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Aufregender Blindflug über 64 kahle Felder

Beim Schachturnier in Nizza sind "einäugige" Amateure zuweilen die Könige unter "blinden" Großmeistern / Spieler sehen nur ein leeres Brett auf dem Laptop

Foto und Text von FM Hartmut Metz, 12. April 2009

 

Wesselin Topalow reicht die Hand über das Laptop, gratuliert Magnus Carlsen und schnellt kopfschüttelnd aus seinem Sitz. Wie Stümper hatten der weltbeste Schach-Großmeister und der Weltranglistendritte gespielt. Nach einem kurzen Hinweis des Bulgaren an seinen 18-jährigen Bezwinger schlägt auch der Norweger ungläubig die Hände vors Gesicht. "Ich wähnte den schwarzen König auf dem Feld h8 statt g8. Topalow sah den Figurengewinn nach meinem Patzer auch nicht, weil er ebenso den König dort vermutete", berichtet Carlsen von der Komödie der Irrungen und Wirrungen auf dem Brett.

Topalow und Carlsen litten nicht unter einem starken Sehstärkeabfall während ihres Duells in Nizza - sie sahen die Figuren prinzipiell nicht. Eine Spezialität beim mit 216 000 Euro dotierten Amber-Turnier, in dem zum 18. Mal Schnell- und Blindschachpartien zu einem Wettbewerb vereint werden. Das Dutzend Teilnehmer - darunter die ersten sechs der Weltrangliste und acht aus den Top Ten - bekommt bei den Blindduellen auf den kahlen 64 Feldern am Laptop lediglich den letzten Zug angezeigt. Alle anderen bis zu 31 Figuren und Bauern stecken nur in den Köpfen der Großmeister.

Eigentlich kein sonderliches Problem für die Besten. Schließlich gab Miguel Najdorf schon 1947 eine beeindruckende Vorstellung der Gedächtnisleistung eines WM-Kandidaten: Der Argentinier spielte ein Blindsimultan gegen 45 Amateure, ohne auch nur ein Brett anzusehen. Läufer flüsterten ihm die Züge der Gegner ein und übermittelten die Antworten. Najdorf gewann 39 Partien, remisierte vier und verlor lediglich zwei! "Im Großen und Ganzen erfordert ein Blindduell mehr Energie als eine normale Partie und zwingt einen zu erhöhter Konzentration", erklärt der Russe Alexander Morosewitsch den Unterschied zu einem Match aus normalem Blickwinkel.

Doch in Nizza gesellt sich der Druck der Bedenkzeit von 25 Minuten plus 20 Sekunden je ausgeführtem Zug hinzu. In Zeitnot verlieren selbst die Besten gelegentlich die Übersicht. "Ich habe jeden zweiten Antwortzug übersehen", klagte der Weltranglistenerste Topalow nach seinem Remis gegen Weltmeister Viswanathan Anand. Verschmitzt ergänzte der Inder: "Und ich habe alle ungeraden Zugpaare übersehen." Weil die meist unbedarften Zuschauer an der Côte d'Azur und im Internet die komplette Stellung auf Monitoren angezeigt bekommen, entdecken die schachlich "Einäugigen" hie und da mehr als die Weltklasse. Einmal unterlief Morosewitsch ein Patzer. Bevor der Ungar Peter Leko diesen zum Mattangriff ausnutzen konnte, raunte ein Besucher in der ersten Reihe bereits "Springer nach g5". Den Vorlauten traf ein tadelnder Blick des pikierten Russen, zeitgleich hatte Leko aber auch den Gewinnzug schon ausgeführt. Morosewitsch ließ sich das Matt nicht mehr zeigen und gab auf.

Vorjahresgewinner Lewon Aronjan lag am Ende in beiden Sparten mit jeweils 7:4 Punkten auf Platz eins: Im Blindspiel zusammen mit dem Russen Wladimir Kramnik und dem lange Zeit führenden Carlsen sowie im normalen Schnellschach mit Weltmeister Viswanathan Anand und Gata Kamsky. Beim Gesamtresultat setzte sich der in Berlin lebende Armenier deshalb mit 14:8 Zählern vor Anand und Kramnik (beide 13,5:8,5) sowie Carlsen (13:9) durch. Der Amerikaner Kamsky fiel im Blindspiel mit nur drei Punkten aus elf Partien weit zurück. Topalow bestätigte einmal mehr mit Platz sechs (10,5:11,5), dass Schnell- und Blindschach nicht seine Domänen sind. Aber auch der gedächtnisstärkere Nachwuchs zeigte sich erschöpft. Carlsen remisierte nach dem aufregenden ersten Duell gegen den Bulgaren die anschließende Schnellschach-Begegnung rasch: "Nach der Blindpartie suchte ich keine großen Abenteuer mehr. Ich hatte bereits genügend Aufregung für einen Tag."

In Runde zehn kassierte der 18-Jährige eine fürchterliche Schlappe im Blindschach gegen Kramnik und büßte dadurch seinen komfortablen Vorsprung in der Sparte ein.











