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"Wellental nach dem Auftakt-Desaster"

Schach-Weltmeister Anand verteidigt in dramatischer Schlussrunde den Titel gegen den Bulgaren Topalow

Foto und Text von FM Hartmut Metz, 5. Juli 2010

 

Viswanathan Anand hat in einer dramatischen zwölften WM-Partie seinen Titel verteidigt. Der 40-jährige Inder schlug seinen bulgarischen Herausforderer Wesselin Topalow mit 6,5:5,5 und kassierte dafür 1,2 Millionen Euro Preisgeld. Nach dem spannenden Zweikampf im Militärklub unterhielt sich Hartmut Metz in Sofia mit Anand.

Frage: Nach dem Sieg in der aufregenden zwölften Partie sagten Sie mir als Erstes: "Heute bin ich um zehn Jahre gealtert!" Fühlen Sie sich einen Tag danach noch immer wie 50?
Anand (lacht): Es ging eben heiß her, bis zum Schluss blieb alles offen. Morgens wachst du auf und machst dir Gedanken, was passiert, wenn du heute verlierst oder es mit einem Remis in den Tiebreak geht. Insgesamt war es ein hartes Match. In einem langen Zweikampf musste ich erstmals auch die letzte Partie auskosten - vorher verliefen die Wettkämpfe stets eindeutiger.

Frage: Beabsichtigten Sie mit 25…La6 ein indirektes Remisangebot an Topalow oder wollten Sie nach 26.Dc2 in der harmonischer aufgebauten schwarzen Stellung etwas anderes als Ld3 probieren?
Anand: Das weiß ich selbst nicht. Als ich Ld3 spielte, glaubte ich, dass ich besser stehe. Nachdem er Dc1 zog, investierte ich 15 Minuten Bedenkzeit. Ich überlegte an e5, e4, ein Opfer hier, ein Opfer dort - aber ich entdeckte nirgends Vorteil für mich. So dämmerte mir langsam, dass ich vielleicht gar nicht besser stehe. Deshalb zog ich den Läufer nach a6 zurück, weil er wegen des Einschlags auf d2 nicht auf c5 nehmen konnte. Hätte Wesselin dann wieder Dc2 gezogen, hätte ich mich mit Ld3 nochmals befasst. Womöglich hätte ich aber auch e5 gespielt. Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall bedeutete der Läuferzug kein Remisangebot, ich hätte nach Dc2 alles wieder geprüft. Das erübrigte sich indes nach 26.Ta3 Lb7 27.Sb3 Tc7. Auf c5 konnte Weiß nie nehmen. So plante ich f5, sah allerdings keinen Fortschritt, wenn Weiß einfach mit Te2 den Bauern deckt - doch er nahm schnell weg. Ich spielte e4, und er nahm schnell weg.

Frage: Daraufhin rutschten Sie im 32. Zug unruhig auf Ihrem Stuhl umher: Wurde Ihnen vor Dxe4 klar, dass Ihnen der erste Schwarz-Sieg der WM gelingen könnte und der Titel nahe war? Anand: Sogar unsere letzten sieben entschiedenen Partien gewann immer Weiß. Viermal er, dreimal ich. Insofern ist es besonders angenehm, dass ich jetzt mit Schwarz die Serie brechen und das Match erfolgreich beenden konnte. Ich sah, dass ich mit De4 gewinnen musste - und er hatte offenbar nach 33.Kh3 Td4 34.Se3 schlicht De8 übersehen. Danach ändern sich deine Gefühle plötzlich gänzlich: Am Morgen weißt du noch nicht, wie es dir ergehen wird - und nun scheint alles gut zu enden.

Frage: Mit dem weißen Königsmarsch nach h4 wurde es trotzdem nochmals spannend.
Anand: Ich berechnete 35.g4 h5, nach dem ich sehr glücklich war. 36.Kh4 beachtete ich zuerst gar nicht. Ich fand nun nach Dd8+ 37.f6 gxf6 kein Matt! Anders als der Computer brach ich die Berechnung der Variante ab. Was nun? So ging ich mit g5+ langsamer voran.

