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"Kaputte Ehe" mit dem DSB

Freiburgerin Lara Stock gewinnt U10-Titel für Kroatien / Parallelen mit U18-Weltmeisterin Elisabeth Pähtz

von FM Hartmut Metz, Dezember 2002

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Lara Stock, Elisabeth Pähtz

Die deutschen Nachwuchs-Weltmeisterinnern verstehen sich blendend: Lara Stock (vorne) und Elisabeth Pähtz. Foto: Thomas Pähtz

 

   „Elisabeth Pähtz spielt mutig und hat Ideen", lobte Garri Kasparow, schränkte aber auch gleich ein, "sie besitzt allerdings schwache Nerven." Der beste Schachspieler aller Zeiten fällte sein gestrenges Urteil, nachdem er vor zwei Wochen auf der Münchner Messe "Electronica" gegen die 17-jährige deutsche Großmeisterin zweimal knapp einer Niederlage entrinnen konnte. So endete der Schaukampf, in dem der russische Ex-Weltmeister acht gegenüber 16 Minuten Bedenkzeit pro Partie erhielt, mit 6:0. Elisabeth Pähtz kommentierte wie immer mit spitzer Zunge: "Gott sei Dank habe ich die zwei Gewinnpartien verloren. Ansonsten hätte Kasparow wieder eine Stinklaune besessen."

   Lieber widerlegte die Erfurterin das "Ungeheuer von Baku" bei der anschließenden Jugend-WM. Verpatzte die U10-Vizeweltmeisterin von 1995 bis dato regelmäßig in der letzten Runde knapp den Titel, hielt sie auf Kreta endlich ihre Nerven im Zaum und wurde erste deutsche Jugend-Weltmeisterin. Überraschende Erklärungen kommen Elisabeth Pähtz so schnell über die Lippen wie starke Züge in Blitzspielen. "Ich bin den Wettbewerb diesmal locker angegangen, weil ich keine Lust hatte", kokettiert die Elfklässlerin des Dresdner Sportgymnasiums nach fünf Wochen Schach pur. Zuvor hatte die deutsche Nationalspielerin auch die Schach-Olympiade in Bled bestritten, und Vater Thomas Pähtz "traute" sich zunächst gar nicht, seiner Tochter mitzuteilen, dass "zwischen den 25 Partien noch ein PR-Termin mit Kasparow ansteht".

 

Elisabeth Pähtz

Elisabeth Pähtz fühlte sich zu müde, um schlecht zu spielen. Foto: Metz

 

   Das Mammut-Programm wurde jedoch ihren schärfsten Rivalinnen bei der U18-WM zum Verhängnis. Die in Slowenien überragende Xue Zhao, die China mit 10:1 Punkten zur Goldmedaille führte, landete diesmal erschöpft mit 6,5/11 abgeschlagen auf Rang zwölf. Die französische Europameisterin Marie Sebag (8) musste mit Bronze vorlieb nehmen. Nachdem Tamar Tsereteli (Georgien) in der Schlussrunde am Nebenbrett (Pähtz: "Ich habe fast nur noch dort zugeschaut") unterlag und bei ebenfalls acht Punkten verharrte, war der Weg frei für Pähtz. Mit einem sofort vereinbarten Remis schob sich die Spitzenspielerin des deutschen Meisters Dresden als einzige Teilnehmerin auf 8,5 Zähler. "Die L.M.A.A.-Stimmung war der entscheidende Grund", befand Thomas Pähtz. Der Großmeister, der zusammen mit Miroslav Schwartz die Betreuung und das Training leitet, fühlte sich bestätigt: "Ich habe immer gesagt, irgendwann wird Eli Weltmeisterin, wenn keiner damit rechnet."

