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Adlerauge mit flinker Maus

Schach im Internet

von Hartmut Metz, Februar 1999

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   Käpt´n Blaubär, Nasenmann, Albert Einstein, Lancelot, Doppelwhopper, John Lennon, Mütze, Schopenhauer, Königssklave oder Mister Spock - "faszinierend" fände der Schach begeisterte Vulkanier mit hochgezogener Augenbraue nur Hawkeye. Das "Habichtauge" sieht nämlich alles auf dem zweidimensionalen Brett und bricht im Internet einen Rekord nach dem anderen. Die Überlegenheit des Titelverteidigers musste auch Maxim Dlugy anerkennen, als der New Yorker Großmeister im WM-Finale mit 7,5:10,5 unterlag.

   Hinter dem gefürchtetsten Spitznamen auf den Schachservern verbirgt sich Roland Schmaltz. Gegenüber dem 24-Jährigen wirkten die 127 Konkurrenten bei der zweiten Internet- Weltmeisterschaft mit ihren 0:6-, 1:6- oder bestenfalls 2:6-Schlappen wie graue Feldmäuse vor dem scharfsichtigen Adlerauge. Bereits im Vorjahr war der Mannheimer am Schluß der letzte Mohikaner. Aus dem gleichnamigen Buch stammt Schmaltz´ Pseudonym im Internet Chess Club (ICC). Über den Umweg der Fernsehserie "M.A.S.H", in der der Hauptdarsteller von seinem Vater wie der Indianer aus dem Roman "Hawkeye" gerufen wurde, fand er Gefallen an der Namen gewordenen Warnung.

   Verrückt wie die TV-Serie "M.A.S.H" ist die Schachszene im Internet. Die Verrücktheiten beginnen schon in der Arithmetik. Wie lange dauert eine so genannte Bullet- Partie maximal, bei der jede der beiden Seiten eine Minute Bedenkzeit besitzt? Falsch, eher drei Minuten. Während sich Klubspieler beim Vereinsabend mit im Vergleich dazu beschaulichen fünfminütigen Blitzpartien vergnügen, folgen die Freaks an den Bildschirmen dem Trend der immer schnelllebigeren Zeit. Dabei nutzen sie die "Lags" (Übertragungszeiten zum Schachserver) aus, die bei langsamen Verbindungen bis zu einer Sekunde betragen, um ihren Zug auf dem gewünschten Feld anzudeuten. Trifft die vermutete Antwort des Gegners ein, läßt man die eigene Figur postwendend "droppen" (fallen). Das führt oft zu haarsträubenden Schnitzern, spart allerdings enorm viel Zeit, so dass durch diese Art des "Blinde-Kuh-Spiels" (Großmeister Philipp Schlosser alias Fitzlibutzli) bis zu 200 Züge in 60 Sekunden auszuführen sind. Als bisher einziger Mensch hat es Hawkeye sogar einmal geschafft, ein Schach-Programm durch Zeitüberschreitung zu bezwingen.

   Mittlerweile frönen über 20.000 Spieler ihrem Hobby auf dem am stärksten frequentierten Schachserver, dem ICC www.chessclub.com. Mehr als 5.000 sind es bei der abgespalteten Gegenbewegung "Free Internet Chess Club" (FICS). Protestler, die sich im FICS www.freechess.org tummeln, verweigerten die 49 Dollar Jahresbeitrag. Da der ICC allerlei Unterhaltung rund um das altehrwürdige königliche Spiel bietet, wächst sein Klientel dennoch unaufhörlich. Für ein Schwätzchen finden sich ebenso wie für Partien immer Gleichgesinnte. Täglich werden weit über 65.000 Begegnungen ausgetragen - meist im Bullet oder Duelle mit drei Minuten Bedenkzeit je Akteur, weil die wenigsten Lust auf stundenlange Konzentration wie in Turnierpartien verspüren. Der Nervenkitzel für die Kunden aus 70 Ländern besteht darin, dass eine Niederlage mit dem nächsten Vergleich schnell verwunden werden kann, um die gerade verlorenen Rating- Punkte zurückzuholen. Von der eigenen Wertungszahl hängt das Wertgefühl vieler Teilnehmer ab. Gerade dies beinhaltet "ernsthafte Suchtgefahren", wie Rainer "Grobi" Grobbel von der Uni Paderborn seinen Spielgefährten in einer Abhandlung aufzeigte.

