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Deutscher Meister vor dem ersten Zug matt

Erneuter Rückzug aus der Pleiteliga: Lübecker SV meldet 16 Tage vor Bundesliga-Start seine Mannschaft ab

von FM Hartmut Metz, Oktober 2003

mehr Schachtexte von Hartmut Metz

 

   Noch steht die Meisterschale in der Vitrine in der Lübecker Sophienstraße. "Wir werden sie bald zurückgeben müssen", sagt Eckhard Stomprowski mit Bedauern in der Stimme. Ein besonders tiefer Fall in der Pleiteliga, der an den Absturz der Schachspieler des FC Bayern München in den 90er Jahren erinnert: Als Serienmeister aus der Bundesliga zurückgezogen. Dem Lübecker SV von 1873 fehlt nach dem Titel-Hattrick und zwei deutschen Pokalsiegen das Geld für eine vierte erfolgreiche Saison. 16 Tage vor dem ersten Zug in der neuen Bundesliga-Saison ab 1. November verkündete Sponsor Winfried Klimek das Aus. Der Chef der Galaxis Technologie stellte abrupt sein Engagement ein.

   In schöner Regelmäßigkeit gibt es Rückzüge im deutschen Oberhaus. Am Ende der vergangenen Saison verabschiedete sich der SK Turm Emsdetten freiwillig in Richtung zweite Liga. Die Stuttgarter Schachfreunde erwogen dies auch lange, ehe sich die Schwaben dazu durchrangen, mit einer Amateurmannschaft den sicheren sportlichen Abstieg um ein Jahr zu vertagen. Den größten Knall hatte es vor fast zehn Jahren beim FC Bayern gegeben, als dessen Finanzjongleur Heinrich Jellissen plötzlich verstarb und seine Pleite offenbar wurde. Franz Beckenbauer vergaß damals sein "schau 'mer mal" und strich der eigenen Schach-Abteilung kurzerhand die Gelder. Die "Klötzchenschieber", wie der Bayern-Vordenker die Denkstrategen bevorzugt bezeichnete, waren damals weit erfolgreicher als die Kicker und heimsten einen Titel nach dem anderen ein - was vermutlich auch zum Verdruss beim Kaiser führte.

   Gespart hat der Fußballclub damit für seine Verhältnisse nur ein paar Penunzen. Um in der Spitze mitzuspielen reicht eine Viertelmillion - pro Saison, wohlgemerkt, und auch nicht pro Spieler wie bei den Balltretern. Auch in Lübeck ging es offiziell lediglich um 100.000 Euro. Die Oberfinanzdirektion Kiel hatte bei den Hanseaten angemahnt, künftig neben den Salären der ausländischen Großmeister auch deren Einkommen wie Reisespesen und -kosten zu versteuern. Letztere werden bei manchem klammen Bundesligisten großzügig abgerechnet, um im Gegenzug niedrigere zu versteuernde Honorare ausweisen zu können. Klimek wurde es zu viel. "Die Schach-Bundesliga lässt sich nicht angemessen vermarkten. Ein werblicher Gegenwert ist unter den gegenwärtigen Austragungsbedingungen nicht vorhanden. Die von uns angeschobene Internet-Übertragung wurde auch nicht weiterentwickelt", befand der Hersteller von Digitalreceivern. In den "Lübecker Nachrichten" beklagte Klimek die wenigen Bundesliga-Duelle zu Hause. "Was soll das Ganze, bei einem oder zwei Heimspielen pro Saison? Was haben die Fans davon?"

   Die Gründe für den Ausstieg wirken vorgeschoben. Schließlich handelte es sich bisher in der Bundesliga nie um Sponsoring, sondern mehr um Mäzenatentum durch vermögende Schachspieler. So war es auch bei Klimek, der lange für eine der Lübecker Reservemannschaften am Brett saß. Hinzu kommt bei Galaxis, dass die Staatsanwaltschaft bereits seit geraumer Zeit gegen den Vorstandsvorsitzenden wegen Verdachts auf Konkursverschleppung, Steuerhinterziehung und Subventionsbetrug ermittelt. "Da ist nichts dran", betont Klimek. In Lübeck gilt er als gewitzter "Geldbeschaffer bei Banken". Derselben Quelle zufolge spricht Klimek derzeit von einem Übernahmeangebot - die vermeintliche Kaufofferte solle dazu dienen, die Galaxis-Gruppe mit frischem Geld am Leben zu erhalten. Als äußerst vage Geschäftsidee dürfte es sich auch entpuppen, in die Set-Top-Boxen des Unternehmens für TV, Computer und Internet das Hamburger Topschachprogramm "Fritz 8" zu integrieren.