Frage: Die Computer spuckten rasch aus, dass 36…Dd8+ anstatt g5+ am einfachsten gewonnen hätte. Auch 40…Kh7 statt Kg7 mit der herrlichen Variante 41.Th8+ Kxh8 42.Df8+ Dg8 43.Dxe7 Dc8!! mit vernichtendem Abzugsschach war präziser. Sie wirkten plötzlich auch fahrig wie Topalow. Kamen da Erinnerungen an die neunte Partie hoch, in der Sie die Führung mehrfach verpassten?
Anand: Die eine Seite in dir will, dass du ruhig bleibst, die andere lässt sich allerdings nicht bezähmen. Ich kam wieder runter von meinem Trip. Nicht ganz, weil ich trotzdem überzeugt war, dass die Stellung gewonnen sein musste. Es bringt dich durcheinander, wenn du erst meinst, es ist vorbei - und dann alles doch wieder unklar wird. Ich entdeckte jedenfalls in der genannten Variante nach Kh7 den Konter Th8+ - weil ich jedoch keinen Gedanken an die Abwicklung mit der Pointe Dc8 verschwendete, verfiel ich auf Kg7 mit Übergang ins gewonnene Bauernendspiel.

Frage: Eine beachtliche Rechenleistung, in solch einer hochkomplexen Stellung zwölf Züge vorauszudenken! Nach 47…De2+ wirkten Sie wieder stoisch: Wussten Sie in dem Moment, dass Sie Weltmeister bleiben?
Anand: Ja. Da wusste ich, dass ich den Bauern auf b2 rausnehme und gewinnen sollte. Man musste lediglich auf irgendwelche Dauerschachs aufpassen. Doch schnell wurde mir klar, dass mein König umherlaviert nach g8 und wenig später nach h7, seiner nicht nach vorne kann und bald eine Art Zugzwang entsteht.

Frage: Wie bewerten Sie den gesamten Matchverlauf?
Anand: Es war ein Wellental. Die erste Partie war schlicht ein Desaster. Trotzdem machte ich mich nicht verrückt, weil das Match noch lange dauerte und auch gleich die nächste Begegnung anstand. Die folgenden zwei Weiß-Siege und die zwei Remis, als ich mit Schwarz etwas unter Druck stand, verliefen in meinem Sinne. Das war natürlich schön. In den Runden sechs bis zehn verpasste ich einiges. Erst ließ ich in Partie sechs einen gewissen Vorteil aus und vor allem Partie neun muss ich gewinnen. Nach ein paar Remis verlor ich plötzlich die achte Partie zum 4:4-Zwischenstand. Weiter dominierte das Gefühl, dass ich mit Schwarz einiges aushalten und ums Remis kämpfen muss. Als ich die zehnte Runde unbeschadet überstand, war zumindest klar, dass es nicht zu schlecht um mich steht. In der elften Partie durfte ich mit meinem Spiel zufrieden sein und danach überzog Weiß im letzten Duell.

Frage: In vier Partien hätten Sie jeweils einen halben Punkt mehr holen können. Den verpassten Sieg in Runde neun, den Sie erwähnten, aber auch das Remis im Endspiel mit ungleichfarbigen Läufern, das Sie zur Verblüffung der Fans einzügig wegwarfen, zählen dazu.
Anand: Okay, wenn man immer nur auf die verpassten Chancen achtet, gewinnst du jedes Match … Fehler gehören dazu. Ich habe meine Patzer nicht gezählt - er machte jedenfalls den letzten!

Frage: Topalow vermied mit seiner Ankündigung, wie immer bei Turnieren in Sofia keine Remisofferten zu beachten und bis zum Schluss oder zur unvermeidlichen Zugwiederholung zu kämpfen, kurze Unentschieden. Das freut die Fans - aber schnitt er sich dadurch nicht auch selbst ins eigene Fleisch?
Anand: Das kann ich nicht sagen. Er kämpft auch in Turnieren ohne die Sofia-Regel bis zur letzten Patrone. Wenn er diesmal eh kein Remis wollte, ist er kein Opfer seiner eigenen Vorgabe. Wenn er eines anbieten wollte, aber an seiner Sofia-Regel partout festhalten wollte, dann ist er aber das Opfer seiner selbst. Um das definitiv zu klären, müssen Sie ihn fragen. Das Recht, ein Unentschieden anzubieten, hätte er ja immer gehabt - wie auch es abzulehnen. Ich verzichtete anfangs auf Remisangebote, weil kein Anlass bestand. Am Schluss sah das in einigen Endspielen anders aus.

Frage: Topalow nannte es seinen "Fehler", in der Stellung nach dem Läufer-Rückzug weiterzuspielen. Ihn trieben negative Erinnerungen dazu an, weil er bereits 2006 in der Schnellschach-Verlängerung gegen Wladimir Kramnik den Kürzeren gezogen hatte. Angeblich auch, weil er damals an einem 13. Oktober unterlag - und der Tiebreak wieder auf einen 13. angesetzt war.
Anand: Darüber darf man nicht nachdenken. Ich habe auch schon einige Verlängerungen verloren. Das ist unumgänglich. Deshalb sollte man nicht zu viel riskieren - aber okay, hätte er die Partie gewonnen, wäre er für seinen Wagemut gefeiert worden.

