Startseite Rochade Kuppenheim

Kinder auf Elefanten-Jagd

Schach in China auf dem Vormarsch

von Hartmut Metz, Dezember 1999

mehr Schachtexte von Hartmut Metz


   Beim "Spiel der Elefanten" dürfen die beiden vierbeinigen Kolosse auf jeder Seite den Gelben Fluss nicht überschreiten. Der Koloss China kennt hingegen keine Grenzen im Sport. Selbst vor einer westlichen Domäne macht das Volk der Tischtennis-Asse nicht halt: Anstatt wie über 300 Millionen Asiaten ausschließlich dem rund 800 Jahre alten Chinesischen Schach zu frönen, fördert das Reich der Mitte neben dem "Spiel der Elefanten", wie Xiangqi wörtlich übersetzt heißt, auch die weltweit bekanntere Variante auf den 64 Feldern. Mit zunehmend größerem Erfolg.

   Bei den Damen setzt China mittlerweile alle matt, selbst Georgien. 1991 raubte Xie Jun der Frauen-Hochburg den Titel. Die 21-Jährige Weltmeisterin war auf das international anerkanntere Schach umgeschult worden wie Ping-Pong-Artisten, die nur Abwehr oder die westliche Shakehand-Schlägerhaltung spielen sollen. Nach einem Intermezzo der Ungarin Susan Polgar auf dem WM-Thron regiert seit rund drei Monaten wieder Xie Jun. Auch bei der Schach-Olympiade 1998 triumphierte ihr Team. "Die Chinesen nehmen Schach sehr ernst und trainieren emsig mit ihrem Nachwuchs. Das merkte ich bereits bei den Jugend-Weltmeisterschaften", erinnert sich Peter Leko.

   Reichten die Talente damals noch nicht an das ungarische Wunderkind heran, unterbot nun einer des Milliarden-Volks eine alte Bestleistung des 20-jährigen Weltranglisten-Neunten. Bu Xiangzhi hat im Alter von 13 Jahren, 10 Monaten und 13 Tagen als jüngster Schachspieler aller Zeiten den Großmeister-Titel errungen. Die höchste Würde des königlichen Spiels erkämpfte sich der stämmige Junge, dessen Name dem des Xiangqi ähnelt, durch 6:3 Punkte und einen geteilten ersten Platz beim Turnier in Qingdao. Mit immer jüngeren Großmeistern entstand eine Tendenz wie früher im Kunstturnen der Mädchen, wobei sich die Talente jetzt eben geistig anstatt körperlich verbiegen. Dabei galt der Rekord der amerikanischen Legende Bobby Fischer über drei Jahrzehnte als unantastbar. Der spätere Weltmeister schaffte 1958 die dritte erforderliche Großmeister-Norm im Alter von 15 Jahren, sechs Monaten und einem Tag.

   Seit aber die weltbeste Schachspielerin, Judit Polgar, 1990 rund einen Monat früher zum Zug kam, fiel die Bestleistung regelmäßig: Leko (14 Jahre, vier Monate und 22 Tage), Etienne Bacrot (Frankreich/14 Jahre, zwei Monate) und Ruslan Ponomariow (Ukraine/14 Jahre, 17 Tage) hießen die Vorgänger von Bu Xiangzhi. Der Chinese, der mit sechs das westliche Schachspiel erlernte, wird sich vermutlich auch nicht lange darüber freuen dürfen. Der zwölfjährige U18-Europameister Teimour Radjabow (Aserbaidschan) gilt als größeres Talent. "Rekorde sind dazu da, gebrochen zu werden", erklärt Leko lapidar und schließt nicht aus, dass irgendwann sogar ein Acht- oder Zehnjähriger Großmeister wird. "Es gibt keine Grenzen nach unten." In dieselbe Kerbe schlägt Judit Polgar. "Ich wäre nicht überrascht, wenn das nächste Kind nur elf Jahre und acht Monate alt ist", bekennt die 23-jährige Ausnahmespielerin.

   Die inzwischen regelmäßigen Steigerungen fußen allerdings nicht allein auf noch größere kleine Schachgenies. "Was Bobby damals geleistet hat, bleibt einmalig", urteilt Leko über die Leistung seines Trainingspartners in Budapest und setzt fort, "wer kennt heute noch alle Großmeister?" Gab es damals nur wenige, sind es heute rund 800. Das Weltranglisten-System begünstigte die Inflation. Gab es zu Zeiten von Weltmeister Fischer nur eine Hand voll Koryphäen mit einer großmeisterlichen Elo-Zahl von 2600, verbuchten im Juli neun Könner mehr als 2700 Elo. "Das ist die neue Super-Kategorie", meint Judit Polgar. "Es ist nicht mehr so schwierig, die geforderte Spielstärke und die drei Normen zu haben", ergänzt Peter Leko. Der Grund: Ein Großmeister- Aspirant muss zwar wie früher in der Weltrangliste 2500 Elo erreichen, aber die breite Basis verwässerte das Niveau. Viele Amateure können nur durch ein besonders gelungenes Turnier einsteigen, sacken dann aber auch rasch in Richtung Minimum (2000 Elo) ab. Den Gewinn daraus ziehen die Profis, besteht doch das statistische System aus einem Nehmen und einem unfreiwilligen Geben.

   Welche Gefühle löste bei den beiden ungarischen Topstars der Titel als jüngster Großmeister aller Zeiten damals aus?

