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Vorsicht, Opa beißt!

Viktor Kortschnoi, der Schach-Fanatiker

von Hartmut Metz, Juli 1999

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   Wird Viktor Kortschnoi mit 68 Jahren etwa müde? Trotz des dann noch laufenden WM- Viertelfinales des Schach-Weltverbandes FIDE hatte der Altmeister für das Jules-Ehrat-Memorial gemeldet. Vom 13. bis 22. August misst sich das Schweizer Nationalteam mit einer deutschen Auswahl. Rechnete der früher so kampfeslüsterne dreimalige Vizeweltmeister mit seinem baldigen Scheitern in Las Vegas? "Ich hoffe, dass ich in Zürich nicht mitspielen kann", wiegelte der Wohlener ab. Als eine reine Vorsichtsmassnahme wollte Kortschnoi seine Zusage gewertet wissen, um im Notfall gleich wieder Trost am Brett zu finden.

   Dies ist erforderlich, denn am Samstagnacht scheiterte der Weltranglisten-16. in der dritten Runde an Wladimir Kramnik. Gefürchtet hatte sich der Turniersenior dabei nicht vor dem Topfavoriten. Im Gegenteil, amüsiert hatte das Energiebündel festgestellt: "Ich spiele praktisch gegen eine Familie", weil sein Gegner unter den letzten 32 der Chef von Sekundant Sergej Dolmatow ist. Und den hatte der Altmeister zuvor eliminiert. Sein Angstgegner, dem er zuvor in neun Partien erst vier Unentschieden hatte abnehmen können, war jedoch zu stark. Kortschnoi verbuchte immerhin in der ersten Partie einen Achtungserfolg. Nur mühsam konnte der 44 Jahre jüngere Russe mit Schwarz die Initiative Kortschnois eindämmen. Nachdem dies aber gelang, einigte sich der Altmeister im 24. Zug auf sein erstes Remis. Mit den weissen Steinen erwies sich jedoch der Weltranglisten-Dritte, als zu übermächtig. Ein Bauernopfer widerlegte Kramnik gekonnt und trifft nun auf den Bulgaren Weselin Topalow. Als Trost für das verpasste Achtelfinale bleiben Kortschnoi über 15.000 Dollar Preisgeld.

   Ein Karriereende wie für Ex-Weltmeister Boris Spasski (62), der sich seit 20 Jahren lieber auf dem Tennisplatz als auf den 64 Feldern tummelt, ist für "Viktor den Schrecklichen" trotz des Ausscheidens undenkbar. Noch "schrecklicher" als seinen Ehrfurcht gebietenden Spitznamen fände der vierfache sowjetische Champion nämlich den Gedanken, jenseits der 60 im willigen Fleisch einen schwachen Geist zu beherbergen. Sicher, mittlerweile gönnt sich der Wohlener zur Entspannung des Abends einen Krimi anstatt Eröffnungsvarianten. Aber schnelle Unentschieden? Wenn einer wie Jungstar Peter Leko nichts dabei findet, stempelt ihn der Grandseigneur schon einmal als "feige" ab und ergänzt, "Leko muss noch viel lernen".

   Kampf kennt der beste Spieler aller Zeiten, der nie Weltmeister wurde, seit seinem zwölften Lebensjahr. Im belagerten Leningrad trotzte Kortschnoi Hunger und Kälte mit dem Studium des Lehrbuchs von Dufresne. Die Partien und Varianten in dem deutschen Standardwerk spielte er im Kopf nach, weil es selbst an einem Schachbrett und Figuren mangelte. Die Not prägte, Kortschnoi spielte fortan auch schlechte Stellungen kompromisslos auf Gewinn, denn für Siege, die er gerne gestenreich kommentiert, gibt es keinen Ersatz. Mit 68 leide nur der Siegeswillen etwas. Der sei nämlich mit "Feindschaft" verbunden - und "dieses Gefühl haben ältere Leute nicht mehr nötig".

   Die Frage, wann Kortschnoi in Rente gehe, ist müssig. "In was?", entfährt es dem Schach-Fanatiker, als habe er soeben einen ungeheuerlichen Zug vorgesetzt bekommen. Nein, nein, nicht einmal an die Teilnahme bei Senioren-Turnieren denke er. "Das ist etwas für Karpow", amüsiert sich Kortschnoi über den Gedanken, dass stattdessen sein 48-jähriger Erzrivale nach dem WM-Titel der Alten Herren greifen soll. Bissig kommentiert der Wohlener gleich hinterher die Absage des Titelverteidigers in Las Vegas: "Karpow ist realistisch genug, seine Chancenlosigkeit zu erkennen."

   „Obwohl ich alt bin, darf mir niemand den Finger in den Mund stecken, sonst beisse ich", hat Wilhelm Steinitz, der erste Weltmeister der Schach-Historie, einmal gesagt. Die Warnung des "Löwen von Leningrad" klingt ähnlich: "Die Jungen erwarten, dass Opa einfach umfällt. Dann aber kann Opa fünf Stunden lang Schach spielen und die jungen Gegner an die Wand drücken." In Zürich sollen die Enkel das wieder spüren!


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