Carlsen,M (2776) - Kramnik,W (2759) [E32]
18. Amber-Turnier (Blindpartie) Nice, 25.03.2009

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.Dc2 0-0 5.e4 d6 [ Schärfer ist 5...d5 .] 6.Ld3 Sc6 7.Sge2 La5!?N Eine neue Fortsetzung. Kramnik macht das Feld frei für den Springer, der dann Dame wie Läufer gabeln würde. Im Vorjahr wurde in Peking [ 7...e5 versucht. 8.d5 Se7 9.f3 c6 10.Le3 cxd5 11.cxd5 Ld7 12.0-0 Tc8 13.Db3 Da5 14.Kh1 Lc5 15.Lg5~~ mit unklarer Stellung in der Partie Zhou Jianchao - Ghaem Maghami.] 8.0-0 Lb6! Ein typisches Computer-Manöver, das das Programm Rybka empfiehlt. Ein Mensch käme wohl kaum auf die Idee, den Läufer langsam über b4 und a5 nach b6 zu entwickeln! So drückt Schwarz aber immerhin auf den Punkt d4. Zudem hat Kramnik erreicht, dass Carlsen seinen Springer auf e2 und nicht auf dem Idealfeld f3 postierte. [ 8...Sb4 9.Dd1 Sxd3 10.Dxd3 bringt dagegen dem Nachziehenden wenig, tauscht er doch den aktiven Springer gegen den passiv hinter seinen Bauern stehenden Läufer ab.] 9.d5?! Der Vorstoß spielt dem Gegner in die Hände. Logischer wirkt [ 9.Le3 Sg4 10.h3 Sxe3 11.fxe3 e5 12.Sd5 Dg5 13.Tf3 exd4 14.Sxb6 axb6 15.exd4 mit ausgeglichenem Spiel.] 9...Sb4 10.Dd2 exd5 11.cxd5? [ Weiß sollte die Notbremse ziehen, um mit 11.Sxd5 Sfxd5 12.cxd5 Sxd3 13.Dxd3 f5 14.Le3 Df6 15.Lxb6 axb6 16.Sc3 fxe4 17.Dxe4 Lf5 18.Dc4 das Gleichgewicht zu wahren.] 11...Sg4! Das bringt Carlsen in die Bredouille. Kramnik will Druck auf f2 und h2 aufbauen. 12.Lb1 [ 12.h3 Se5 13.Lb1 Lxh3! macht auch keine Freude, weil sich 14.gxh3 wegen 14...Sf3+ 15.Kg2 Sxd2 verbietet.] 12...Dh4 13.Df4 f5! Öffnet die f-Linie, so dass mit dem Turm eine weitere Kraft auf den Schwachpunkt f2 drückt. 14.exf5?? Danach ist es vorbei. Allein [ 14.Dg3! versprach Rettung. 14...Dxg3 15.Sxg3 fxe4 16.Sgxe4 Lf5 17.Ld2 Tae8 18.h3 Se5 ( 18...Lxe4? sieht plötzlich doch Weiß im Vorteil: 19.Sxe4 Txe4 20.Lxe4 Sxf2 21.Kh2 Sxe4 22.Txf8+ Kxf8 23.Lxb4 ) 19.a3 Sbd3 20.b3 Lg6 21.Le3 Lxe3 22.fxe3 Txf1+ 23.Kxf1 Tf8+ 24.Kg1 Der schwarze Vorteil hält sich in Grenzen und droht sich zu verflüchtigen.] 14...Lxf5!-+ 15.h3 [ 15.Lxf5 verliert. 15...Txf5! Der taktische Kniff dürfte Carlsen vor 13...f5 entgangen sein. 16.Dg3 ( 16.Dxf5 Dxh2# ) 16...Dxg3 17.Sxg3 Txf2 18.Txf2 Sxf2 19.Sa4 Sfd3+ 20.Sxb6 axb6 21.a3 Sxd5 mit zwei Mehrbauern.] 15...Lxf2+ 16.Kh1 Ld7 17.Dg5 [ 17.De4 bringt auch nichts mehr. Ein Beispiel: 17...Lc5 18.Lf4 Tae8 19.Dxh7+ Dxh7 20.Lxh7+ Kxh7 21.hxg4 Lxg4 22.Sg1 Sd3 23.Lg3 Th8! 24.Sh3 Kg6 25.Kh2 Th5 26.Tab1 Teh8 mit hoffnungsloser weißer Stellung.] 17...Lc5! [ 17...Ld4 und; 17...Lb6 gewinnen ebenso.] 18.Txf8+ Die Dame auf h4 ist wegen der Mattdrohungen in den nächsten Zügen stets tabu. 18...Txf8 19.Sg1 Tf1! 20.Lxh7+ Kh8! Das Matt auf g1 ist nur noch unter enormen Materialeinbußen zu verhindern, weshalb der Norweger aufgab. 0-1



Aronjan - Vaile
Eine leichtere Aufgabe für Lewon Aronjan: In einer Chess960-Showpartie
spielt der Berliner ohne Ansicht des Brettes gegen die Schauspielerin Vaile

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