   Der im Nachwuchsbereich nicht gerade von Erfolg verwöhnte Deutsche Schachbund (DSB) brachte sich in Heraklion selbst um einen zweiten Titel. Profitierte der DSB wie viele andere europäische Verbände von den Rochaden aus den ehemaligen sowjetischen Staaten - Roman Slobodjan und Leonid Kritz gewannen in den 90er Jahren Gold -, nahm Lara Stock den umgekehrten Weg. Die zehnjährige Freiburgerin spielt unter kroatischer Flagge. Eine Parallele mit der Familie Pähtz. Die trat 1996 kurzzeitig bei einem internationalen Schnellschach-Wettbewerb für Luxemburg an. Thomas Pähtz ärgert sich noch heute, weil damals die Funktionäre seine Tochter nicht nominierten. "Andere wollen auch mal mitspielen", lautete die wenig leistungsorientierte Begründung. Zum "vergifteten Klima" trug vor allem bei, dass Thomas Pähtz jun. (19) trotz dreier deutscher Einzeltitel nur einmal zu einer EM geschickt wurde. "Die wussten genau, dass sie mich damit treffen, wenn sie meinen Sohn nicht nominieren", hat Thomas Pähtz sen. die Affäre noch immer nicht ganz verwunden. Der engagierte wie erfolgreiche Jugendtrainer, der auch die deutschen Meister Ferenc Langheinrich und Thomas Hänsel förderte, hatte einst in der DDR seinem Filius aus einer Laune heraus seinen Vornamen gegeben, um irgendwann einen Großmeister Thomas Pähtz in der Familie zu haben. Der damalige Internationale Meister hatte schon alle Hoffnungen fahren lassen, im nur olympische Sportarten fördernden Arbeiter- und Bauernstaat die höchste Würde zu erringen. Der Junior sollte es deshalb irgendwann richten.

   Als seine Tochter vor ihrem größten Erfolg stand, hielt es der Erfurter nicht mehr aus. Die letzten Partien hielt er sich fern des Spielsaals. Unbeeindruckt eilte Elisabeth Pähtz derweil von Sieg zu Sieg. "Dass wir am Schluss immer Joggen gingen, war mein entscheidendes Plus. Ich war deshalb fitter als die Chinesin und Sebag", befand die neue U18-Weltmeisterin nach den drei letzten Siegen und dem Schlussrunden-Remis. "Diesmal hatte ich den Vorteil, dass ich die Partie nicht gewinnen musste, sondern nur dasselbe Resultat wie Tsereteli benötigte. Die Georgierin war weich in der Birne", kommentierte sie das Spiel der verbliebenen Rivalin, die verlor, gewohnt flapsig. Der Zorn über ihre einzige Niederlage, die aus einem Fingerfehler in der Eröffnung resultierte ("Ich hatte die Dame berührt und musste sie auf ein schlechtes Feld stellen"), war da natürlich schon längst verraucht.

   Die Posse um Lara Stock schwelt dagegen weiter: Michael Stock machte im wahrsten Sinne des Wortes kurzen Prozess und zog gegen den DSB vor Gericht. Nach den Querelen gab Nachwuchs-Bundestrainer Michael Bezold auf, und Papa Stock besorgte seiner Tochter den Pass ihrer aus Kroatien stammenden Mutter. "Ich denke nicht, dass Lara für alle Zeiten für den DSB verloren ist", meint Leistungssportreferent Thomas Delling dennoch. Wenn der Einfluss von "überehrgeizigen Vätern" nachlasse, "reguliert sich das mit fortlaufendem Alter selbst", glaubt der Sport-Bürgermeister von Hoyerswerda. Man wolle sich mit Stock keinen "Kampf bis aufs Messer" liefern, aber "bestimmte Prinzipien gelten in Verbänden für alle".

   Der Freiburger sieht das anders. Die vom Badischen Schachverbandspräsidenten Eberhard Beikert gewünschte Rückkehr in den Schoß des DSB lehnt Stock deshalb ab, obwohl er sich angeblich "als Deutscher und Freiburger nichts sehnlicher gewünscht hätte, als die Medaille für Deutschland zu holen". Eine Woche nach dem WM-Gewinn erklärte er, "Vorkehrungen getroffen zu haben, dass Lara nicht mehr für Deutschland spielt".

