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Der Tiger hat noch Zähne"

Titel-Hattrick für Anand in Mainz / Ponomarjow bietet beim hochklassigen 3,5:4,5 enormen Widerstand

von Hartmut Metz, August 2002

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   Viswanathan Anand hat zum dritten Mal seit 2000 die Chess Classic gewonnen. In Mainz bezwang der weltbeste Schnellschachspieler den FIDE-Weltmeister Ruslan Ponomarjow in einem dramatischen Match mit 4,5:3,5. Am Anfang dominierte der 18-Jährige gegen seinen Vorgänger, ehe sich dieser am zweiten der drei Tage fing und zurückschlug. "Er hat besser gespielt und sich verteidigt - das fehlte mir", räumte Ponomarjow unumwunden ein. Der junge Ukrainer verdiente sich nicht nur durch sein attraktives Spiel und seine klaren Analysen den Respekt des Publikums, auch sein sympathisches Auftreten überzeugte. So kalt, wie er auf Außenstehende wirkt, ist der Kramatorsker keinesfalls. Erst einmal in Laune, reiht der FIDE-Champion eine humorvolle Aussage an die andere. Deswegen muss Ponomarjow nicht so geknickt sein wie in dem Moment, als er frustriert bemerkte: "Als Sieger wäre ich nächstes Jahr wieder eingeladen worden …" Hans-Walter Schmitt will die Chess Classic zumindest noch 2003 ins zehnte Jahr führen - und warum sollte nach dem spektakulären Match nicht wieder der Großmeister aus dem Donezk-Becken mit von der Partie sein?

   „Acht Partien wie diese zu spielen ist sensationell!", stellte sich Anand selbst wie seinem Widersacher ein blendendes Zeugnis aus. "Das Niveau war deutlich höher als im letzten Jahr gegen Wladimir Kramnik. Da wurde zu viel gepatzt", verglich Anand das diesjährige "Duell der Weltmeister" mit jenem von 2001 und begründete die aufregenderen Spiele mit den unterschiedlichen Stilen: "Gegen Wladimir ist es schwer, wirklich interessante Stellungen zu bekommen. Er pflegt einen klassischen Stil, während dieser Bursche dich anspringt und scharfe Eröffnungen wählt! Deshalb hatte ich mich auch darauf gefreut, gegen Ponomarjow anzutreten." Nach diesem "knappen, denkwürdigen Match" blickte Anand gerne den nächsten Tagen entgegen, "an denen ich richtig aufgekratzt sein werde". Vor allem die beiden "sehr schönen" Gewinnpartien ergötzten ihn. "Aus schachlicher Sicht hatte ich sehr viel Spaß", berichtete der "Tiger von Madras". Prächtig gelaunt konnte sich der Weltranglistendritte - als er erneut das schwarze Jackett des Siegers übergestreift bekam - natürlich eine Bemerkung mit Blick auf die Siegerin des "Duells der Grazien", Alexandra Kostenjuk, nicht verkneifen: "Nächstes Jahr möchte ich auch ein rotes Jackett!"

 

Chess Classic Mainz 2002: Ruslan Ponomarjow, Viswanathan Anand

 

Nachstehend die Chronologie der Ereignisse im "Duell der Weltmeister".

 

Bengalisches Feuer ausgetrocknet
Ponomarjow führt nach dem ersten Tag mit 2:1

 

   Ruslan Ponomarjow hat am ersten Tag des "Duells der Weltmeister" in Mainz einen sehr starken Eindruck hinterlassen. Schon zum Auftakt hatte Viswanathan Anand alle Hände voll zu tun, um noch ins Remis zu entwischen. "Ta8+ anstatt Tb1 hätte im 34. Zug gewonnen", wusste der FIDE-Weltmeister nachher sofort. Nach dem Remis in Runde zwei gewann Ponomarjow dafür die dritte Begegnung und geht mit einer 2:1-Führung in den Samstag, an dem erneut drei Spiele ausgetragen werden. "Das wird morgen für mich enorm schwierig", glaubte Ponomarjow und verwies darauf, dass er am zweiten Tag "zweimal mit Schwarz antreten muss. Außerdem sind drei Partien an einem Abend sehr anstrengend". Der Titelverteidiger bei den Chess Classic Mainz, Anand, will auch in der Tat angreifen, nachdem er erst einmal wieder das "Gefühl für die Figuren" entwickeln musste. "Ich habe schon so lange nicht mehr ohne Computer-Beratung gespielt", klagte der bei Madrid lebende Großmeister fehlende Praxis.

