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Schwachen Geist matt gesetzt

Interview mit der 70-jährigen Schach-Legende Viktor Kortschnoi

von Hartmut Metz, März 2001

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Viktor Kortschnoi

Viktor Kortschnoi

   Viktor Kortschnoi ist ein Phänomen. Am 23. März feiert der Schweizer seinen 70. Geburtstag und zählt immer noch zu den stärksten Schachspielern auf dem Globus, obwohl er im vergangenen Jahr als 46. der Weltrangliste 29 Plätze einbüßte. Zur Legende machten den sowjetischen Emigranten seine Duelle mit dem russischen Vorzeige-Kommunisten Anatoli Karpow, dem er dreimal die Weltmeisterschaft überlassen musste. Die Kämpfe hielten von 1974 bis 1981 die Welt in Atem und inspirierten Tim Rice sowie die Abba-Komponisten zum Erfolgs-Musical „Chess". Heutzutage freut sich der immer noch vor Energie strotzende „Viktor der Schreckliche" vor allem über zweierlei: „Die Jungen erwarten, dass Opa einfach umfällt. Dann aber kann Opa fünf Stunden lang Schach spielen und die jungen Gegner an die Wand drücken." Noch mehr Wonne bereitet dem Wohlener (Aargau) der Gedanke, dass sein im Mai 50 Jahre alt werdender Erzrivale Karpow als Nummer 20 bald an ihm vorbei aus den Top 100 der Weltrangliste stürzt. Mit dem stets unterhaltsamen Schach-Denkmal Viktor Kortschnoi, das gerne einmal von der ursprünglichen Frage abschweift, sprach Hartmut Metz.

Metz: Herr Kortschnoi, 70 Jahre und noch immer voller Energie.

Viktor Kortschnoi: Ohne Energie muss man sich zum Sterben vorbereiten. Nicht nur Schach ist mit Energie verbunden, es gehört zum ganzen Leben. Ohne könnte ich mit allem aufhören.

Metz: Die meisten Weltklassespieler fallen eher mit 40 als mit 50 deutlich ab. Sie haben in dem Alter noch um die Weltmeisterschaft gekämpft. 20 Jahre später sind Sie weiter unter den Top 50. Fühlen Sie sich nicht ausgebrannt?

Kortschnoi: Nein, keineswegs. Ich finde immer wieder etwas Interessantes auf dem Schachbrett (Anmerkung: Das bestätigte sich nach dem Interview, als Kortschnoi ein famoses Figurenopfer im Königsgambit zeigte, das er entdeckt hatte). Schach fasziniert mich immer noch, und ich möchte diese Begeisterung mit allen teilen. Ich arbeite ziemlich viel. Momentan allerdings etwas weniger an meinem Spiel, weil ich mit meinen 100 Partien beschäftigt bin, die ich für meine dreibändige Autobiographie bei Edition Olms zusammentrage. Deswegen sackte auch meine Elo-Zahl ab. Ich besitze viel Energie, kann aber nicht gleichzeitig die Bücher schreiben und Erster im Turnier werden.

Metz: Aber wenn die Biographie abgeschlossen ist, lehren Sie die Jungen wieder das Fürchten und klettern in der Weltrangliste?

Viktor Kortschnoi mit seiner Frau

Viktor Kortschnoi mit seiner Frau

Kortschnoi: Ich hoffe doch, auch wenn die neuen Entwicklungen alten Leuten zu schaffen machen. Die Computer sorgen für Veränderungen. Ein wenig benutze ich sie mittlerweile selbst zur Analyse, obwohl mir das nicht gefällt. Der Computer ist verantwortungslos. Damit will ich ausdrücken: Ich opfere eine Figur, danach verkündet der Computer, er gewinne. Ich gebe einen starken Zug ein, schon meint er: Ausgleich. Dann folgt ein weiterer starker Zug und er gibt sich geschlagen. Wiederhole ich diese Operation zehn- oder zwanzigmal, ändert sich nichts. Er kann nicht begreifen, dass dieses Figurenopfer richtig ist. Trotzdem arbeite ich mit dem Computer, wobei mir meine Frau als „Technikerin" hilft. Ich kann nicht mehr, als eine Taste zu drücken. Die Computer trugen dazu bei, dass sich die Partien verkürzten. Hängepartien würden ansonsten durch sie entschieden. FIDE-Präsident Kirsan Iljumschinow unterliegt dem Wahn, alles in Richtung Blitzpartien zu bewegen. Mir persönlich brächte es wohl Vorteile, weil ich nur eine anstatt fünf Stunden am Brett durchhalten müsste. Mir wurde jedoch beigebracht, alle Feinheiten einer Stellung auszuloten. Die Partien gegen Michail Botwinnik, Wassili Smyslow und andere waren meine Wissenschaft. Ich lernte durch die Praxis mit Weltmeistern. Jetzt bekommen junge Leute keine Gelegenheit mehr, solche Partien mit Kasparow oder Karpow zu spielen. Blitz hilft nicht, Blitz lehrt nicht. Langfristig empfinde ich die Entwicklung als großen Schaden für den Schachsport. Ich behaupte gar, sie sorgt für den Niedergang und in 50 Jahren haben die Leute Schach vergessen. Deshalb ist es ein Verbrechen, was Iljumschinow begeht. Nicht nur der deutsche und niederländische Schachverband müssen sich dagegen wehren, dass die Kreativität durch die kürzere Bedenkzeit schwindet.