   Zwiespältige Gefühle löst Michael Stock nicht nur bei Jugendlichen aus, die Stein und Bein schwören, dass er mit seiner DWZ von 2169 (und einer im Vergleich dazu überhöhten Elo von 2400) der eigenen Tochter schon Züge vorsagte. Michael Stock reagiert zuweilen auch rechthaberisch und ähnlich impulsiv wie einst Rustam Kamsky, Vater des Weltklassespielers Gata Kamsky. Das kann einem Leserbrief der Schweizerin Ruth Bohrer entnommen werden, den "Die Schachwoche" in der Ausgabe 49/2002 veröffentlichte: "Lara Stock ist ein sehr talentiertes und liebenswertes Mädchen, dies konnte ich bei meiner Partie gegen sie im Hilton Open in Basel feststellen. Sie stand gegen mich auf Gewinn, ließ mich aber ins Remis entschlüpfen. Nachher wollten Lara und ich die Partie im Analyseraum anschauen. Wir hätten gerne von der Grundstellung aus begonnen, doch Laras Papa ließ dies nicht zu; er wolle gleich das Endspiel unter die Lupe nehmen. Also fügten wir uns. Er stellte aber nicht alles richtig auf; wir korrigierten ihn, doch er beharrte auf seiner Version. Zufällig kam ein Meister vorbei und gratulierte Lara. Er sagte ihr, dass sie hätte gewinnen können, und setzte die angesprochene Stellung richtig aufs Brett. Da fegte Herr Stock die Figuren weg (sie fielen zu Boden) und meinte sinngemäß, der Mann solle sich um seine eigenen Belange kümmern. Wir starrten ihn entsetzt an, denn er war voller Aggressivität. Auf meinen Einwand, wir könnten ja ab Blatt spielen und kämen dann automatisch zur richtigen Stellung, sagte er zu Lara: ,Komm, wir gehen, du hast hier nichts verloren.' Der Turnierleiter des Jugendturniers, welches vorher stattgefunden hatte, erhielt übrigens das Schreiben eines Rechtsanwaltes mit der Ankündigung, dass er wegen einer Bemerkung, die er gegenüber Herrn Stock äußerte, vor Gericht gezogen würde. Liebe Lara, vielleicht brauchst du einen solchen Vater, um so gut Schach zu spielen (ich glaube es nicht), aber er ist auch ein Klotz an deinem Bein. Auch wenn ich dafür gerichtlich belangt werde - dies ist meine Meinung", schrieb die Baslerin Ruth Bohrer.

   Der besten Neunjährigen des Vorjahres, die im Feld der U10 14. geworden war, hat die WM in Heraklion nicht nur "Spaß gemacht", weil sie Platz eins belegte. "Ich spielte besser als bei der EM mit Platz zehn", berichtet Lara Stock und freut sich, dass alles auch "schön organisiert war". In den Augen des Oberliga-Niveau besitzenden Vaters war die kroatische Meisterin (mit 9/9) auf Kreta "so gut wie noch nie". Der Beweis: Mit 9,5:1,5 Punkten landete sie einen halben Zähler vor der Konkurrenz und weit vor den nominierten Deutschen.

   Das Tischtuch scheint zerschnitten. Ein offener Brief von DSB-Präsident Alfred Schlya im Internet (www.chess-international.de) trug nicht zur Versöhnung bei. Der Oberhausener schrieb: "Liebe Lara, zur Erringung der Weltmeisterschaft U10 möchte ich dir im Namen des Deutschen Schachbundes, dessen Mitglied du ja bist, recht herzlich gratulieren. Mit diesem hervorragenden Erfolg hast du für das Schachland Kroatien, für das du in diesem Turnier gestartet bist, schon in jungen Jahren eine große Leistung erbracht, auf die du mit Recht stolz sein kannst. Für die Zukunft wünsche ich dir auch weiterhin viel Erfolg, mögen diesem Titel noch weitere folgen. Mit diesem Wunsch verbleibe ich mit freundlichen Grüßen Alfred Schlya". Die Antwort von Lara Stock beziehungsweise besser ihrem Vater lässt an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: "Lieber Herr Präsident, vielen Dank für Ihre Glückwünsche zur Schachweltmeisterschaft im Namen des Deutschen Schachbundes. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Ich kann aber nicht verstehen, dass ich trotz meines guten Abschneidens bei der WM 2001 in Oropesa del Mar in Spanien und anderer Erfolge (auch DWZ) dieses Jahr weder die EM noch die WM für das Land, in dem ich geboren bin, wohne und zur Schule gehe, nicht spielen durfte. Ich weiß auch, dass Volker Widmann, Ihr Badischer Leistungssportreferent und 2. Vorsitzender der Badischen Schachjugend, ein Bittschreiben an Sie richtete. Es heißt, sie hätten es abgelehnt. Es wäre schön, wenn Sie mir zu all dem eine Antwort geben könnten. Hat dies alles eigentlich mit Sport zu tun? Mit vielen Grüßen Lara Stock".