   „Ich war sehr glücklich, dass ich meine letzte Norm ausgerechnet bei unserer nationalen Super-Meisterschaft schaffte. Mehr freute mich jedoch mein Ergebnis als der Fakt, dass ich Bobbys Rekord brach", erinnert sich Judit Polgar und meint, Fischers Name werde gerne gebraucht, um "Zusammenhänge interessanter wirken zu lassen". Sie aber habe sich lediglich die letzten Monate vor dem neuen Rekord damit befasst, "weil jeder darüber sprach". Die Weltranglistenerste spürte jedoch auch rasch, dass ihre Bestleistung bald von einem Anderen gebrochen werden könnte. "Ich war schließlich auch mehrfach nur wegen eines halben Punktes an der dritten Norm gescheitert."

   Für ihren Nachfolger war der Titel als jüngster Großmeister "wirklich sehr, sehr wichtig". Leko sah dadurch einen Ausweg aus den "schlechten finanziellen Möglichkeiten in Ungarn". Zudem ebnete ihm die Hatz nach dem Rekord den Weg in Kategorie-15-Turniere wie in Wijk aan Zee (Niederlande). "Kategorie 15 war damals noch ein sehr starker Wettbewerb und äußerst wichtig für meine Entwicklung. Wer darf sonst schon mit 13 gegen Karpow spielen?", fragt der Weltklassespieler aus Szeged rein rhetorisch. Kurz trauert er der verpassten Gelegenheit nach, den zwei GM-Normen mit 13 gleich die dritte folgen zu lassen. "Ich hätte der erste Großmeister mit 13 sein können, sah es allerdings zu locker, weil ich noch genügend Zeit hatte für die Bestmarke. Immerhin ging es mit mir richtig aufwärts, als ich nicht mehr der jüngste Großmeister war", sieht Leko den Rekord auch als Bürde. Inzwischen ist er ihm "egal. Ich denke an das Heute. Seit dem Einzug in die Top 20 steckte ich mir neue Ziele".

   Trotz Bu Xiangzhi plagen Peter Leko wenig Sorgen, auch die Herren erlägen bald einer chinesischen Übermacht. Die große Mauer aus "fehlenden Vergleichen mit den Topleuten" halte die chinesischen Großmeister auf Distanz. Dafür dominieren sie zusammen mit Auswanderern "ihr" Spiel. Als sich der ehemalige WM-Kandidat Robert Hübner einst in die Höhle des Drachen wagte, landete er bei einem Xiangqi-Turnier unter ferner liefen.

   Dem "Spiel der Elefanten" fehlt die Leichtigkeit der westlichen Variante, die sich ebenso aus dem indischen Tschaturanga entwickelte. Die Langatmigkeit und fehlende Zug-Dynamik im Vergleich zum außerasiatischen Schach besitzt jedoch auch einen Vorteil: Computer setzen dem Chinesischen Schach noch lange nicht zu. Die Firma "Club Xiang Qi Ltd." hatte nach der Pleite von Garri Kasparow gegen "Deep Blue" anno 1997 eine Million US-Dollar Belohnung ausgesetzt. Die sollte jener Programmierer erhalten, dessen Software im Chinesischen Schach einen ausgewählten Meister bezwingt.

   Xiangqi wird zum einen nicht auf den 64 Feldern, sondern den Linien dazwischen gespielt. Weil der Gelbe Fluss das Brett überdies durchtrennt, umfasst es 90 Schnittpunkte aus zehn waagerechten und neun senkrechten Linien. Einige der grünen und roten Figuren ähneln von der Gangart denen im Abendland bekannten: Die zwei Wagen auf jeder Seite ziehen wie Türme. Der Unterschied zu den beiden Kanonen besteht darin, dass diese einen Stein überspringen müssen, wenn sie wie ein Turm bewegt werden sollen. Die Pferde wiederum galoppieren zwar wie Springer, dürfen jedoch im Gegensatz zu Letzteren keine Figuren überspringen. Die Elefanten agieren wie Läufer, ohne jedoch auf Grund ihrer Tumbheit deren Wirkungsgrad zu erreichen. Sie trampeln maximal zwei Linien diagonal und der Gelbe Fluss ist ihr Rubikon.

   Die fünf Soldaten marschieren wie die acht Bauern ein Feld nach vorne, ohne jedoch diagonal schlagen zu dürfen. Über dem Gelben Fluss dürfen die Soldaten dafür auch waagerecht marschieren. Gelangt einer auf der feindlichen Grundlinie an, erstrahlt er jedoch nicht im Glanze einer Dame, sondern muss ohne Umwandlung auf ewig dort verharren. Lediglich mit Zügen nach links oder rechts kann der Soldat noch Unruhe stiften. Vor allem in der Festung, in der die Leibwache allzu aufdringliche Steine zu beseitigen gedenkt. Der Bewegungsspielraum dieser "Sumo-Ringer" ist beschränkt. Die beiden Leibwachen können nur fünf Felder diagonal ansteuern. So hat der General (dem der diagonale Zug seines Pendants, dem westlichen Königs, verwehrt bleibt) in seiner neun Punkte umfassenden Festung genug zu tun, um nicht geschlagen zu werden. Obwohl sich die beiden Generäle nie direkt auf die Pelle rücken, können sie durch Fernwirkung den feindlichen Oberkommandeur beeinflussen. Sie dürfen nie auf einer Linie stehen, wenn sich keiner der jeweils 15 Handlanger dazwischen postiert. Die europäischen Monarchen nehmen die so genannte Fernopposition weit lockerer als die chinesischen Generäle.


zur Meko