   Bundesliga-Spielleiter Jürgen Kohlstädt nennt die Begründung für den Rückzug des Meisters "fadenscheinig". Geld für den viel teureren Bundesliga-Handball habe Klimek offensichtlich noch. Geschätzte 500.000 Euro pro Jahr sollen es sein, die der HSV Hamburg von seinem geschäftsführenden Gesellschafter erhält. Dafür könnte man viele Großmeister ziemlich lange brüten lassen. Doch auch beim zweiten Steckenpferd des 50-Jährigen gab es häufig Engpässe. Beim Vorläufer des nach Hamburg umgezogenen HSV, den Handballern aus Bad Schwartau, warteten die Spieler oft monatelang auf ihre Gehälter und mussten erst prozessierten.

   Bestätigt fühlt sich Wilfried Hilgert. Er hatte schon vor zwei Jahren gegen die Emporkömmlinge aus der Hansestadt gewettert, die seiner SG Köln-Porz das Abonnement auf die Meisterschaft streitig machten. "Das war erbärmlich, was die abzogen und wie der Klimek redete. Ich habe gewusst, dass das so kommt. Ich hatte den Rückzug allerdings bereits im vergangenen Jahr erwartet und lag falsch mit meiner Prognose, dass er dann eben mitten in der Saison erfolge", äußert der Mäzen. Dem ehrgeizigen Kölner Immobilien-Mogul war es ein Dorn im Auge, dass sein in der ewigen Bundesliga-Statistik mit weitem Abstand führender Verein nun wie einst hinter den Bayern nur die zweite Geige spielte. Nach neun deutschen Titeln und sieben Pokalsiegen häufte Köln-Porz lediglich die Zahl der Vizemeisterschaften auf deren 13 an. Platz zwei ist dem soliden Kaufmann aber zu wenig - vor allem, wenn ihn Neureiche wie Klimek abhängen. "Schach ist leider so. Viele, die die schnelle Mark machten, drängen rein, kommen und gehen wieder." Nur Hilgert bleibt. Selbst nach seinem Tod wird das so sein: "Ich habe in mein Testament geschrieben, dass meine Erben den Verein sponsern müssen", betont der 70-Jährige.

   Inzwischen hat Hilgert schon Dutzende Mäzene überlebt, die sich im Glanze des edlen Denksports sonnten. Seit 1956 pumpt der Großgrundbesitzer unaufhörlich Geld in den Porzer Verein. Mit Hilgert in der ersten Mannschaft marschierte die SG von der Kreisklasse bis ins Oberhaus und mauserte sich in den vergangenen Jahrzehnten zum deutschen Vorzeigeklub. Der Millionär investiert nicht nur in Großmeister, sondern baute ein Schachzentrum, heuert Trainer an und fördert damit die Jugendarbeit. "Wir haben 13 Jugendteams, regelmäßig fahren 40 unserer Nachwuchsleute zu Turnieren. Ich predige schon seit 30 Jahren, dass alle Bundesligavereine mindestens eine Jugendmannschaft haben müssen", fordert Hilgert einen Mindeststandard. Dass die Lübecker keinen einzigen deutschen Akteur im 14er-Kader der Bundesliga hatten, war für ihn stets ein Graus. Konsequent setzte Hilgert immer den deutschen Nationalspieler Christopher Lutz ans erste Porzer Brett - selbst ein Weltmeister wie Alexander Chalifman musste sich dahinter einreihen. Den Russen warf er im Übrigen aus dem Team. Ihm wirft der streitbare Mäzen Kollaboration mit den Lübeckern vor. Seine Leistung habe Porz in der vergangenen Saison im direkten Duell die Meisterschaft gekostet. Stattdessen verpflichtete Hilgert Alexander Beljawski - kein Remisschieber, sondern ein Kämpfer, ganz nach dem Geschmack des kompromisslosen Domstädters. Damit will Porz endlich den zehnten Titel unter Dach und Fach bringen. Eine "interessante Saison" erwartet Hilgert ungeachtet der von 16 auf 15 Mannschaften reduzierten Bundesliga. Neben dem schärfsten Rivalen SC Baden-Oos traut der 70-Jährige "dem starken Aufsteiger Bremen, Wattenscheid und Solingen" einiges zu.