Metz: Der einzigen Unterschied zu früher sei der im Alter „fehlende Siegeswillen", erklärten Sie 1998. Der sei mit „Feindschaft" verbunden und „dieses Gefühl haben ältere Leute nicht mehr nötig". Und außerdem würden Sie lieber abends mal einen Krimi lesen, anstatt zu trainieren.

Kortschnoi: Boris Spasski befand einmal, ich bräuchte ein Feindbild. So einfach ist das nicht. Ich spielte solche Wettkämpfe, in denen diese Feindschaft zu spüren war - und es war zu viel. Natürlich wollen alte Leute nichts mehr von dem - bezeichnenderweise - in mehreren Sprachen existierenden Sprichwort „Viel Feind, viel Ehr" wissen. Der Ehrgeiz schwindet ebenfalls und dem Sinn steht es nach freundschaftlichen Partien. Das ist aber nicht mein Stil (lacht)!

Metz: Der niederländische Weltranglistenzwölfte Loek van Wely schätzt an Ihnen besonders den „ewigen Kampfgeist" und Ihre „Versuche, den Gegner einzuschüchtern". Wie macht man das?

Kortschnoi: Aha, Loek hat das also gemerkt. Wir spielen im Oktober wieder bei einem Turnier gegeneinander. Was Loek betrifft, fühle ich keine Stärke bei ihm. Ich kann nicht verstehen, warum er gut Schach spielt. Das ist äußerst ungewöhnlich - und vielleicht spürt er gerade dies.

Metz: Loek findet nichtsdestoweniger Partien mit Ihnen „fantastisch, weil immer etwas passiert und nach der Partie hat er dir immer etwas Schönes mitzuteilen!!"

Kortschnoi (lacht aus vollem Herzen): Ja, das habe ich in der Tat. Ihm leuchtet ein, dass ich ihm stets etwas erklären muss. Beim letzten Turnier spielten wir zwei Blitzpartien. Die erste gewann er auf bemerkenswerte Art mit Weiß. In der zweiten stand er völlig verloren, ehe ich die knappe Bedenkzeit bemerkte. Ich bot deshalb Remis an. Er antwortete nicht und hob mich über die Zeit. Danach giftete ich ihn an, er habe die schlechteste Art von Schach demonstriert - ausgenommen natürlich die erste Partie.

Metz: Wie entwickelte sich Ihre fanatische Liebe zum königlichen Spiel?

Kortschnoi: Ich konzentrierte mich anfangs auf dreierlei: Klavier zu spielen, Gedichte aufzusagen, weil ich die Hoffnung in mir trug, eines schönen Tages Schauspieler zu werden, und Schach zu spielen. Um all dies zu üben, besuchte ich mindestens dreimal die Woche den Pionierpalast. Zuerst bekam ich Probleme mit der Musik. Wir hatten keine große Wohnung und nicht genügend Geld, damit ich zu Hause meine Hausaufgaben am Klavier machen konnte. Danach fand ich heraus, dass meine russische Aussprache nicht ganz rein war. Vielleicht besaß ich zu wenig Geduld, um diesen Mangel auszumerzen, jedenfalls gab ich auch das Deklamieren auf. Deshalb blieb mir nur Schach. So entschied ich mich als 14-Jähriger, Berufsspieler zu werden - obwohl ich gar nicht wusste, ob das überhaupt in der Sowjetunion möglich ist! Selbst bei Michail Botwinnik war unklar, ob er Profi ist oder tatsächlich seinem Beruf als Wissenschaftler nachgeht. Ich wurde dann mit 16 sowjetischer Jugendmeister und teilte das Jahr darauf den ersten und zweiten Platz. Trotzdem fing ich dann an, Geschichte zu studieren. Das war ein falscher Schritt, ein wirklich falscher Schritt! Als künftiger Schachspieler hätte ich Sprachen studieren müssen, das ging mir erst später auf. Aber als Kind hatten mich so die alten Römer und Griechen fasziniert, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie langweilig Geschichte unter Stalin würde. Vor der Universität liebte ich Geschichte, nach der Universität hasste ich jede Art von Geschichte. Manchmal fragen mich die Leute, was wäre aus Ihnen ohne Schach geworden? Eines muss ich aber noch vorwegschicken: Ich schätzte immer die Freiheit und konnte mich niemals wie ein normaler russischer Bürger unterordnen. Das war auch einer der Hauptgründe, warum ich aus der Sowjetunion flüchtete: Mein Wunsch, immer frei zu sein. Ohne Schach hätte ich deshalb als Geschichtslehrer irgendwo im entlegensten Winkel Sibiriens geendet.

Metz: Blinder Eifer kann auch schaden, wovor vor allem der sowjetische Übervater Michail Botwinnik gewarnt haben soll. In den 60er Jahren wechselten fantastische Ergebnisse wie ein Turniersieg in Ungarn mit 14,5/15 ab mit Rückschlägen. Typisch für Maximalisten?

