Startseite Rochade Kuppenheim

"Posträuber" holt die letzte DDR-Medaille

Dreifacher Weltmeister Fritz Baumbach gibt Amt als Fernschach-Präsident ab

von FM Hartmut Metz, 1. Januar 2011

 

Eine Randnotiz der Geschichte hat Fritz Baumbach mehr Aufmerksamkeit beschert als seine drei WM-Titel zusammen. Als der Ostberliner 1983 Vizeweltmeister im Fernschach wurde, "bekam ich nicht einmal eine Zeile von einem Sportverband - die DDR hatte schließlich genügend Weltmeister in allen olympischen Sportarten. Als ich 1988 den Titel eroberte, kürte man mich immerhin zum ,Verdienten Meister des Sports'", erinnert sich der 75-Jährige. Berühmt machte den Patentanwalt aber erst eine Bronzemedaille 1995! Es war die letzte für die DDR - viereinhalb Jahre nach dem Zusammenbruch des Arbeiter- und Bauernstaats, weil der Versand der Züge per Postkarte innerhalb des Ostblocks oft Monate gedauert hatte.

Fritz Baumbach
Fritz Baumbach bei einer ICCF-Ehrung 2009 mit Matthias Kribben

"Der Rummel von damals ist nicht mehr zu übertreffen", weiß Baumbach, der heute nach 17 Jahren als Präsident des Deutschen Fernschachbundes (BdF) abtritt. Selbst Günther Jauch lud die Fernschach-Legende zu "Stern TV" ein. "Das war ganz nett", sagt der eloquente Buchautor, der mit einfallsreichen Sätzen wie "Staaten kommen und gehen - Schach bleibt" zu unterhalten weiß. Schließlich holte die sechsköpfige DDR-Auswahl nicht alleine den letzten Sieg für den Sozialismus: Die Sowjetunion wurde in dem 1987 begonnenen Wettbewerb Weltmeister, England sicherte sich Silber vor der DDR und der CSSR - "drei von vier Staaten gab es nicht mehr", schiebt Baumbach schmunzelnd hinterher.

Das Talent aus Gera wurde mit einem Berliner Schachklub zwar im Turnierschach am Brett siebenmal DDR-Mannschaftsmeister und 1970 Einzelmeister. Mit 14 wuchs jedoch seine Passion fürs Fernschach. Den Unterschied weiß der fünffache Familienvater anschaulich zu erklären: "Nahschach ist wie eine Klassenarbeit, Fernschach entspricht dagegen eher einer Hausarbeit." Letztere liegt ihm als Wissenschaftler, der bis heute Arzneimittel patentiert, mehr. Zu Hause durfte man herumprobieren, sinnieren und Freunde hinzuziehen. Und Zeitdruck herrschte sowieso keiner. Drei Tage Bedenkzeit standen einem nach Erhalt der Postkarte zu - und vor der E-Mail-Ära, die auch vor Fernschach nicht Halt machte, kamen oft noch monatelange Postlaufzeiten im Ostblock hinzu, so die Postkarte überhaupt jemals ankam! Da ging es sogar vor Jahrhunderten schneller, als Städtekämpfe im Schach en vogue waren und Brieftauben die Züge den herrschaftlichen Klubs überbrachten. Erste solche Kämpfe sollen um 1650 zwischen venezianischen und serbischen Städten via Handelsschiffen stattgefunden haben. 1706 duellierte sich London und Paris auf den 64 Feldern. 1740 spielte Friedrich der Große über Kuriere angeblich mit Voltaire Schach. Die erste überlieferte Partie trugen 1804 Den Haag und Breda aus. Telegraf und Funk folgten im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als fortgeschrittenere Korrespondenztechniken. Baumbachs Liebe hinter der Mauer gehörte wegen des Postverkehrs der nahezu unbekannten Denksport-Sparte. "Fernschach bot eine zusätzliche gesellschaftliche Komponente: Man bekam Kontakte zu fremden Kulturen, die sonst unmöglich blieben. Briefe aus dem Westen galten als etwas Besonderes - und gelegentliche Päckchen, die mancher Gegner sandte, waren ein angenehmer Nebeneffekt", gesteht der promovierte Chemiker.

Dass der Fernschach-Großmeister wie viele andere ins Visier der Geheimdienste rückte, sieht der fünffache Familienvater gelassen. Die Züge auf den Postkarten werden in vierstelligen Zahlencodes notiert: Das Ausgangsfeld einer Figur gibt man in zwei Ziffern an (das Feld a1 heißt 11), ebenso das Endfeld, etwa das obere rechte Eck h8 (88). So löste ein harmloser Läuferzug wie "1188" bei übereifrigen Spitzeln häufiger Kopfzerbrechen aus ...