   Keinen Platz für Häme sieht Jürgen Gersinska. Dabei könnten die Macher des Schachclubs Baden-Oos eigentlich jubilieren. Ein Konkurrent weniger. Doch der Baden-Ooser Vorsitzende sieht keinen Anlass zur Schadenfreude. "Der Lübecker Rückzug tut mir Leid. Ich finde es immer bedauerlich, wenn eine Mannschaft zurückzieht - selbst wenn wir dabei im Kampf um den Titel profitieren. Für das Schach in Deutschland ist es eine ungute Situation, wenn der Sport so negativ dargestellt wird", bemerkt Gersinska. In Baden-Oos, das mit Köln-Porz nur noch einen ernsthaften Rivalen im Kampf um die Meisterschaft fürchten muss, sieht Gersinska keinerlei Gefahr, ein ähnlichen Schicksal zu teilen. "Unser Sponsor Grenke Leasing steht hinter uns. Unangenehme steuerliche Überraschungen gibt es nicht. Ein Steuerberater sorgt bei uns dafür, dass alles korrekt läuft. Wir stehen auch in engem Kontakt mit dem Finanzamt", unterstreicht der Vorsitzende des nominellen Titelfavoriten SC Baden-Oos.

   "Hoch bedauerlich", fand Lübecks Bürgermeister Bernd Saxe in seinem Urlaubssitz Mallorca den Rückzug. Der LSV von 1873 macht in Liga zwei mit der dort gemeldeten Reserve weiter. Laut Stomprowski hat diese "die nächsten fünf Jahre" keinerlei Ambitionen aufzusteigen. Den 130 Jahre alten Traditionsklub sieht er nicht in seinem Bestand gefährdet. "Der Verein mit seinen rund 120 Mitgliedern ist vom Rückzug der Profis nicht tangiert", sagt Stomprowski. Klimek verspricht derweil, den LSV weiter zu unterstützen. Der 50-Jährige plant laut den "Lübecker Nachrichten" "im kommenden Jahr ein internationales Großmeister-Turnier über eine Woche in Lübeck zu installieren. Da haben Lübecks Schachfreunde und der Verein weit mehr davon" - wenn es denn tatsächlich dazu kommt.

   Während dem Lübecker SV keine Sanktionen seitens des Deutschen Schachbundes drohen und nur die Kaution für die kommende Bundesligasaison in Höhe von 3.000 Euro verfällt, sind die Spieler die Gelackmeierten. "Ich bedauere sie, weil sie eine weitere Spielmöglichkeiten verlieren", erklärt Gersinska. Nur Klimeks Lieblingsspieler, Alexej Schirow, hatte rechtzeitig den Absprung geschafft. Der Vizeweltmeister von 2000 war mit seinen nur vier Einsätzen in der vergangenen Saison unzufrieden und hatte deswegen vor Transferschluss bei Baden-Oos angeheuert. Während Top-Ten-Spieler wie der Russe Alexander Grischuk oder der Brite Michael Adams den finanziellen Verlust verschmerzen können, steckt manch anderer Großmeister nun in der Klemme. Vor allem dem in Wismar lebenden Wladimir Epischin, der zwischen den Bundesliga-Pausen von Turnier zu Turnier hetzt, wird jeder Euro fehlen. Er hat sich, seine von ihm getrennt lebende Frau und seine zwei Kinder schon bisher nur mühsam ernähren können.


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