Kortschnoi: Eine wirklich schwierige Frage, warum sich bei mir große Erfolge mit deftigen Niederlagen paarten. Wir kommen einmal mehr zurück auf die Frage nach Energie. Zum einen erklären sich die sehr unterschiedlichen Resultate durch meinen Einsatz bei dem einen Turnier, bei dem ich Kraft verlor wie in Ungarn, danach lag es auf der Hand, dass ich die sowjetische Meisterschaft weniger fulminant bestritt. Zum anderen mangelte es mir an einer guten Grundschule als Schachspieler. Ich war mehr Autodidakt als ein durch qualifizierte Lehrer gefördertes Talent. Mich betreute Wladimir Zak, den Alex Yermolinsky einmal als sehr schlechten Trainer bezeichnete. Bei mir tun sich jedenfalls als Autodidakt bis heute Wissenslücken auf. Nicht nur in einzelnen Partien, sondern in ganzen Turnieren. Ich stellte schon als zweifacher sowjetischer Meister 1960 und 1962 fest, dass mich „Löcher" plagten, die ich nicht zuzementieren konnte. Deshalb begann ich 1963 wieder mit dem Schachstudium.

Metz: Einen Tag nach Ihnen feiert Wassili Smyslow seinen 80. Geburtstag. Er war einer der wenigen Großmeister, die auch noch mit 60 gute Leistungen erbrachten, wenn auch nicht Ihre. Wie sehen Sie ihn?

Kortschnoi: Irgendwie hatte er Pech und stand stets im Schatten von Botwinnik. Gut, die Leute können sagen, ich hatte auch Pech und stand zunächst im Schatten von Karpow und dann von Kasparow. Aber ich empfinde seine Situation unterschiedlich. Als ich gegen Karpow antrat, geschah das vielleicht nicht in meinen besten Jahren. Smyslow hingegen durchlebte seine stärkste Phase während seiner drei Wettkämpfe mit Botwinnik. Er stand kurz an der Spitze des Schachs, jedoch nur ein Jahr. Smyslow spielte immer interessantes Schach. Noch heute zeigt er mir während unseres alljährlichen traditionellen Wettkampfes der Veteranen mit den Frauen alte Varianten und fragt mich: „Was halten Sie davon?" Ich bin oft erstaunt, besonders wenn er erzählt, dass er das vor 40 Jahren gegen Botwinnik vorbereitet hatte. Smyslow durchlebte große Schwankungen. Aber gut, die habe ich auch. Es gibt oft zwei, drei Jahre währende schlechte Phasen. Für meine dreiteilige Autobiographie brauche ich jeweils 50 Weiß- und Schwarz-Partien. Nach Möglichkeit sollte ich aus jedem Jahr eine nehmen. Dabei stellte ich fest, dass das schier unmöglich ist, obwohl ich rund 4.000 Partien spielte und davon etwa 2.000 gewann! Es gibt Pausen von drei bis fünf Jahren, in denen ich keine einzige vernünftige Partie spielte (lacht)! Das müssen eben alte Leute wie Smyslow und ich erkennen.

Metz: Sie betonten, dass Smyslow nur ein Jahr Weltmeister war. Aber wenigstens ein Jahr. Neiden Sie ihm das?

Kortschnoi: Immerhin wiegt sein Jahr mehr als das von Alexander Chalifman! Eine Prophezeiung verkündete mir, ich würde mit 72 meinen größten Erfolg feiern.

Metz: Das hieße, Sie gewinnen in zwei Jahren die K.o.-WM ...

Kortschnoi: Dies bedeutete, dass ich Weltmeister von Iljumschinow würde. Das stellt keinen sonderlichen Trost für mich dar. Vor drei Tagen rief mich Alexander Bach, Karpows Manager, an und lud mich ein, im Mai an dessen Jubiläumsturnier zum 50. Geburtstag mitzuspielen. Ich überlegte nicht lange. Dem Petrosjan-Memorial verweigerte ich mich und bei Karpow sagte ich auch sofort ab. Später ärgerte ich mich aber darüber! Wie dumm ich doch war. Ich hätte entgegnen müssen: Für ein Karpow-Memorial - ein Memorial! - komme ich natürlich gerne (lacht)!

Metz: Nochmals: Wären Sie nicht zumindest ein Jahr gerne Weltmeister gewesen?

Kortschnoi (denkt nach): Hmm, ich erfahre den Respekt der ganzen Schachwelt. Man kann sich kaum vorstellen, dass dieser noch größer wäre bei einem Jahr als Weltmeister. Ich bin zufrieden. Es ist aber auch schwierig zu sagen, warum ich nie Weltmeister wurde. Es hatte politische Gründe, es lag an meiner langwierigen Entwicklung als Schachspieler oder dass ich selbst meine Schwächen in meinem Schachstil ausmerzen musste. Das war immer ein Problem. Ich könnte leicht behaupten: Ja, ja, Leonid Breschnew (Anmerkung: ehemaliger sowjetischer Staatschef) wollte nicht, dass ich Weltmeister werde. In der Tat war die Sache viel komplizierter. Ich wollte zumindest einen Tag Weltmeister sein. Damals war ich zu jung und zu dumm. Ich vermute, dass ich trotzdem klüger geworden bin, obwohl ich nie Weltmeister war (lacht). Was ich jungen Leuten immer noch beweisen will, ist, dass sie stets von mir lernen können und müssen!

Metz: Waren Ihr Eifer und Ihre Energie in Zweikämpfen schädlich? Anatoli Karpow hätte geduldig 100 Remis hintereinander geschoben, wenn es dem Titelgewinn gedient hätte.

Kortschnoi: Das ist klar. Mir fehlt auch mit 70 noch die Geduld und ich bin so ambitioniert, dass ich keine Remisserie hinzulegen gedenke. Karpow war aber vor vielen Jahren auch so ehrgeizig, dass er kein Remis machte. Jetzt hat er Probleme mit der Energie und der Eröffnungstheorie, die ihm keiner mehr zuträgt. Er war sehr stark. Vor allem in dem Wettkampf, als er mit 5:0 gegen Kasparow führte. Das war phänomenal und vielleicht die beste Leistung seines Lebens.