Amüsierter als an diese Anekdote denkt Baumbach an die wichtigste seines Lebens zurück. "Ich warf meinen Zug gegen Gennadi Nesis am Abend in den Briefkasten ein. In der Nacht schreckte ich plötzlich auf und fragte mich verzweifelt, ob ich nach einem Springeropfer von ihm nicht sofort verliere. Ich sprang aus dem Bett und analysierte bis morgens um 6 Uhr am Brett die Folgen - kam aber zu keinem eindeutigen Ergebnis. Ich musste also die Postkarte zurückhaben! Die Briefkasten-Leerung erfolgte vor meiner Wohnung stets um 8 Uhr. Also postierte ich mich eine halbe Stunde vorher vor diesem und wartete auf den Postbeamten - mit einem Geldschein in der Tasche! Ich war zu allem bereit, auch zum Raub! Letztlich erbarmte sich der Postbeamte aber ohne Bestechung doch." In langen Analysen über Weihnachten stellte Baumbach fest, dass der Zug kein Fehler war, schickte diesen ein zweites Mal ab und schlug Nesis. Der Russe wurde so punktgleich hinter dem Ostdeutschen Vizeweltmeister.

Fritz Baumbach
Fritz Baumbach

Weil inzwischen alle mit Computer-Programmen spielen und elektronische Nuancen statt menschliche Patzer entscheiden, büßte Fernschach seinen Reiz ein. Nur noch 18000 spielen es weltweit - direkt nach der Wende waren es allein im vereinigten Deutschland 10000, von denen ein Viertel übrig blieb. Der scheidende BdF-Präsident freut sich über die zuletzt konstante Zahl und vergleicht den Wandel im Fernschach anhand der Vierschanzentournee: "Jens Weißflog gewann mit der alten herkömmlichen Flugtechnik und verlor durch den neuen V-Stil den Anschluss. Er kehrte zurück und siegte wieder bei der Vierschanzentournee. So ist es auch im Fernschach: Man musste die Technik umstellen. Leichte Patzer schließen die Programme aus. Inzwischen wählt der Spieler zwischen mehreren Möglichkeiten, die der Computer liefert. Fernschach wurde noch analytischer und wissenschaftlicher." Das will der Spitzenspieler auch wieder bei der aktuellen WM mit dem dritten gesamtdeutschen Titelgewinn beweisen. Wird Fernschach wie sein Heimatstaat dereinst einfach ausgelöscht? Baumbach sieht's gelassen: "Nein, die DDR war von einem Tag auf den anderen weg. Bei uns wird das ein schleichender Prozess. So lange ich lebe, wird Fernschach noch gespielt. In 20 Jahren dürften die Programme aber so stark sein, dass der menschliche Einfluss marginal bleibt. Mit dem Ende rechne ich 2050." Nachstehend die Partie, die Baumbach den Schlaf raubte.











