Startseite Rochade Kuppenheim

Die Welt heult auf

Garri Kasparow setzt die Welt matt

von Hartmut Metz

mehr Schachtexte von Hartmut Metz


   Die Welt ist doch noch matt gegangen. Nach 62 Zügen hat sich der beste Schachspieler des Planeten, Garri Kasparow, im Internet gegen mehr als 3,5 Millionen Gegner durchgesetzt. In der bisher spektakulärsten Veranstaltung im weltweiten Web, die es auf über 25 Millionen Zugriffe in der Microsoft "Gaming Zone" www.zone.com/kasparov brachte, votierten 51,01 Prozent der Teilnehmer aus 79 Nationen für die Aufgabe der Partie gegen den russischen Großmeister. Die Partie, die am 26. Juni begonnen hatte und in der die Kontrahenten im 24-Stunden-Rhythmus die Züge austauschten, wurde hoffnungslos.

   „In spätestens 25 Zügen ist der schwarze König matt", tönte Kasparow nach seinem Sieg und belegte dies mit Varianten eines Computers. Zuvor hatte der 36-Jährige weniger optimistisch geklungen. Mit Hilfe von vier jungen Beratern setzte die Welt dem Weltmeister von eigenen Gnaden kräftig zu. Um allzu stümperhafte Zugvorschläge auszumerzen, halfen vier Talente dem "Rest der Welt". Die Riege der Berater am heimischen Computer führte Etienne Bacrot an. Der Franzose wurde 1997 im Alter von 14 Jahren und zwei Monaten der jüngste Großmeister aller Zeiten. Aus den USA stammen Florin Felecan (19) und Irina Krush (15). Überdies hatte Kasparow vor mehr als vier Monaten Elisabeth Pähtz aus Kerspleben (bei Erfurt) nominiert. Von der 14-jährigen Nationalspielerin aus Thüringen war er nach einer Partie auf der Cebit in Hannover besonders angetan. Der Russe prophezeite, bis 2001 werde die frischgebackene Deutsche Damen-Meisterin in die Top Ten der Damen-Weltrangliste vorstoßen.

   Nach 50 Zügen erreichte der vermeintlich chancenlose Außenseiter ein Damen-Endspiel, das ein Remis versprach. Den Moderator der Internet-Partie erstaunte bis dahin der Verlauf. "Ich bin sehr überrascht, wie gut sich die Welt hält", bekannte der Engländer Daniel King. Ein weiterer Großmeister, Thomas Pähtz, Elisabeths Vater, ergänzte: "Das Brett brennt. Jedes Schach-Herz muss angesichts dieser spannenden Begegnung höher hüpfen." Zu verdanken sei dies dem geistreichen zehnten Zug, als die schwarze Dame nach e6 schwenkte. "Eine glänzende Fortsetzung", gratulierte Kasparow, dem sonst selten solche Eröffnungsnuancen entgehen. In London lobhudelte der 36-Jährige Anfang Oktober gar, die Partie sei eine der besten seiner gesamten Karriere und das Internet könne die Schach-Qualität deutlich steigern.

   Die Welt besaß im Damen-Endspiel zwei gegenüber einem Bauern Kasparows. Aber da dieser auf g5 weiter in Richtung Umwandlungsfeld zur nächsten Dame vorgerückt war, befand sich die Stellung in der Balance. Doch nach "mehreren Ungenauigkeiten und dem vermutlich letzten und entscheidenden Fehler im 56. Zug, dem Bauernvormarsch nach d5", referierte Kasparow, sei die Stellung verloren gewesen. Die Welt beglückwünschte er trotzdem zu dem "großartigen Kampf. Wir zeigten alle Elemente des modernen Schachs: Die Eröffnung beinhaltete einen beachtlichen neuen Zug, das Mittelspiel wurde phänomenal geführt und das Endspiel verlangte mathematische Präzision".

   Kasparow schwärmte gewohnt überschwänglich von den Möglichkeiten, die das weltweite Web seinem Sport bietet: "Fußball, Basketball und Tennis kann man im Computer nur simulieren - Schach spielt jedoch jeder wie gewohnt." Microsoft dankte im Gegenzug dafür dem Moskauer, der mit der Partie "seine Stellung als ein wahrer Botschafter des königlichen Spiels unterstrichen" habe. Freilich nutzte ihm selbst das ungeheure Echo, das ironischerweise den bisherigen Internet-Rekord - Kasparows Niederlage 1997 gegen das IBM-Programm "Deep Blue" - brach, wenig. Microsoft galt als letzte Hoffnung des Russen, heuer noch drei Millionen Dollar für ein WM-Match gegen den Inder Viswanathan Anand aufzutreiben (wir berichteten).