Metz: Gibt es eine Stellung, die Sie bis heute martert, weil ausgerechnet diese den Titelgewinn hätte bedeuten können?

Kortschnoi: Am besten erinnere ich mich an die Partie, die ich im ersten Wettkampf 1974 in Moskau in 19 Zügen gegen Karpow gewann. Selbst dort betrachtete man mich als Ausländer, obwohl ich sowjetischer Bürger und Mitglied der Kommunistischen Partei war. Es lief eine Kampagne, um zu zeigen, dass Karpow als erster Vertreter des sowjetischen Volkes und der Arbeiterklasse der Beste ist. Ich verlor diesen Wettkampf mit 2:3, aber die 21. Partie ging in 19 Zügen an mich. Sie fragten jedoch etwas anderes: Den schweren Wettkampf auf den Philippinen 1978 verlor ich mit 5:6. Das ärgerte mich aber weniger als das dritte Duell 1981 in Meran. Das war eine große, schmerzliche Niederlage für mich. Der ganze Wettkampf war schrecklich und stellte eine Qual dar. Mein einstiger Delegationsleiter stieg binnen dreier Jahre zu Karpows Vertreter in Westeuropa auf! Können Sie sich das vorstellen? Unmöglich (seufzt). Das war ein politischer Wettkampf und plötzlich war diesmal mein Freund ein Vertreter Karpows geworden! Wohin habe ich gesehen? (Und setzt fort mit leiser, deprimierter Stimme) Welche Leute konnte ich auswählen? Ich verlor 2:6 bei zehn Unentschieden. Kein besonders gutes Ergebnis für mich, ich bekam jedes Remis nur mit letzter Kraft ... Er besaß ein enormes Übergewicht. Er hatte 43 Leute aus Moskau mitgebracht und genoss die Unterstützung der Botschaft in Rom. An die 60 Leute schwirrten überall herum. Insofern betrachte ich das 2:6 als einen außerordentlichen Erfolg für mich. Danach glaubte ich, ich könne nicht über die Niederlage schreiben. Das war ein Fehler. Das Verhalten der Russen und von Karpow war so schrecklich, dass sie selbst nie reden wollten. Dieser Wettkampf in Meran existierte nirgends. Das war mein Fehler, ich hätte darüber schreiben müssen. Dieses Versäumnis ärgert mich noch heute.

Metz: Mit dem Lied „Merano" wurde diese WM im Erfolgs-Musical „Chess" verewigt. Haben Sie es trotz der damit verbundenen Bitterkeit angesehen?

Kortschnoi: Mehrmals. Tim Rice und die Schauspielerin Elaine Page, die die Rolle meiner zweiten Frau Petra spielte, waren Zuschauer in Meran. Das Drehbuch wurde abgeändert, um nicht zu sehr auf mich hinzudeuten. Ihr schachlicher Berater William Hartston konsultierte mich während der Produktion. Insgesamt gefällt mir das Musical. Zwei Dinge stören mich jedoch: Die Rückkehr des Helden in die Sowjetunion und im zweiten Teil das Komplott, bei dem plötzlich alle gegen den Helden sind. Als ich das beklagte, blickte mich Rice an und meinte: „Wieso, war das anders im wirklichen Leben?" Insgesamt bescherte „Chess" dem Schach-Leben eine enorme Aufmerksamkeit bei einem Millionen-Publikum.

Metz: Der Weltranglistensiebte Wesselin Topalow befand, dass Sie in manchen Zeiten nicht weniger den WM-Titel verdient hätten als Karpow, politische Ränkespiele verhinderten indes die Thronbesteigung.

Kortschnoi: Nein, nein, wie ich schon sagte, das ist nicht so. Es wäre leicht, es auf Breschnew zu schieben. Mein Problem war, dass ich zu spät alle Feinheiten des Schachspiels lernte. In dieser Zeit verbrauchte ich viel meiner Energie. Die Sowjets wollten auch keinen Sieg Kasparows. Er lag 0:5 zurück und besaß so viel Energie, dass er diesen Wettkampf rettete.

Metz: Ich erinnere mich, dass Karpow mir gegenüber einst jammerte, das verpasste 6:0 sei sein größter Fehler gewesen. Dann wäre Kasparow nie mehr auf die Beine gekommen.

Kortschnoi (lacht aus vollem Hals und bekommt sich fast nicht mehr ein): Hahahaha! Jawohl. Hahahaha! Das ist das große Pech seines Lebens. Ansonsten wäre er Weltmeister bis 2000 geblieben.

Metz: Das amüsiert Sie.

Kortschnoi: Natürlich, natürlich. Das war göttliche Fügung. Hahaha.

Metz: Sie mögen Kasparow schon allein deswegen noch heute, weil er Sie rächte?

Kortschnoi (immer noch belustigt): Ja, ja, hähähä.

Metz: Wie ist Ihr Verhältnis zu Kasparow? Er ist ein sehr schwieriger Mensch.