Baumbach,F - Nesis,G [D86]
11. Fernschach-WM, 1981

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 Lg7 7.Lc4 0-0 8.Se2 Dd7 Ein Spezialzug von Nesis, der diesen laut der Eröffnungsbibel "Informator" zuvor schon dreimal erfolgreich eingesetzt hatte. 9.0-0 b6 10.Le3 Lb7 11.f3 Sc6 12.Lb5 Dd6 Eine Neuerung aus der Werkstatt von Nesis, zunächst soll jeder schwächende Bauernzug vermieden werden. 13.e5 "Ich warf meine Antwortkarte in den Briefkasten, ohne das mögliche Springeropfer auf e5 mit Angriff auf beide Läufer berücksichtigt zu haben", schrieb Baumbach in seinem Fernschach-Klassiker "52-52-Stop" und setzte fort, "in der folgenden Nacht wachte ich auf, plötzlich kam mir Sxe5 in den Sinn, was auf den ersten Blick sehr gut aussieht. Was war zu tun? Ich zog mich an und bewachte den Briefkasten bis zur Leerung ..." 13...Dd5 [ 13...Sxe5 analysierte Baumbach nach Abfangen des Briefträgers und der eigenen Karte über Weihnachten. Den Zug gedachte er wie folgt zu widerlegen: 14.dxe5 Dxe5 15.Dd3 a6 ( 15...Tfd8 16.Ld4 Dg5 17.La6 gibt Weiß eine klar bessere Stellung mit Figur für zwei Bauern.) 16.Lc4 Tfd8 17.Ld4 Dg5 18.Tf2?! Der Zug hatte Baumbachs Nerven beruhigt. Heutige Programme schlagen jedoch ungerührt von der Anfesselung des Läufers auf d4 vor: ( 18.a4! e5 19.Le3 Dh4 20.Lf2 Dg5 21.De3 und die Mehrfigur bleibt erhalten.) 18...c5 ( 18...e5? verliert wegen 19.f4 exf4 20.Sxf4+- ) 19.De3 Lf6! 20.h4 cxd4 21.Dxg5 Lxg5 22.hxg5 Tac8 23.Lb3 dxc3 mit Ausgleich.] 14.Tb1 e6 [ 14...Dxa2!? 15.c4 a6 16.Ta1 Dxa1! 17.Dxa1 axb5 18.Db2 bxc4 ist eine interessante Alternative mit Damenopfer, die aber beiden Fernschach-Koryphäen damals ohne Computer-Hilfe zu gefährlich erschien.] 15.Dd2 Sa5 16.Lg5! Das fand Baumbach "ungeheuer stark", nicht nur weil Sf4 mit Damengewinn droht. 16...c6 17.Ld3 f6?! Das schwächt unnötig den Punkt e6. [ 17...Sc4 18.Dd1 La6 überlässt Weiß nur ein kleines Plus.] 18.exf6 Lxf6 19.Lxf6 Txf6 20.Sg3 Taf8?! [ 20...e5? widerlegt der Anziehende mittels 21.Dg5 Te6 22.Lf5! Td6 23.Se4 Deshalb sollte; 20...Tff8 geschehen, auch wenn wiederum Weiß hernach klar besser steht.] 21.Tfe1 c5?! Noch eine Ungenauigkeit. 22.Se4 Tf5 23.dxc5 Dd8 [ 23...bxc5 24.Tb5 La6 25.Txa5 Lxd3 26.Txc5 Dd8 27.Td1 Db6 28.Dxd3 Txc5 29.Sxc5 Dxc5+ 30.Dd4 kostet Schwarz einen Bauern.] 24.cxb6 Lxe4 25.fxe4 Tf2 26.Te2 T2f7 27.De3! [ 27.bxa7?? verdirbt die Partie wegen des herrlichen Tricks 27...Db6+!! 28.Tf2 reicht nicht ganz ( 28.Txb6? Tf1# ) 28...Txf2 29.Txb6 Txd2 30.h4 ( 30.Tb8 Td1+ 31.Lf1 Tdxf1# ) 30...Sc6! 31.Txc6 Txd3 32.Tc7 Td1+ 33.Kh2 Tdf1 34.Tb7 T1f7 und der a-Bauer ist aufgehalten.] 27...axb6 28.Tee1! [ 28.Teb2? Td7! 29.Le2? ( 29.Td2 Sc4 30.Lxc4 Txd2 31.Lxe6+ Kg7 32.Ld5 Tff2 33.Dxf2 Txf2 34.Kxf2 Df6+ 35.Ke2 Dxc3 36.Txb6 führt zum Remis.) 29...Sc4 30.Lxc4 Td1+ 31.De1 Der einzige Zug, um das Matt zu verhindern. 31...Txe1+ 32.Txe1 Dc8 33.Tb4 Kg7 34.Td1 Dc6 und Schwarz steht auf Gewinn.] 28...Td7 29.Le2 Td6 30.Ted1 Txd1+ 31.Txd1 Dc7 32.Tb1 Tb8 33.Tb5? [ 33.Lg4 e5 34.Le6+ Kh8 35.Ld5 erhöht die brettbeherrschende Wirkung des Läufers.] 33...Sc4 34.Dd4 Td8! 35.Df6 [ 35.Dxc4? zeigt, warum es unklug war, den Turm von der Grundreihe abzuziehen. 35...Td1+! 36.Kf2 Df4+ 37.Lf3 Dh4+ 38.Ke3 Dh6+ 39.Kf2 ( 39.Ke2 Dd2# ) 39...Dh4+ 40.g3 ( 40.Ke2 De1# ) 40...Dxh2+ 41.Lg2 Td2+ 42.Ke3 Dxg2 43.Dxe6+ Kg7 44.De7+ Kg8 45.De8+ Kg7 46.De7+ und Weiß muss ein Dauerschach geben.] 35...Te8 36.h3 Se3 37.De5! Dd8 38.Dd4 Dxd4 39.cxd4 Sc2 40.Txb6 Sxd4 41.La6! Sperrt die c-Linie für den schwarzen Turm und lässt den a-Bauern rasch gefährlich weit vorrücken. 41...Kg7 42.a4 Kf6? [ 42...Ta8 erweist sich als hartnäckiger.] 43.Lb7 Te7 44.a5 Tc7 45.a6 Tc1+ 46.Kf2 Ta1 47.Ke3 Ke5 48.Kd3 Ta4 49.Kc3 Se2+ 50.Kb3 Ta1 51.Tb4 Sd4+ 52.Kc3 Ta3+ 53.Kc4 Sc2 54.Tb3 Kd6 [ 54...Ta2 55.Tb5+ Kf4 56.Kc5 Se3 57.Tb4 Sc2 58.Tb3 Se3 59.g3+ Kf3 60.Kb6 Kf2 61.a7 Sc4+ 62.Kc5 Txa7 63.Kxc4 mit Mehrfigur.] 55.Txa3 Sxa3+ 56.Kb4 [ 56.Kb4 Der a-Bauer marschiert durch nach 56...Sc2+ 57.Kb3 Sd4+ 58.Kc4 oder Schwarz gerät in ein verlorenes Bauernendspiel: 58...Sc6 59.Lxc6 Kxc6 60.Kd4 Kb6 61.Ke5 Kxa6 62.Kxe6 ] 1-0



Meko 2011
Meko-Übersicht
Startseite