   Während Leistungssportreferent Delling einen "Streit um Kaisers Bart" auf Kosten der Kinder sieht und Schlya seiner Versuche wegen, "Normalität herbeizuführen", sowie Lara Stock ob ihres "großen Talents" lobt, fahren andere Protagonisten schwere Geschütze auf: "Von Thomas Delling erhielt ich einst acht Wochen lang keine Antwort wegen der EM-Teilnahme von Thomas. Erst als die Europameisterschaft begann, traf ein Brief von ihm ein, der DSB würde eine Teilnahme meines Sohnes bezuschussen", erinnert sich Thomas Pähtz sen. noch allzu gut. Deutlicher nennt Christian Bossert die Dinge beim Namen: "Die Talenterkennung ist beim DSB zurückgeblieben", meint der Geschäftsführer des Karpow-Schachzentrums, das vom Sponsor von Bundesligist SC Baden-Oos, Wolfgang Grenke, getragen wird. Sein harsches Urteil sieht er durch die Empfehlung des DSB bestätigt, "Lara solle doch ein Open gegen 50- oder 60-Jährige spielen anstatt gegen Gleichaltrige". Verständnis dafür, dass das "Gnadengesuch" des badischen Funktionärs Widmann von der DSB-Leistungssport-Kommission abgeschmettert wurde, zeigt Bossert nicht im Geringsten. "Der DSB hätte mehr tun können", sagt der Baden-Badener und ergänzt, "bei ehrgeizigen Vätern muss man eben ein Auge zudrücken."

   "Der DSB sollte doch froh sein, dass es Leute wie Herrn Stock gibt", haut Thomas Pähtz in dieselbe Kerbe. Ebenso wie der Erfurter hat der 48-Jährige eine talentierte Schachgruppe aufgebaut. Zusammen mit Juan Fernandez betreut Michael Stock in Freiburg rund 120 Schüler, von denen viele inzwischen dem SC Wiehre angehören. Sein Team der Turnseeschule wurde heuer deutscher Grundschul-Meister. Vor dem "großen Bahnhof", den der Bezirk Freiburg nach dem WM-Gewinn anberaumte, "flüchtete" Michael Stock kurzerhand. Der streitbare Breisgauer focht auch mit manchem Bezirksvertreter einen Strauß aus. "Wenn man nicht in Sack und Asche kommt, hat man keine Chance", ist er auf nur wenige Funktionäre gut zu sprechen. Während Pähtz als Großmeister mangels finanzieller Möglichkeiten seine Kinder selbst unterrichtete, kann der vermögende Stock Toptrainer wie Philipp Schlosser bezahlen. Der Großmeister spielt ebenso wie Lara für den SC Baden-Oos, der die U10-Weltmeisterin demnächst auch im Oberhaus der Damen einsetzen will. Mit zehn würde Lara Stock damit fast an den Rekord von Elisabeth Pähtz heranreichen, die erstmals mit neun in ein Bundesliga-Aufgebot rutschte.

   Obwohl Elisabeth Pähtz als 16-Jährige schon bei den Frauen bis ins WM-Achtelfinale gelangte, äußert ihr Vater: "Michael Stock hat's finanziell leichter. Vielleicht kommt bei Lara, die ein ganz liebes Mädchen ist, deshalb noch mehr raus als bei Elisabeth." Das wird die Zukunft zeigen. Erst einmal müssen die beiden Mädchen, die sich prächtig verstehen, wieder zur Schule. Nach fünf Wochen Pause hat Elisabeth Pähtz vor allem Mathematik zu pauken, um in der elften Klasse des Dresdner Sportgymnasiums den Anschluss zu halten. Die deutsche Damenmeisterin von 1999 will nach dem Abitur entscheiden, ob sie auf die Karte Schach setzt. Einstweilen schwirren der frisch Verliebten ohnehin mehr Gedanken um den neuen Freund, den norwegischen IM Leif Johannessen (22), durch den Kopf …

   Die zehnjährige Lara Stock vergnügt sich derweil mit der neuen Tischtennisplatte, die sie als Belohnung für Platz eins erhielt. Talent besitzt die sehr gute Schülerin auch dafür dank der Seelenverwandtschaft mit Tennis. Bei ihrem zweiten Hobby, das sie mit wöchentlich fünf Trainingseinheiten auf dem Platz sogar häufiger betreibt als Schach (einmal donnerstags fünf Stunden mit Schlosser), zählt die Freiburgerin zum badischen Landeskader. Beim Tennis gibt es zwar noch mehr überkandidelte Eltern, die ihre Kleinen auf Teufel komm raus zu Weltstars zu peitschen gedenken, aber insgesamt scheint der Deutsche Tennis Bund momentan im Vergleich zum Deutschen Schachbund ein Idyll …


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