Kortschnoi: Das fühlen wir noch viel besser als die Westeuropäer, weil wir mit ihm russisch sprechen. Er ist keine leichte Person. Wir wissen, dass er ein genialer Schachspieler ist. Es ist aber genauso offensichtlich, dass er in einem totalitären Staat aufwuchs und deshalb zu diktatorischen Zügen neigt. Er will alles bestimmen. Ich geriet auch mit ihm aneinander, als er die Großmeister-Organisation GMA beherrschen wollte, die Kollegen aber mir folgten. Das verzieh er mir so lange nicht, bis er sich rächen konnte. Aber das ist auch schon rund zehn Jahre her. Bis er Karpow schlug, waren wir Alliierte. Es gibt einen famosen Satz von Jan Timman über ihn: „Kasparow zeigt gegenüber den Leuten wenig Respekt, die ihn so behandeln, wie er von ihnen behandelt werden möchte." Wenn ihn einer bewundert, zeigt er miserables Verhalten. Spürt er, dass einer sein Feind ist, benimmt er sich. Das ist umgekehrt, wie es sein sollte. Inzwischen verstehen wir uns aber wieder. Es wäre auch unchristlich, ewig Zorn in der Brust zu tragen. Ich versuchte auch, etwas Menschliches in Karpow zu finden.

Metz: Und?

Kortschnoi: Es ist mir gelungen! Dann wollte ich mit Karpow nicht nur diplomatische Beziehungen aufbauen, sondern mehr oder minder freundlich mit ihm reden. Er war und ist aber ein Vertreter der russischen Reaktionäre. Das steckt tief in seiner Seele, weshalb ich nicht nett mit ihm umgehen kann. Mit Kasparow ist es wenigstens manchmal möglich. Als er ein großer Star war, konnte man nicht zu ihm vordringen, selbst wenn wir zusammen in einem Turnier spielten. Ich musste per Brief mit ihm verkehren. Freundliche Briefe, aber statt zu reden eben Briefe.

Metz: Sie erwarten auch vom Weltmeister mehr Respekt gegenüber der Legende?

Kortschnoi: Respekt hatte er. Aber ich konnte doch nicht ewig in der Schlange warten, wenn er Hof hielt. Jetzt fängt er plötzlich an, die Partien der alten Meister zu würdigen. Oder schickte David Bronstein ein Telegramm zum Geburtstag, das ist ein neuer Wesenszug seines Charakters.

Metz: Hängt die umgänglichere Art mit dem Verlust des WM-Titels zusammen?

Kortschnoi: Das Telegramm an Bronstein sandte er schon davor. Aber jetzt wird er vielleicht als Verlierer noch wärmer. Vor zwei Jahren meinte André Behr (Anm.: Kortschnois Biograph) zu mir: „Kasparow ist klüger geworden." Ich entgegnete: „Warum, ist es möglich geworden, mit ihm zu sprechen?"

Metz: Sie stehen momentan auf Platz 46 der Weltrangliste, Karpow auf 20. Späte Genugtuung, dass Sie ihn bald überholen werden?

Kortschnoi: Ich schätze, wir treffen uns in zwei Jahren in der Weltrangliste - und danach fällt er für ewig hinter mich. Und in vier Jahren ist er vergessen, weil er unter 2600 Elo gerät. Leider hat er jetzt in Linares mit seinen paar Pünktchen einige Elo gewonnen. Großes Pech für mich ... (lacht). Dieses Turnier ist ein unglaublicher Erfolg für Kasparow! Drei Punkte vor allen anderen ist wie einer, der im weißen Anzug posiert, während der Rest in Müllsäcke gekleidet dasteht.

Metz: Halten Sie Kasparow für den besten Spieler aller Zeiten?

Kortschnoi: Es sieht so aus, als sei es Kasparow. Wobei die Beurteilung schwer fällt. Raymond Keene und Nathan Divinsky veröffentlichten ein Buch.

Metz: „Warriors of the mind", in dem 1989 anhand zahlreicher Statistiken die vermeintlich besten 64 Spieler aller Zeiten präsentiert wurden.

Kortschnoi: Lasker wurde dort Sechster. Dabei flossen Partien in seine Statistik ein, als er 67 Jahre alt war. Folglich müsste man auch irgendwann Kasparows Partien mit 67 einrechnen. Aber im Moment sagen wir: Ja, Kasparow ist der Beste aller Zeiten.

Metz: Und der beste Großmeister, der nie Weltmeister wurde?

Kortschnoi: Erwarten Sie, dass ich mich selbst nenne?

Metz: Möglicherweise ...

Kortschnoi: Sehr gut. Ich nenne Akiba Rubinstein und Paul Keres. Ich persönlich halte sehr viel von Keres.

Metz: Und Viktor Kortschnoi? Wo ordnen Sie sich in der Hierarchie der Schach-Geschichte ein?

Kortschnoi: Das müssen andere beurteilen. In dem Buch von Keene und Divinsky war ich die Nummer sieben, direkt nach Lasker. Karpow war 1989 die Nummer zwei. Nach den Leistungen der vergangenen Jahre müsste man das ändern.

Metz: Also mal abwarten, wie Karpow und Kasparow in Ihrem Alter spielen.

Kortschnoi: Ja, ja, ja. Trotzdem: Rubinstein und Keres will ich nennen. Alexander Aljechin war in dem Buch nur 18.! Ich weiß nicht, warum.

Metz: Erwogen Sie nie, einmal bei der Senioren-WM teilzunehmen, um dort wenigstens Weltmeister zu werden?

Kortschnoi: Ich denke, es ist genug, dass ich alljährlich mit den alten Herrn am Vergleich gegen die Damen teilnehme!