   „Es gibt immer Gegner. Wer das Spiel liebt, wird schnell süchtig", räumt Schmaltz ein, der seit dem Abbruch seines Betriebswirtschaft-Studiums und dem Beginn der Ausbildung zum Fachinformatiker auf "nächtelange Sessions" verzichtet. Seine Ex-Freundin Sabine Klein nervte die Zeitverschwendung vor dem Computer - obwohl kleineBiene den Weltmeister über den an der Kaiserslauterner Uni ansässigen German Internet Chess Server (GICS www.unix-ag.uni-kl.de) kennen lernte. Mit einer Internet- Rechnung von 250 bis 300 Mark monatlich sowie allein "1.700 Stunden Surfen beim ICC in zwei Jahren" liegt Hawkeye jedoch nur im vorderen Mittelfeld der Besessenen. Grobbel nennt ein Beispiel eines Süchtigen, der in 30 Tagen 520 Stunden auf Schachservern vergeudete. Bleiben am Tag nicht einmal sieben Stunden zum Schlafen.

   Im ICC tummeln sich, was einen weiteren Reiz für den durchschnittlich begabten Spieler bietet, rund 100 Großmeister. Preisgelder gibt es bei den Turnieren im weltweiten Netz noch nicht zu verdienen, dagegen Honorare für Blitzpartien und Lehrstunden - der ehemalige Junioren-Weltmeister Dlugy befindet sich hierbei mit 60 US-Dollar im oberen Preissegment. Zu Trainingszwecken "loggen" sich überdies Ausnahmekönner wie der Weltranglisten-Vierte Alexander Morosewitsch und sogar Garri Kasparow ein. Das 36-jährige Schachgenie stellte bei seinem Gastspiel während des vergangenen Sommers als Erstes klar: "Entschuldigung, ich bin hier zum Spielen, nicht zum Quasseln." Sein exorbitantes Ergebnis von 33 Siegen, zehn Remisen und nur vier Niederlagen gegen die Creme des Internets, die ihm das Rekord-Rating von 3222 einbrachte, vertrieb den letzten Zweifel. Hinter dem Decknamen Vadik mußte sich der stärkste Spieler aller Zeiten verbergen.

   Der Moskauer schwärmt von den Möglichkeiten, die das weltweite Web seinem Sport bietet: "Fußball, Basketball und Tennis kann man im Computer nur simulieren - Schach spielt jedoch jeder wie gewohnt." Seinen Internet- Klub www.clubkasparov.ru frequentieren eher die Insider. Sein Match "Kasparow gegen den Rest der Welt" www.zone.com/kasparov verzeichnete dagegen bis zum 30. Zug über 14 Millionen Zugriffe durch die mehr als drei Millionen Teilnehmer. Selbst für die "Gaming Zone" von Microsoft, die rund fünf Millionen Mitglieder zählt, ein ungeheures Echo. Im 24-Stunden- Rhythmus tauscht dabei der "Rest der Welt" einen per Mehrheitsvotum festgelegten Zug mit dem Champion aus. Momentan befindet sich die Partie dank der Beratung von vier jungen Talenten - darunter die 14-jährige deutsche Nationalspielerin Elisabeth Pähtz - in einer spannenden Schlussphase.

   Von den sechs Milliarden Menschen war bisher nur einer allein in der Lage, Kasparow alias Vadik im Internet Paroli zu bieten: Roland Schmaltz, der auf Grund seiner Denkfaulheit und Ungeduld am realen Holzbrett beim Deutschen Schachbund lediglich an Position 27 notiert ist. Die erste Blitzpartie endete remis, die zweite ging vor zahlreichen Fans an den Monitoren an den Russen, die dritte blieb erneut ohne Sieger. Als dem Internet-Spezialisten dann dank gegnerischer Zeitüberschreitung der 2:2- Ausgleich gelang, trollte sich der andere Weltmeister. Hawkeye hatte einmal mehr seine "rasche Auffassungsgabe" und vor allem sein "schnelles Händchen mit der Maus" bewiesen. Habichte verteidigen also ihr Revier auch mit Mäusen.


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