   Der außerordentliche Erfolg der Internet-Partie "Kasparow gegen den Rest der Welt" ließ die Unterstützung logisch erscheinen. "Auch wenn das Interesse zurückging, verbuchten wir immer noch durchschnittlich pro Tag 40.000 bis 50.000 Besucher. Über 35.000 gaben zudem ihren Zug für die Partie ab", plaudert Eddie Ranchigoda zufrieden aus dem Nähkästchen. Der Produktmanager der MSN Gaming Zone zeigt sich "sehr glücklich über die Nachfrage und die spannende Partie, die überall auf der Welt für Aufsehen sorgte". Schullehrer hätten sich sogar im Unterricht mit der Begegnung befasst und in mancher Stadt sei auf großen Leinwänden das Duell verfolgt worden.

   Trotz aller Begeisterung über das Match zwischen Kasparow und dem Rest der Welt hat "Microsoft derzeit keine speziellen Pläne, bedeutende Schach-Veranstaltungen zu sponsern. Der Event wurde als Experiment angesehen, der durch einen Vergleich mit einem angesehenen Champion für ein besonders großes Interesse sorgen sollte. Das gelang", meint Ranchigoda. Der Erfolg der Schachpartie, ergänzt Ranchigoda, garantiere weitere Versuche. "Nicht nur im Schach, sondern auch in anderen Gesellschafts-Spielen."

   Kasparow festigt durch das Internet-Duell somit nicht nur seinen Ruf als glänzender "Botschafter des königlichen Spiels", sondern auch seinen russischen Spitznamen als "die Einwegspritze". Einmal mehr konnte der charismatische Weltranglistenerste ein Unternehmen nur kurz für seine Ziele begeistern. "Die Einwegspritze" widmet sich daher zwangsläufig seinem neuesten Projekt: Am 18. Dezember beginnt in seinem Internet-Club www.clubkasparov.ru der "Einweihungs- Grand-Prix". Das Finale des mit 48.000 US-Dollar dotierten Wettbewerbs, bei dem die Partien mit einer Stunde Bedenkzeit live übertragen und kommentiert werden, ist einprägsam auf 1. Januar 2000 angesetzt. Mit Kasparow messen sich vom heimischem Computer aus Koryphäen wie Alexander Morosewitsch (Russland), Michael Adams, Nigel Short (beide England), Yasser Seirawan (USA) und Etienne Bacrot, um die populärsten teilnehmenden Großmeister rund um den Globus zu nennen. Überdies ist das israelische Programm "Junior 6.0" unter dem Namen "Deep Junior" mit von der Partie.

   In den letzten Zügen mischten sich Misstöne unter die ansonsten so grandiose Werbung für den Schachsport. Gar von Manipulation, die Kasparow eine weitere Blamage wie gegen Deep Blue ersparen sollte, ist auf mehreren Internet-Seiten die Rede. Während der mit Abstand stärkste Berater, Bacrot, eher lustlos mitzuspielen schien, bestimmte die heimliche Mannschaftsführerin Irina Krush das Geschehen mit den schwarzen Steinen. Bis zum Eklat nach dem 57. Zug votierte die Millionen-Schar nur viermal nicht für den Vorschlag der 15-Jährigen, die das Match als die Möglichkeit sah, in den USA auf sich aufmerksam zu machen. Mehrere Großmeister bis hin zu denen der St. Petersburger Schachschule, die der offizielle Weltmeister Alexander Chalifman betreibt, unterstützten Krush. Die Teilnehmer entschieden sich so lediglich in den Zügen 3, 6, 51 und 52 nicht für ihre Vorschläge. Blieb dies anfangs ohne Auswirkung, verschlechterte der 51. Zug die Lage.

   Dabei hatte ein Unbekannter namens Jose Unodos zig Identitäts-Adressen in der MSN Gaming Zone für sich produziert und mit seinem Votum eine knappe Mehrheit für den Bauernzug b7-b5 anstatt des von Krush vorgeschlagenen Königszugs von b1 nach a1 erreicht. Der hätte nach den ausführlichen Analysen von Chalifman&Co. leicht zur Punkteteilung geführt. Martin Sims testete daraufhin mit dem Dameneinsteller 53...Dd1-e2 die von Microsoft beschworene Sicherheit des Systems. Problemlos produzierte er rund 250 Identitäts-Namen und hievte den Zug damit in die Top fünf der Abstimmungsliste. Der Autor dieser Zeilen machte die Erfahrung, dass die MSN Gaming Zone regelmäßig neue Code-Namen verschickte, wenn man sich für die Partie angemeldet hatte, aber nie abstimmte. An die zehn Pseudonyme bekam ich so zugemailt, mit denen die Voten ebenfalls minimal zu verfälschen gewesen wären.