Metz: In Ihrer Heimatstadt St. Petersburg ehrt man Sie mit einem Turnier an den Tagen um Ihren 70. Geburtstag. Hätten Sie vor 25 Jahren gedacht, dass Sie noch jemals Ihren Geburtsort sehen würden?

Kortschnoi: Als ich die Sowjetunion verließ, konnte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen, jemals wieder zurückzukehren. Meine Flucht hatte, ohne falsche Bescheidenheit gesprochen, große Auswirkungen auf die sowjetische Führung wie das Volk. Ich leistete meinen Beitrag zur Perestroika.

Metz: Kasparow präsentierte sich doch stets als Betreiber von Glasnost und Perestroika.

Kortschnoi: In seinem Sinn habe ich nichts damit zu tun. Aber ich glaube schon, dass ich damals etwas in Gang setzte. Jedenfalls war ich 1992 mit Petra erstmals wieder in meiner Heimat.

Metz: Ist es eine besondere Freude, in der Heimatstadt geehrt zu werden?

Kortschnoi: Nein, eine besondere Freude möchte ich es nicht nennen. Die Generationen sterben und es wird schwerer, Gleichgesinnte für ein Gespräch zu finden. Ich bin ja wie ein Dinosaurier (lacht). Genugtuung herrscht dennoch, dass man mich wieder schätzt.

Metz: Am 28. und 29. April geht es weiter mit den Ehrungen in der Schweiz. An dem Schnellschach-Turnier nehmen auch Garri Kasparow und Wladimir Kramnik teil. Wer gewinnt es?

Kortschnoi: Es sieht so aus, dass ein Kasparow in Hochform erneut zuschlägt.

Metz: Nicht Sie?

Kortschnoi: Nein, nicht im Schnellschach. In Reykjavik gelang mir im Vorjahr in der ersten Runde ein Remis gegen ihn, danach verlor ich die nächsten drei Begegnungen der Vorrunde, um abschließend nochmals ein Unentschieden zu schaffen. Trotzdem war ich zufrieden, weil ich gegen ihn remisierte.

Metz: Dann soll er Ihnen doch nachträglich zum Geburtstag ein Remis schenken.

Kortschnoi (lacht): Nichts da, das nehme ich nicht an!

Metz: Wen erachten Sie derzeit als „wahren Weltmeister"?

Kortschnoi: Kramnik hat seinen Wettkampf gewonnen und den Titel verdient. Er bezwang den stärksten Spieler der Welt. Kasparow bewies bei seinen zwei Turniersiegen in Wijk aan Zee und Linares, dass er eine Chance auf einen Rückkampf verdient. Doch Kramnik wälzt die Verantwortung auf „Braingames" ab. Die Firma muss deshalb nach einer gewissen Zeit wieder eine Weltmeisterschaft organisieren. Dass Iljumschinow ständig neue Weltmeister backt, ist Quatsch.

Metz: Boris Spasski spielt in Zürich auch mit. Ist er ein Weichei im Vergleich zu Ihnen? Hat ihn das erreichte Ziel, der WM-Titel, samt dessen Verlust schlapp gemacht, was Ihnen erspart blieb?

Kortschnoi: Spasski hat viel Energie gelassen. Sein letztes Pfund verbrauchte er beim Gewinn der sowjetischen Meisterschaft 1973. Jetzt kann er nicht mehr spielen. Er liebt Schach, und es ist eine große Freude für ihn, wenn ich ihm Partien von mir schicke. Aber um Erfolge zu haben, muss man Energie haben. Das ist Tatsache und keine Philosophie.

Metz: Nach Ihrer Flucht vor 25 Jahren vagabundierten Sie zunächst in Europa umher und landeten letztlich in der Schweiz. Die richtige Entscheidung?

Kortschnoi: Wegen meiner zweiten Frau kam ich hierher. Mir gefällt es hier und ich nahm in der Schweiz alles bis auf eines mit Vergnügen an: Ich betrachte Neutralität als schlimme Krankheit! Und ich will nicht von Neutralität angesteckt werden!

Metz: Sie haben auch mit lebenden Größen außerhalb des Schachs gespielt wie dem kubanischen Revolutionär Che Guevara.

Kortschnoi: Ja, der kubanische Schach-Präsident wollte unbedingt, dass ich gegen Che Guevara ein Remis mache.

Metz: Das verweigerte der eiserne Kämpfer Kortschnoi aber selbstverständlich ...

Kortschnoi: Auch wenn der Funktionär es mehrfach betonte, wie zufrieden Che Guevara mit einem Unentschieden wäre, streute ich kein diplomatisches Remis ein. Eines gab ich ab, an den restlichen 19 Brettern gewann ich, unter anderem gegen Che Guevara. Ich kann mich gut erinnern, dass er sich damals sehr bescheiden gab.

Metz: Ihr ungewöhnlichster Gegner war jedoch ein anderer: der Geist von Géza Maróczy. Gegen den 1951 verstorbenen ungarischen Großmeister spielten Sie von 1985 bis 1993 eine spirituelle Partie.

