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Computer kennen keine Schönheit, Menschen sterben in ihr

Deep Fritz gleicht gegen Wladimir Kramnik aus, weil er Picasso statt Strichmännchen kreieren wollte

von Hartmut Metz, Oktober 2002

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   Computer kennen keine Schönheit. Ihr Dasein besteht nur aus Einsen und Nullen. Strom, kein Strom. Der Mensch lässt sich von Schönheit becircen und verzücken. Einer wie Wladimir Kramnik, Sohn eines Bildhauers und einer Musikerin aus Tuapse am Schwarzen Meer, der Literatur und Philosophie liebt, sowieso. Magisch angezogen fühlte sich der Schach-Weltmeister, als sich im Duell "Mensch gegen Maschine" eine besondere Gelegenheit bot. "Ich konnte unmöglich der Schönheit dieses Zuges widerstehen", berichtete der 27-Jährige nach seiner zweiten Niederlage in Folge, die Deep Fritz zum 3:3 ausgleichen ließ.

 

Schach-Weltmeister Wladimir Kramnik

Schach-Weltmeister Wladimir Kramnik kontra weltbestes PC-Programm (Foto: Chessbase)

 

   43 Minuten lang brütete Kramnik in Bahrain über seinen 19. Zug. Mit dem Läuferzug nach d5 oder dem Schlagen eines feindlichen Turmes mit seinem Springer konnte sich der Russe einen kleinen, aber dauerhaften Vorteil verschaffen. Die Gefühle wogten in ihm hin und her. Ein unkalkulierbares Risiko eingehen, indem er sich auf das Terrain des Programms begab? Schachtaktik wagen, die Computer wegen ihrer Rechengewalt mit über drei Millionen durchratternden Zügen pro Sekunde besser als jeder Mensch beherrschen? Letztlich vertrieb der Großmeister nach 43 Minuten alle Bedenken, die zwischen seinen Schläfen pochten. Nach 43 quälend langen Minuten für die Zuschauer live vor Ort in Manama und den Millionen im Internet, von denen einer schon mutmaßte, Kramnik sei "abgestürzt", schritt der Weltmeister zur Tat: Sein Springer schlug den Bauern auf f7 und zerrte den gegnerischen König aus seinem Verschlag hinter den schützenden Rochade-Bauern. Triumph oder Heldentod!

   Ein gewagtes Spiel mit dem Feuer, das schon sein Vorgänger auf dem WM-Thron, Garri Kasparow, 1997 gegen den IBM-Großrechner Deep Blue mit einer 2,5:3,5-Niederlage bezahlt hatte. Doch wer wollte widerstehen, wenn er die Wahl zwischen Picasso und Strichmännchen hätte? Den Weltklasseakteur mit dem klassischsten Spielstil dürstete es nach Opulenz statt schlichter Klarheit. "Es hätte die schönste Partie meines Lebens werden können", formulierte Kramnik nach dem Harakiri-Opfer. Doch mit einer Kaltblütigkeit, die nur Computer besitzen, schlug Deep Fritz die Attacke ab.

   Programme sorgt es im Gegensatz zu Spielern aus Fleisch und Blut wenig, wenn ihr König im freien Feld umherläuft, aber keine direkte Gefahr zu erkennen ist. Nach fünf ruhig angelegten Partien befand sich das Elektronenhirn endlich in seinem Element. Zu spät erkannte Kramnik, dass sein Angriff nach dem geplanten Damenschach auf e6 durch den brillanten Verteidigungszug des Läufers nach h4 widerlegt würde. Ironischerweise strebte hernach Deep Fritz erstmals den Damentausch an, den zuvor immer Kramnik forcieren wollte. Anschließend entschied ein schwarzer Freibauer, der unwiderstehlich auf das Umwandlungsfeld zur Dame zog, das spektakuläre Duell. Der Weltmeister streckte im 34. Zug die Waffen.

   Für seinen Selbstmord musste der Moskauer harsche Kritik einstecken. Malcolm Pein, Internationaler Schach-Meister und Berichterstatter des Londoner "Daily Telegraph", bekundete schon während der Partie seinen Unmut. "Ich kann nicht verstehen, warum Kramnik einen schönen dauerhaften Vorteil zugunsten einer übermütigen Idee wie dieser wegwirft. Auf diese Art darf man nicht gegen Computer spielen!", urteilte der Engländer erbarmungslos. Obenauf befanden sich die Programmierer. Frans Morsch, Vater von Deep Fritz, freute sich: "Manche Leute hatten uns nach dem 0,5:2,5-Rückstand schon abgeschrieben. Doch wir haben aus den zwei Niederlagen Lehren gezogen und fanden Mittel und Wege, gegen Kramnik zu bestehen."

   Trotz des Ausgleichs vor den letzten zwei Partien am Donnerstag und Samstag war Kramnik mit sich im Reinen. "Ich denke, ich kann das Match noch gewinnen und bin keineswegs betrübt über die Niederlage. Das kann man nach einer solch herrlichen Partie nicht sein. Ich machte keinen Fehler - aus menschlicher Sicht. Die Partie war ein Genuss und so schön." Computer können auch nicht genießen.

 










W: Kramnik S: Deep Fritz

 

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6 4.g3 La6 5.b3 Lb4+ 6.Ld2 Le7 7.Lg2 c6 8.Lc3 d5 9.Se5 Sfd7 10.Sxd7 Sxd7 11.Sd2 0-0 12.0-0 Tc8 13.a4 Lf6 14.e4 c5 15.exd5 cxd4 16.Lb4 Te8 17.Se4 exd5 18.Sd6 dxc4 19.Sxf7 Kxf7 20.Ld5+ Kg6 21.Dg4+ Lg5 22.Le4+ Txe4 23.Dxe4+ Kh6 24.h4 Lf6 25.Ld2+ g5 26.hxg5+ Lxg5 27.Dh4+ 27.De6+ Sf6 28.f4 reicht wegen der Verteidigung 28...Lh4!! nicht aus 27...Kg6 28.De4+ Kg7 29.Lxg5 Dxg5 30.Tfe1 cxb3 31.Dxd4+ Sf6 32.a5 Dd5 33.Dxd5 Sxd5 34.axb6 axb6 0-1 34...axb6 35.Txa6? verliert wegen 35...b2 nebst anschließender Umwandlung in eine Dame

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