu viele kurze Unentschieden und damit Ruhephasen. "Leko kann man nach diesem Match nur eines vorwerfen: Die kurzen Remis waren gegen seine Interessen. Nach dem großartigen Sieg in der achten Partie hätte Leko Druck machen und nachsetzen müssen", befand der deutsche WM-Kommentator Artur Jussupow und ergänzte, "dann hätte sich die Wahrscheinlichkeit eines Sieges erhöht." Der dreifache WM-Halbfinalist aus Weißenhorn glaubt auch an einen "verpassten K.o.-Schlag in der zwölften Partie". In dieser hatte sich Leko phänomenal verteidigt, offerierte dann aber mit zwei Mehrbauern eine Punkteteilung gegen den wankenden Kramnik. "Aus psychologischer Warte verstehe ich das Remis, weil Leko seinen Vorsprung beim 6:5 verteidigen wollte. Das hätte auch gut gehen können", bemerkte Weltklassespieler Jewgeni Barejew. Der Sekundant Kramniks ist jedoch im Nachhinein davon überzeugt, dass der auch in Runde fünf siegreiche Magyare nach der 4,5:3,5-Führung zu sehr auf Halten spielte. "Hätte Leko die zwölfte Partie gewonnen, wäre das Match mit dem 7:5 entschieden gewesen."
Die WM-Kommentatoren Artur Jussupow (links) und Helmut Pfleger.
So kam es "wie oft im Fußball: Eine Mannschaft stellt sich hinten rein, und die zurückliegende Elf übernimmt die Initiative", verglich Jussupow. Bereits in der 13. Partie besaß Kramnik Siegchancen. Den zweiten Erfolg nach seinem glücklichen Auftaktsieg in Runde eins schaffte der Weltmeister aus einer scheinbar nur minimal vorteilhaften Stellung heraus. Einen ernsthaften Fehler Lekos konnte kein Großmeister benennen. Der Russe zog einfach immer mehr die Daumenschrauben an. Im Endspiel opferte Kramnik zwei Bauern, um mit dem weißen König ins schwarze Lager einzudringen. Die Euphorie der ungarischen Kolonie wich Totenstille. In Zusammenarbeit mit dem verbliebenen Turm und Springer knüpfte Kramniks Monarch nach vier Stunden ein Mattnetz, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. "Es war ein Drama, wie sich noch alles umkehrte", erklärte TV-Kommentator Helmut Pfleger und erhob den letzten Akt der WM zu einem Meisterstück, das "in die Schach-Geschichte eingehen wird".
Die Zuschauer waren nach dem langweiligen Beginn endgültig versöhnt. Während im Centro Dannemann im Durchschnitt etwa nur rund 100 Zahlende pro Partie saßen, kletterte die Zahl der Live-Zuschauer im virtuellen Stadion in den sechsstelligen Bereich. Verfolgten bereits 96.000 verschiedene Surfer im Internet die zwölfte Begegnung, waren es am Schluss jeweils weit über 100.000. Die Fans beschäftigte nach Kramniks Erfolg sogleich wieder die Frage, ob es nun zu einer Titelvereinigung kommt. Beim Schach-Weltverband FIDE wurde der Weltranglisten-47. Rustam Kasimdschanow Weltmeister. Der Usbeke soll im Januar in Dubai, wo für mehrere Milliarden Dollar eine Schachstadt mit Hochhäusern entstehen soll, die Springern, Läufern oder Bauern ähneln, gegen Garri Kasparow antreten. Der Noch-Weltranglistenerste hatte 1993 die Abspaltung von der FIDE betrieben und war nach seiner Schlappe 2000 gegen Kramnik in den Schoß des Weltverbandes zurückgekehrt.
ACP-Präsident Joel Lautier (rechts) will Remisangebote vor dem 40. Zug verbieten. Links Dannemann-Manager Hans Leusen.
Der Dortmunder Carsten Hensel, Manager von Kramnik wie Leko, hat Zweifel, dass sein Schützling im nächsten Jahr auf den mutmaßlichen Sieger Kasparow trifft. "Seit dem Prager Abkommen 2002 ist nichts mehr passiert. Seit eineinhalb Jahren warten wir auf ein Gesprächsangebot der FIDE. Es geht dabei aber nicht nur um die Titelvereinigung, sondern auch um die Zukunft des Schachs", verkündete Hensel. Die Organisation der Profischachspieler (ACP) unterstützt seine Forderung. ACP-Präsident Joel Lautier hält die klassische Bedenkzeit mit zwei Stunden für 40 Züge nach einer Umfrage unter den ACP-Mitgliedern für die einzig wahre, um die "höchste Qualität" zu garantieren. Die FIDE-Bedenkzeit von 90 Minuten sei weder "klassisches noch Schnellschach". Um die Remisflut einzudämmen, will die ACP bei ihren Turnieren Remisangebote vor dem 40. Zug verbieten. Lediglich Zugwiederholungen (also inklusive Dauerschach) wären dann die einzige Möglichkeit für vorzeitige Friedensschlüsse. Zu spät für Leko - diese Regel hätte den mit weitem Abstand besten Sportler unter den Top-Großmeistern vermutlich zum WM-Titel gezwungen.
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Leko,P (2741) - Kramnik,V (2770) [A73]
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Kramnik,V (2770) - Leko,P (2741) [B12]
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