Kortschnoi: Damals rief ein Freund an und fragte mich, gegen welchen verstorbenen Großmeister ich am liebsten spielen würde. Ich nannte Keres, Capablanca und Maróczy. Eine Woche später meldete er sich wieder und berichtete: Wir konnten dort (betont es besonders) Capablanca nicht finden, aber Maróczy hat geantwortet (lacht)! Ich lernte das Medium, das mit Maróczy verbunden war, erst nach der Partie bei einer Fernsehsendung in Köln kennen. Kurz darauf starb der Mann. Der Herr, der alles organisiert hatte, bemerkte mit schwarzem Humor, es sei richtig gewesen, dass er zuvor das Experiment beendete. Was jedoch wichtig war: Zu prüfen, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Ich wurde nur als Objekt benutzt. Ob ich an Reinkarnation glaube oder nicht, interessierte dabei niemanden.

Metz: Tun Sie es?

Kortschnoi: Ich glaube daran.

Metz: Im christlichen Sinne?

Kortschnoi: Ich bin mehr oder minder religiös. Ich wurde in einer katholischen Familie aufgezogen. In St. Petersburg ging ich mit meiner polnischen Oma in die Kirche. Meine Mutter war ebenso wie meine Stiefmutter Jüdin, mein Vater ein Pole mit ukrainischem Einschlag. Wir hatten unter dem Stalinismus zu leiden. Aber das berührte mich nicht. Ich hatte keine besonderen politischen Ansichten, und Schach ersetzte für mich alles. Ich möchte an dieser Stelle zwei Begebenheiten einflechten: Als ich 16 Jahre alt war, sollte ich einen Ausweis bekommen und füllte deswegen mit dem Hausverwalter ein Formular aus. Unter Punkt fünf war die Abstammung anzugeben. Ich sagte zum Hausverwalter: „Meine Mutter ist Jüdin und bei meinem Vater ist es unklar. Also vermute ich, ich bin Jude." Dem leuchtete das ein. Als ich das zu Hause erzählte, musste ich mir anhören: „Wie dumm du bist! Dein Vater ist Russe und du bist auch Russe!" Meine Stiefmutter eilte zu dem Hausverwalter, strich das „Jude" durch und überschrieb es mit „Russe". Die Geschichte wiederholte sich etwa 20 Jahre später, als mein Sohn in die Schule musste. Ich sprach mit dem Schuldirektor und füllte den entsprechenden Bogen aus. Ich überlegte: Die Mutter meines Sohnes ist zu 100 Prozent Armenierin - und der Vater ist unklar. Also ist er Armenier. Das schrieb ich hin. Als ich nach Hause kam und das meiner ersten Frau erzählte, erklärte die mich auch für doof. „Unser Kind ist Russe!" Sie ging hin und überschrieb „Armenier". Das war die ganze Politik in der Sowjetunion. Ich als Schachspieler hatte davon keine Ahnung.

Metz: Zurück zur Partie mit Maróczy.

Kortschnoi: Das Medium stammte aus Rumänien und konnte ungarisch. Außerdem lebte es 30 Jahre in der Schweiz, weshalb es Maróczys wie meine Sprache verstand. Nur Schach konnte das Medium nicht. Wir spielten die Winawer-Variante im Franzosen mit dem Dameneinschlag auf g7 (Anmerkung: siehe Partie). An der Stelle, in der Max Euwe nach dem Tod Maróczys den Zug Kd1 anstatt Se2 einführte, wollte Maróczy wissen, welche von zwei Varianten er wählen solle. Er wählte dann die neuere mit Kd1. Ich gewann einen Bauern, hatte dann aber in einem Moment das Gefühl, dass ich trotz eines Mehrbauern die Partie verlieren kann. Ich wusste natürlich, dass die Spieler Anfang des 20. Jahrhunderts Endspiele sehr gut behandelten. Einen Augenblick glaubte ich - der Augenblick dauerte einige Monate (lacht) -, dass ich unterliege. Die Partie dauerte sehr lange, so um die acht Jahre. Manchmal fehlte mir die Zeit, dann erkrankte das Medium oder Maróczy war im Jenseits nicht in der Lage zu spielen (grinst). Viele Leute meinten, dass ich in Wahrheit eine Fernpartie gegen den Züricher Schachclub austrage. Ich weiß es nicht.

Metz: Zurück ins Diesseits. Welchen historischen Einfluss aufs Schach schreibt sich Viktor Kortschnoi selbst zu?

Kortschnoi: Als erster Spieler kämpfte Robert Fischer für höhere Saläre. Ohne speziell an viel Geld interessiert zu sein, trug ich auch zu höheren Preissummen bei. Das lief automatisch ab, weil meine Wettkämpfe gegen Russen politische Brisanz besaßen und deshalb zahlreiche Länder mitboten. So können heute viele Spieler Schach zum Beruf machen. Dass ich zu der Eröffnungstheorie Beiträge leistete, ist normal. Zwei, drei Leute wie Larsen oder Kasparow erfinden und hunderte andere Spieler konsumieren. Ich leistete meine theoretischen Beiträge auf der Ebene der Schach-Weltmeister, obwohl ich nicht Schach-Weltmeister bin.

Metz: Sie haben eine neue Rolle entdeckt, die des Opas: „Die Jungen erwarten, dass Opa einfach umfällt. Dann aber kann Opa fünf Stunden lang Schach spielen und die jungen Gegner an die Wand drücken", erklärten Sie. Vor knapp zwei Monaten bewiesen Sie beim Zweikampf gegen den 17-jährigen ukrainischen Nachwuchsstar Ruslan Ponomariow die bessere Kondition und glichen in der letzten Partie zum 4:4 aus.