   Bisher stand es 1:1 im Vergleich zwischen dem Inder und Ponomarjow. Erst zweimal, bei den Remis im spanischen Linares, kreuzten die beiden Topspieler im Winter die Klingen. In den acht Partien gegen den weltbesten Schnellschachspieler räumten die Experten dem Ukrainer nur geringe Chancen ein, obwohl sich Ponomarjow "extrem lange auf das Match vorbereitet" hatte. Die Vorfreude seines Vorgängers auf dem WM-Thron, dass er "mal wieder gegen ein frisches Gesicht antreten" darf, währte nur kurz. Anand geriet sofort unter Druck. "Die Variante hat Ruslan schon zweimal auf dem Brett gehabt und gewonnen. Der Plan ist einfach: a4, a5 nebst axb6 gibt Weiß blendende Angriffschancen", wusste Viktor Bologan nach den ersten Zügen im Caro-Kann. Wie schon in den 40 Simultan-Partien hatte Ponomarjow gegen den Weltranglistendritten mit dem Königsbauern eröffnet. Genauer gesagt übernahm diese Aufgabe Ljubow Jarmilko, die Ehefrau des ukrainischen Generalkonsuls in Frankfurt. Sie brachte auch ein paar Geschenke für den Tross des Champions mit, Organisator Hans-Walter Schmitt bekam eine hübsch verpackte Flasche, die verdächtig nach Krim-Sekt aussah. Nur Druck gab es indes für Anand: Diesen auf seinen Damenflügel, wo der schwarze König nach der langen Rochade postiert war, konnte Anand selbst nach dem Damentausch nicht abschütteln. Das Programm "Pocket Fritz" wähnte den FIDE-Weltmeister stets im Vorteil, zeitweilig sogar mit zwei Bauerneinheiten, was einer klaren Gewinnstellung entspricht. Als die Stellung "abschussreif" schien und auch Anand den Glauben an seine Position verloren hatte ("Ich sah nicht wie, aber ich war mir sicher, dass ich auf Verlust stand"), verpasste sein Kontrahent den Knockout-Schlag. Im 34. Zug musste Ponomarjow nur Ta8+ spielen, um nach Lb8 35.Tb1 Kc7 36.Kf1 (schließt ein Grundlinienmatt aus; das von Großmeister Bogdan Lalic angeführte 36.g3 dient dem gleichen Zweck) den Sieg an seine Fahnen zu heften. Doch stattdessen erlaubte der 18-Jährige nach 34.Tb1 den Konter Ta5! 35.Txa5 Lxa5 36.Ta1 Td8. Danach war das Grundlinienmatt akut, weshalb sich das Nehmen des Läufers auf a5 verbot. Anschließend festigte Anand den Läufer auf a5 mittels Td5, so dass die Stellung ins Remis verflachte. "Ich dachte, ich gewinne nach Tb1", räumte der Weltranglistensechste einen Rechenfehler ein.

   Die Bilder in der zweiten Partie glichen sich - nicht nur was das Verhalten am Brett anlangt: Anand wie sein Widerpart halten beim Brüten häufig die Hand vor den Mund, so als ob die Gefahr bestünde, einen starken Zug auszuplaudern. Der "Tiger von Madras" wischt sich dabei in schwierigen Situationen mit der Handfläche über den Mund. Außerdem trinkt der 32-Jährige sehr viel während der Partien, in denen beide Seiten 25 Minuten Bedenkzeit plus jeweils zehn Sekunden pro ausgeführten Zug erhalten. Ponomarjow verwehrt sich diese feuchte Ablenkung gänzlich - und ganz trocken trägt er auch sein Spiel vor. Das Endspiel mit zwei Bauern am Königsflügel gegenüber einem Verhältnis von 3:1 zugunsten Anands auf der anderen Bretthälfte werteten die deutschen Koryphäen Fabian Döttling, ehemaliger U18-Europameister vom SC Baden-Oos, und Henrik Teske als sehr vorteilhaft für Schwarz. "Ich hätte den Turm getauscht und das Endspiel gewonnen", äußerte "Rambo" Teske. Flößte ihm die Kunst des "weltbesten Schnellschachspielers" (O-Ton des Weltmeisters) zu viel Respekt ein? Ponomarjow beschied sich jedenfalls mit einer Zugwiederholung.