Frage: Was die Psychologie anlangt: Garri Kasparow hätte Ihnen aber sofort nach zwei Zügen mit Weiß den Friedensschluss angeboten - als 13. Weltmeister der Schach-Geschichte, der am 13. April geboren ist, hätte er keinen Zweifel gehabt, dass er am 13. im Schnellschach gegen Sie gewinnt.
Anand (lacht schallend): Oh ja, das ist sicher!

Frage: Da Sie als bester Blitzspieler aller Zeiten gelten und zehn Jahre lang die Schnellschach-WM in Frankfurt und Mainz gewannen: Hätten Sie sich bei einem 6:6 in der Verlängerung als klarer Favorit gefühlt?
Anand: Wenn ich mit Schwarz remisiere, fein. Dann ginge es eben in den Tiebreak - aber wie erwähnt, ich hätte schon noch genauer geprüft, ob ich nichts Besseres als Ld3 habe. Man kann allerdings solch eine Verlängerung nicht als normales Schnellschach-Turnier sehen: Bei einem WM-Tiebreak spielen die Nerven eine ganz andere Rolle!

Frage: Ihre Eröffnungsvorbereitung wirkte flexibler als die von Topalow. Sie wechselten regelmäßig, wenn etwas schieflief, und wagten auch Systeme, die Sie zuvor nie oder vor 20 Jahren angewandt hatten. Beispielsweise Englisch in der elften Partie oder die Lasker-Verteidigung zum Abschluss.
Anand: Ich zeigte mich flexibel, weil ich das auch sein musste. Zu unserer Überraschung hielt Wesselin im gesamten Match seinen Systemen die Treue, mein Team erwartete Wechsel. So lag es an uns, hie und da den Schalter umzulegen. Das gelang uns.

Frage: Sie hatten auch mehr Neuerungen im Köcher.
Anand: Ja, die genaue Zahl habe ich jetzt nicht im Kopf, doch ich wagte viele neue Systeme.

Frage: Gegen einen Taktiker wie Topalow hätte ich eher blutarme Stellungen angestrebt. Sie schlugen ihn aber - den Zusammenbruch in der ersten Partie ausgenommen - auf seinem ureigensten Feld.
Anand: Da er nie wechselte, lief es dreimal auf dasselbe Endspiel raus. Was sollte ich tun?

Frage: Topalow lobte Sie im Vorfeld als universelles Schachgenie mit Stärken in allen Bereichen. Ihr Vorteil gegenüber dem Bulgaren?
Anand: Er hat seit fast zehn Jahren an die 2800 Elo und gehört zur absoluten Spitze. Ihm gelingen immer wieder herausragende Resultate. Ich würde sagen, er spielt wechselhafter als ich. Er macht mehr Fehler als ich, holt aber auch mehr Punkte. Er riskiert einfach mehr als ich - ich spiele deshalb konstanter.

Frage: Dazu passt auch: Erstaunlicherweise zog Topalow in manchen Stellungen ziemlich schnell - vor allem das Nehmen auf f5 und e4 im letzten Duell wurde ihm so zum Verhängnis.
Anand: In der Tat: Dieses schnelle Ziehen überraschte mich. Aber da Sie ja selbst Turniere spielen wissen Sie: Hinterher ist man immer schlauer und fragt sich, wieso konntest du nur?

Frage: Abgesehen vom WM-Kampf, den natürlich jeder erbittert führt und gewinnen will: Wie ist Ihr Verhältnis zu Topalow?
Anand: Diesmal redeten wir nicht viel. Erst nach dem letzten Zug unterhielten wir uns ein bisschen. Wenn er sich während des Zweikampfs nur auf die nötigste Konversation beschränkt, macht mir das nichts - es geht schließlich um die Weltmeisterschaft.

Frage: Haben Sie, außer dass Sie beide in Spanien leben und sich auf Spanisch unterhalten, noch Gemeinsamkeiten?
Anand: In anderen Turnieren pflegen wir einen entspannten Umgang, aber hier in Sofia verzichteten wir auf direkten Kontakt fern des Brettes.