   Das Fass zum Überlaufen brachte die verweigerte Veröffentlichung, als Krush ihren 58. Zug mit der Dame nach f5 leicht verspätet eingeschickt hatte. Dadurch kam der schwache Damenzug nach e4 aufs virtuelle Brett, und Kasparows Sieg stand endgültig außer Frage. Fortan beteiligte sich Krush nicht mehr und ihre Fan-Gemeinde unterstützte den Boykott mit den Worten: "Wir wollen nicht, dass diese einst größte Partie der Schach-Geschichte als ein weiteres simples 1:0 für Kasparow in die Bücher eingeht. Nach dem 51. Zug, vielleicht sogar früher, spielte Kasparow nicht mehr gegen den gleichen Gegner wie zuvor." Gegen die Vorwürfe spricht, dass es zumindest Microsoft lieber gesehen hätte, wenn Schwarz ein Erfolgserlebnis gefeiert hätte. Die Sympathie der Welt wäre dem Software-Giganten gewiss gewesen. Jetzt heult die Welt auf.

Weiß: Kasparow Schwarz: Die Welt

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.Lb5+ Ld7 4.Lxd7+ Dxd7 5.c4 Sc6 6.Sc3 Sf6 7.0-0 g6 8.d4 cxd4 9.Sxd4 Lg7 10.Sde2 De6








11.Sd5 Dxe4 12.Sc7+ Kd7 13.Sxa8 Dxc4 14.Sb6+ axb6 15.Sc3 Ta8 16.a4 Se4 17.Sxe4 Dxe4 18.Db3 f5 19.Lg5 Db4 20.Df7 Le5 21.h3 Txa4 22.Txa4 Dxa4 23.Dxh7 Lxb2 24.Dxg6 De4 25.Df7 Ld4 26.Db3 f4 27.Df7 Le5 28.h4 b5 29.h5








29...Dc4 30.Df5+ De6 31.Dxe6+ Kxe6 32.g3 fxg3 33.fxg3 b4 34.Lf4 Ld4+ 35.Kh1 b3 36.g4 Kd5 37.g5 e6 38.h6 Se7 39.Td1 e5 40.Le3 Kc4 41.Lxd4 exd4 42.Kg2 b2 43.Kf3 Kc3 44.h7 Sg6 45.Ke4








45...Kc2 46.Th1 d3 47.Kf5 b1D 48.Txb1 Kxb1 49.Kxg6 d2 50.h8D d1D 51.Dh7 b5 52.Kf6+ Kb2 53.Dh2+ Ka1 54.Df4








54...b4

Um die schwarze Dame zu aktivieren.

55.Dxb4 Df3+ 56.Kg7 d5 57.Dd4+ Kb1 58.g6 De4 59.Dg1+ Kb2 60.Df2+ Kc1 61.Kf6 d4 62.g7

Die Variante, die Kasparow bis zum Matt angibt: 62.....Dc6+ 63. Kg5 Dd5+ 64.Df5 Dg2+ (64...Dd8 65.Kh6 ergibt Matt in 22) 65.Dg4 Dd5+ 66.Kh4! Dg8 (oder Dh1+ 67.Kg3 De1 68.Kf4 Dd2+ 69.Kf5 Dc2+ 70.Kg5 Dc5+ 71.Kh4 d3 72.g8D Df2+ 73.Dg3 Df6+ 74.Kg4 Dd4+ 75.Kh3 Kb2 76.Dg2+ Kc1 77.Dh1+ Kd2 78.Da2+ Ke3 79.De1+ Kf4 80.Df7+ Kg5 81.Dd2+ De3+82.Dxe3 matt) 67.Df4+ Kc2 68.Df8 Dh7+ 69.Kg5 Dh2 70.g8D Dg3+ 71.Kf5 Df3+ 72.Ke6 Db3+ 73.Kd6 Db4+74.Ke5 De1+ 75.Kxd4 (Nun ist ein Matt in 12 Zügen unvermeidlich. Ein Beispiel:) Da1+ 76.Ke4 Da4+ 77.Ke3 Da7+ 78.Kf3 Db7+ 79.Kg3 Dc7+ 80.Df4 Dxf4+ 81.Kxf4 Kd3 82.Db3+ Kd4 83.Db5 Kc3 84.Ke3 Kc2 85.Db4 Kc1 86.Kd3 Kd1 87.Dd2 matt.

1-0


zur Meko