   Anand versuchte die Strapazen der aufreibenden ersten zwei Partien bei einem Spaziergang mit Gattin Aruna entlang des Rheinufers abzustreifen. Was anschließend auf den 15. Weltmeister der Schach-Geschichte zukam, sollte weniger erquicklich werden: "Das Endspiel war sehr unangenehm. Ich versuchte mich so gut als möglich zu verteidigen, fand aber nichts Besseres", beschrieb der Titelverteidiger von Mainz die bittere Lektion. Ponomarjow pflichtete bei: "Die Eröffnung habe ich nicht vorbereitet, weil Anand zuvor kein Sweschnikow im Repertoire hatte. Das Endspiel war besser für mich, wenn nicht gar gewonnen." Schon im Keim erstickte der Kramatorsker die Bemühungen des Inders, noch irgendwo ein bengalisches Feuer anzuzünden. Das Brett geriet nur in der Hälfte des Nachziehenden in Brand. Zwar konnte Schwarz die zwei Minusbauern einsammeln - dafür aber wurde sein schutzlos gewordener König im rechten Eck matt gesetzt. "Ich weiß jetzt wenigstens, wie man gegen Sweschnikow vorgehen muss", gedenkt Anand künftigen Nutzen aus der bitteren Niederlage zu ziehen.

 

Anand übernimmt die Regie
Zweiter Tag "spannender als das Sport-Studio"

 

   In ein Wechselbad der Gefühle wurden die Fans von Viswanathan Anand gestürzt. Gingen sie zunächst mit der Gewissheit in das "Duell der Weltmeister", dass der weltbeste Schnellschachspieler klarer Favorit gegen Ruslan Ponomarjow ist, belehrte sie der Ukrainer am ersten Tag eines Besseren. Weniger der Rückstand von 1:2 hatte den "Tiger von Madras" gesorgt - vielmehr das Wie dürfte ihm zu denken gegeben haben. Sein Nachfolger auf dem FIDE-Thron führte ihn regelrecht vor und hätte bei der auf dem Brett stehenden Gewinnstellung in Runde eins gar mit 2,5:0,5 führen können. Erinnerungen an das Vorjahres-Match bei den Chess Classic Mainz wurden wach: 2001 hatte Wladimir Kramnik seinen Weltmeister-Kollegen Anand ein ums andere Mal überrollt - und auf wundersame Weise hielt der Inder den Anschluss. Am Ende obsiegte er gar im Blitz-Tiebreak nach einem vorherigen 5:5.

   Wie verwandelt wirkte Anand am zweiten Tag! Gleich in der ersten Partie übernahm er die Regie. Die Eröffnung verlief ganz in seinem Sinne. Den leichten Vorteil baute er konsequent aus. Als ein Frei- und Mehrbauer auf e6 auftauchte, wähnte sich der Titelverteidiger bei den Chess Classic noch nicht auf Gewinn stehend, aber "deutlich besser". Erstmals unterlag Ponomarjow seinem Widersacher, gegen den er vor Mainz nur zweimal in Linares gespielt und remisiert hatte. Organisator Hans-Walter Schmitt kommentierte die Vorführung treffend: "Der Tiger hat noch Zähne!" Der "Turniersenior" - der Rest der Stars in der Rheingoldhalle ist durchweg rund eineinhalb Jahrzehnte jünger - bewies in der Tat, dass er keine alte und zahnlose Raubkatze ist. Wirkte der sonst so witzige Anand zum Auftakt eher schlapp, funkelten seine Augen wieder in gewohntem Glanz und der Schalk schien in seinen Nacken zurückgekehrt.

   Sein Auftreten war auch in der fünften Partie mit Schwarz ein ganz anderes. Stand der 32-Jährige als Nachziehender bis dato stets mit dem Rücken zur Wand, glich der Weltranglistendritte problemlos aus. In der Kommentatorenkabine wies Artur Jussupow im Endspiel auf ein beachtliches Qualitätsopfer hin - und prompt "folgte" Anand der Empfehlung seines zeitweiligen Sekundanten, der ihn unter anderem 1998 beim WM-Finale gegen Anatoli Karpow in Lausanne betreute. Relativ gefahrlos sei die Preisgabe eines Turms für den Springer auf c4, meinten nicht nur Jussupow und sein Mitkommentator Eric Lobron. Weiß hatte hernach einen schwer zu deckenden Doppelbauern auf der c-Linie - und vor allem keine Einbruchsmöglichkeiten mit den Türmen ins schwarze Lager. "Ich fürchtete größere Probleme und war überglücklich über das Remis", gestand Ruslan Ponomarjow in der Pressekonferenz. Er sah für seinen Gegner noch stärkere Fortsetzungen, die ihn in die Bredouille hätten bringen können. Henrik Teske, die "Killerplauze aus Eisleben" (am Frühstückstisch erlaubte sich die Bulletin-Redaktion allmorgendlich den Spaß, den deutschen Großmeister als "bad boy" des Schachs und Kontrapunkt zu den "Grazien" aufbauen zu wollen; als weiterer Kampfname käme "Der Löwe von Thüringen" in Betracht, da sich das Sternzeichen Teskes, Fisch, weniger für solcherlei plakative Spiele eignet ... Obwohl der "Saale-Aal" auch nicht schlecht klänge! Und "Das Murmeltier von Kufstein" wäre auch passabel, wäre der erfolgreich in Österreich spielende Teske nicht so ein aufgewecktes Bürschchen), sah indes die Möglichkeit für Weiß, in ein besseres Bauernendspiel abzuwickeln. Dies bestätigten einige russische Großmeister unter den Zuschauern. Die an Dimitri Komarow und Viorel Bologan, Trainer des Ukrainers, überbrachte Kunde löste nach kurzer, heftiger Diskussion Kopfschütteln aus. Die Koryphäen auf der Bühne hatten aber die überraschende Wendung nach stetem Druck nicht außer Betracht gelassen und werteten das Endspiel als remisträchtig - Weltmeister blicken eben doch tiefer.

