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Von Wohn- und Schlafzimmern im Kopf

Boris Beckers Gesetz aus Wimbledon gilt auch im Schach: Dortmund ist das Revier von Kramnik, Mainz jenes von Anand

von FM Hartmut Metz, August 2003

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   64 Felder sind 64 Felder. Immer 32 weiße und 32 meist braune, auch wenn offiziell von schwarzen geredet wird. Die Karrees sind alle um die 6 Zentimeter lang und breit, die Könige mit ihrem Kreuz 9 Zentimeter hoch; die unscheinbaren 16 Bauern sind nicht einmal halb so große Zwerge im Vergleich zu ihrer Majestät. Andere Proportionen beleidigen des ambitionierten Schachspielers Auge. Lediglich im Material unterscheiden sich die Figürchen, die täglich Millionen Menschen gefangen nehmen. Die zierlichen Spielgeräte sind bei besseren Rundenturnieren mit geladenen Großmeistern oder an den vorderen Brettern von Open aus feinem Holz, unten mit grünem Filz, damit sie geräuschlos über die 64 Felder gleiten und das ebenso feine Brett nicht zerkratzen. An den hinteren Positionen bei offenen Turnieren, deren Preisfonds sich aus Startgeldern der Amateure speisen, wird weniger Wert auf Ästhetik gelegt. Da mischen sich Springer und Läufer in unterschiedlichsten Formen und Größen. Kein schöner Anblick.

   Aber egal, ob nun wie vor wenigen Wochen beim ersten Schach-Open auf Grönland oder wie derzeit bei den Dortmunder Schachtagen: Die jeweils 16 weißen und schwarzen Protagonisten aus Holz ziehen seit Jahrhunderten stupide gleich. Das sollte doch die Ergebnisse ihrer Feldherren aus Fleisch und Blut beim logischsten aller Denkspiele vorhersehbar machen. Demnach müssten bei jedem Turnier Weltmeister Wladimir Kramnik und Ex-Weltmeister Viswanathan Anand mit an der Spitze liegen. Kleine Formschwankungen eingeschlossen, mal der eine vorn, mal der andere.

   Aber es ist wie im Tennis: Jeder hat sein eigenes "Wohnzimmer". Was für Boris Becker ("Mit Schach schule ich mein Gefühl für Geometrie, was für Tennis und Schach gleichermaßen wichtig ist.") der Rasen in Wimbledon war, ist für Kramnik Dortmund: sein Revier. Bei den neben Linares (Spanien) und Wijk aan Zee (Niederlande) zum Grand Slam des königlichen Spiels zählenden Schachtagen gewinnt nur einer: der Russe. "Meine Erfolgsserie hier ist einzigartig", unterstreicht der Weltranglistenzweite. 1992 begann sein kometenhafter Aufstieg, als er mit 17 das glänzend besetzte Open gewann. Seit 1995 ist Kramnik Stammgast im Großmeister-Turnier - und eilt von Sieg zu Sieg. Lediglich 1999 musste er mit Rang zwei hinter Peter Leko vorlieb nehmen. Im Vorjahr landete der Ungar auch vorne - allerdings nur, weil Kramnik zur Tatenlosigkeit verurteilt war. Die anderen Topspieler ermittelten den WM-Herausforderer - und bei seinem siebten Turniersieg in Dortmund hätte der Weltmeister im WM-Finale schlecht gegen sich selbst spielen können ...

 

Wladimir Kramnik

Wladimir Kramnik

 

   Heuer liegt der 28-Jährige in seinem Wohnzimmer noch nicht in Front. Mit 3:2 Zählern besitzt Kramnik allerdings eine gute Ausgangsposition für die zweite Turnierhälfte. Sensationell führt Qualifikant Viorel Bologan (4:1). Volle Punkte gegen Anand und die 17-jährige Dortmunder Nachwuchshoffnung Arkadij Naiditsch sowie Leko bescherten dem Moldawier einen komfortablen Vorsprung. Doch vor allem sein glücklicher Erfolg über WM-Herausforderer Leko zeigte, dass der Lauf des Weltranglisten-42. in jeder Partie abrupt enden könnte.

 

Viswanathan Anand

Viswanathan Anand

 

   Anand hat derweil einmal mehr bei den Schachtagen auf Sand gebaut. Der Weltranglistendritte wollte endlich in Dortmund gewinnen, so sehnlich wie einst Becker ein Sandplatzturnier. Gestärkt durch zig erste Plätze in den vergangenen zwölf Monaten brach der Inder heuer seinen heiligen Schwur von 2001, als er kläglicher Letzter wurde und nie mehr einen Fuß in Kramniks Revier setzen wollte. So agiert der "Tiger von Madras in Dortmund einmal mehr wie ein zahnloses Kätzchen. Gegen den 16-jährigen Teimour Radjabow (Aserbaidschan) und Bologan schien sich Anand eher im Schlafzimmer des Gerechten zu befinden. Lediglich gegen Naiditsch gelang ihm in Runde fünf Ergebniskosmetik, so dass er mit dem Lokalmatador, Leko und Radjabow bei für ihn schwachen 2:3 Punkten am Tabellenende liegt.

   Ein Glück ist Anand diesmal wenigstens beschieden: Das zweite deutsche Topturnier folgt so rasch wie noch nie auf die 31. Schachtage. Die Selbstzweifel plagen deshalb nur drei Tage, dann geht es bei den Chess Classic Mainz weiter. So wie sich Kramnik in Dortmund "besonders wohl fühlt", ergeht es Anand in der Rheingoldhalle. "Mental gut drauf", würde es der Tennisspieler nennen, dessen Wohnzimmer mittlerweile in Gerichtssälen und Steuerämtern verlegt sind. Trotz der Gluthitze: Anands Mainzer Kontrahentin Judit Polgar (Ungarn), die weltbeste Schachspielerin, wird sich warm anziehen müssen im Wohnzimmer des wie umgewandelten Tigers.


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