Kortschnoi: Als ich aus Potsdam von der Lasker-Konferenz anreiste, war ich müde. Ponomariow war sehr gut vorbereitet, spielte besser als ich, schien vor Energie zu strotzen und führte 2:1. Doch er verpasste Gewinnchancen in den Partien eins, fünf und sieben. Trotzdem spielte ich die letzte Partie auf Gewinn. Nachdem er gute Remischancen ungenutzt ließ, glich ich noch zum 4:4 aus. Ich hatte den merkwürdigen Eindruck, dass er als 17-Jähriger Probleme besitzt, lange Partien zu spielen und müde wurde - und nicht ich als 70-Jähriger! Allerdings glaube ich auch, dass es ihm an Kondition mangelt, weil er seit Geburt an in dem der Gesundheit kaum zuträglichen Kohlerevier von Donezk lebt.

Metz: Die Schweizer Luft bekommt Ihnen besser.

Kortschnoi: Natürlich, natürlich. Übrigens hielt ich einen Vortrag in Russland und erzählte dabei, ich hätte durch die Flucht mein Leben verlängert. In Russland werden die Männer im Durchschnitt nur 56, hier liegt die Lebenserwartung bei 78 (strahlt).

Metz: Wenn wir gerade von fehlender Kondition bei einem Jüngling reden. Wie halten Sie sich fit?

Kortschnoi: Ich empfehle allen jungen Spielern: betreibe Sport. Ich benötige als Ausgleich für den Kopf auch Sport und sollte jeden Tag welchen machen - tue ich aber leider nicht. Wir haben noch eine Zweitwohnung im Skiort Engelberg, wo ich Skilanglauf betreibe. Um ehrlich zu sein, war ich jedoch das letzte Mal am 30. und 31. Dezember dort. Das reicht natürlich nicht. Ich versuche aber so oft Sport zu machen, wie es geht. Ich hatte wirklich Glück in meinem Leben: Vor 28 Jahren rammte ich mit meinem Wolga in St. Petersburg ein Polizeiauto. Ich durfte zwar meinen Führerschein behalten, doch der Schock saß so tief, dass ich seitdem nicht mehr selbst Auto fahre. Um nicht ständig meine Frau zu behelligen, fahre ich viel mit dem Zug. Da der Bahnhof von hier aus zwei Kilometer entfernt liegt, marschiere ich fast jeden Tag einmal hin und zurück. An manchen Tagen laufe ich bestimmt bis zu zehn Kilometer, weil ich kein Auto habe. Und das betrachte ich als großes Glück in meinem Leben (lacht).

Metz: Um noch einmal kurz auf Ponomariow zurückzukommen: Er ähnelt vom Aussehen her nicht nur dem jungen Karpow, sondern pflegt auch einen ähnlichen Stil.

Kortschnoi: Sie haben Recht. Ein gewaltiger Unterschied wird jedoch klar, wenn man mit Karpow spricht: Wäwäwäwä (äfft unter Gejauchze die hohe Stimme Karpows nach). Hingegen habe ich große Achtung vor Ponomariow, der eine männliche Stimme besitzt (lacht).

Metz: Junge Weltklassespieler können sich überhaupt nicht vorstellen, mit 70 noch so mit Feuerseifer dabei zu sein wie Sie. „Unglaublich" nennt Topalow Ihren Kampfgeist. Wollen Sie gar nicht in Rente gehen?

Kortschnoi: Wissen Sie, was unlängst passierte? Die Rentenanstalt wollte mich zwingen, in Rente zu gehen. Meine Frau erhält jetzt eine Pension - und ich zahle weiter in die Rentenkasse ein! So lange ich keine schreckliche Niederlage erleide und zum Prügelknaben werde, spiele ich weiter. Es kann mir natürlich wie Botwinnik ergehen. Der belegte 1970 zusammen mit Jan Hein Donner in einem Viererturnier den geteilten letzten Platz und hörte danach auf. Solche Niederlagen passieren. Ich wurde vor zwei Jahren in Holland auch Letzter. Das kann ich überleben - aber nicht zu viel davon!

Nachstehend zwei Partien von Kortschnoi (erscheinen in den nächsten zwei Wochen in der wöchentlichen Meko, Anm. d. WM.), die er für seine dreiteilige Autobiographie kommentierte. Band eins mit 50 Weiß-Partien soll laut Edition Olms bis April erscheinen. Bis Ende April wird Band zwei mit 50 Schwarz-Partien folgen. Die Biographie, die aus der Feder von André Behr stammt, soll als Abschluss im Herbst folgen. Die dritte Begegnung ist die im Interview genannte spirituelle Partie gegen Géza Maróczy.

Hier noch eine Anekdote dazu aus unserer Rubrik Humor:

Kortschnoi und Metz überspielen Karpow!

   Hartmut Metz war bei Viktor Kortschnoi im schweizerischen Wohlen (Aargau) zu Gast, um mit "Viktor dem Schrecklichen" ein Interview vor dessen 70. Geburtstag zu führen. Als Hartmut eine Kassette in das Aufnahmegerät schob, ulkte der Kuppenheimer:

„Wenn wir Glück haben, ist auf einer der Kassetten noch ein Interview mit Anatoli Karpow drauf. Ich sehe schon die Schlagzeile: Kortschnoi und Metz überspielen Karpow!"

Kortschnoi amüsierte sich sehr darüber. In dem langen wie unterhaltsamen Gespräch danach wurde auch klar, dass die Schach-Legende aus der Schweiz seinen Erzrivalen noch immer nicht sonderlich mag.


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