Frage: Bei der WM 2006 gegen Wladimir Kramnik brachte sich Topalow mit schmutzigen Tricks seines Managers Silvio Danailow, der den sogenannten "Toilettenskandal" nach einem Rückstand inszenierte, um sämtliche Sympathien außerhalb Bulgariens. Rechneten Sie auch mit fiesen Manövern der Gegenseite?
Anand: Ich denke, diesmal lief alles völlig fair ab. Natürlich weiß man nie allzu genau, was passiert - ich selbst kümmerte mich nur ums Schachliche und überließ den Rest meinem Team. Topalow benahm sich am Brett völlig korrekt und verzichtete auf Nebenkriegsschauplätze. Ich machte mir kaum Gedanken darüber.

Frage: Apropos Team: Sie vertrauten auf die bewährten Kräfte von 2008. Rustam Kasimdschanow, Peter Heine Nielsen, Ihren Landsmann Surya Ganguly und Radoslaw Wojtaszek.
Anand: Ich scharte ein exzellentes Team um mich, das auch stets bereit ist, mit mir die nächste Herausforderung anzugehen. Es läuft perfekt mit uns. Die Konstanz bietet überdies den Vorteil, dass man neuen Leuten nicht die Abläufe erklären muss und was zu tun ist. Über all die Monate hinweg überzeugte jeder in seiner Rolle.

Frage: Sie hatten außer Ihren Freund und Ziehvater Hans-Walter Schmitt, der die organisatorische Seite betreute, auch den holländischen Computer-Experten Eric van Reem mit drei Wochen hier im Hilton. Gerüchten zufolge soll die bulgarische Seite 100.000 Euro investiert haben, um nicht nur den Programmierer des Eröffnungsbuchs von "Rybka" für den WM-Kampf zu gewinnen - Vasik Rajlich soll dafür vor allem seine vierte Version von "Rybka" zur Verfügung gestellt haben und bringt das stärkste Schach-Programm der Welt erst nach der WM auf den Markt.
Anand: Dazu kann ich nichts sagen. Während des Zweikampfs lese ich keine Schach-Nachrichten, und meine Mannschaft erzählt mir derlei dann lieber auch nicht. Jetzt ist es natürlich interessant zu erfahren, ob das tatsächlich stimmt. Aktuell bekümmert es mich wenig, weil ich ja gewonnen habe.

Frage: In der Weltrangliste machten Sie wieder einige Punkte gut, rücken auf exakt 2800 Elo vor und zum 19-jährigen Norweger Magnus Carlsen und dem zweitplatzierten Topalow auf: Lautet Ihr nächstes Ziel, dort auch wieder die Führung zu übernehmen?
Anand: Mein nächstes Ziel ist, die nächsten Monate gar nichts zu tun und Ferien zu machen.

Frage: Ich weiß, Sie wollen den WM-Titel erst wieder genießen und mögen keine Fragen zur nächsten WM. Aber: Topalow zeigte sich gestern unschlüssig, wie es weitergeht. Und Carlsen fordert ein transparenteres WM-System.
Anand: Nächste Frage (lacht) …

Frage: Anatoli Karpow fordert auch ein klares System - obwohl er in Ihrem zweiten WM-Kampf 1998 von den unfairen Bedingungen für Sie als Herausforderer profitierte. Der Russe will jetzt den umstrittenen Kirsan Iljumschinow als Weltverbandspräsidenten ablösen. Die Stimme des Weltmeisters hat großes Gewicht in der Schachwelt: Auf welche Seite stellen Sie sich bei der zukunftsweisenden Wahl?
Anand: Um ehrlich zu sein: Ich hörte vor zwei Monaten, dass sich Karpow bewerben will. Seitdem informierte ich mich aber auf keiner Webseite mehr und weiß überhaupt nicht, was in der Schachpolitik vorgeht. Nachdem ich aus dieser Isolation heraus bin, muss ich mich erst einmal eingehend informieren, bevor ich Stellung beziehe.

Frage: Zehn Jahre in der letzten Partie gealtert: Wenn Sie noch zwei solch aufwühlende WM-Partien spielen, sind Sie 70. Denken Sie an die Rente?
Anand: Bin ich Grieche und darf so früh in Rente (grinst)? Wenn ich mich so fühle wie heute, dann bin ich nach zwei weiteren solchen Partien doch erst 27 - zugegeben, Magnus Carlsen würde mich damit vermutlich noch immer für ziemlich alt halten (lacht)!

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Der alte und neue Weltmeister Viswanathan Anand (rechts)
posiert mit Siegermedaille und FIDE-Präsident Kirsan Iljumschinow


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