   Einig waren sich hingegen alle Beteiligten über den Remisschluss im dritten Duell des Tages. Ponomarjow glich als Nachziehender alsbald aus und stand dank der besetzten offenen a-Linie optisch leicht überlegen. "Kaum der Rede wert" fand der FIDE-Weltmeister den akademischen Vorteil. Anand sorgte sich ebenfalls wenig: "Ich sah keine Gefahr. Im Zweifelsfall holze ich mit dem Läufer den Springer so raus, dass ungleichfarbige Läufer aufs Brett kommen. Ich muss mich zwar auch danach noch präzise verteidigen, aber die Partie sollte ins Remis münden." 3:3 steht es somit vor den letzten zwei Begegnungen am Sonntag. Ein erneuter Blitz-Tiebreak wie im Vorjahr ist nicht ausgeschlossen. Angesichts dessen erklärte Schmitt am Samstagabend vor voller Halle in Richtung Publikum: "Das ist doch spannender als das Aktuelle Sport-Studio!"

 

Brillante Kombination hebelt Ponomarjow aus
Inder wünscht sich rotes Jackett

 

   Am letzten Tag waren bei den Chess Classic nur zwei Partien angesetzt. Schließlich droht bei der Ausgeglichenheit der Topspieler immer ein Unentschieden und somit ein Tiebreak. Die Gefahr, wie Wladimir Kramnik 2001 im Blitz den Kürzeren zu ziehen, schien Ponomarjow im siebten Duell vermeiden zu können. Trainer Komarow ballte bereits die Faust, als sein Herr und Meister die Daumenschrauben anzog, und Sekundant Bologan, Sieger im Ordix Open, klatschte zufrieden in die Hände. "Ich habe ihm gesagt, dass er nicht Vishy ist und langsamer spielen soll", hatte Komarow seinen Schützling erfolgreich zum längeren Brüten aufgefordert. Der FIDE-Weltmeister eroberte im Turmendspiel einen Bauern, indes hielt der neue Spitzenspieler von Bundesliga-Aufsteiger SC Baden-Oos mühelos das Remis. Ein vom Ooser Mannschaftskameraden Peter Swidler vorgeschlagenes Qualitätsopfer auf d6 hätte die schwarze Stellung wohl mehr erschüttert, wie Anand später bestätigte. Auch der achte Vergleich ließ zunächst den Schluss zu, dass die Kontrahenten ihr Gesicht mit einem ehrenvollen 4:4 wahren wollten. Die vier Türme wurden auf der d-Linie abgetauscht. Was sollte nun noch passieren? Der Todesstoß zum 4,5:3,5,! Mit einer brillanten Kombination - der 32-jährige Turniersenior opferte erst einen Springer für einen Bauern, dann warf er dem 18-Jährigen gleich den nächsten Schimmel zum Fraße vor - leitete der Ex-Weltmeister den entscheidenden Angriff ein. Ponomarjow durfte den zweiten Gaul gar nicht nehmen. Bei anhaltendem Angriff gegen den ins Freie getriebenen König sammelte Anand anschließend Bauer um Bauer ein. Am Schluss waren es fünf Bauern gegen einen armseligen Klepper, so dass Weiß leichten Herzens die Dame abtauschen konnte. Der wackere Ponomarjow reichte die Hand zum Zeichen der Aufgabe übers Brett. Wieder hatte Anand bei den Chess Classic die Oberhand behalten.


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