Wesselin Topalow reicht die Hand über das Laptop, gratuliert Magnus Carlsen und schnellt kopfschüttelnd aus seinem Sitz. Wie Stümper hatten der weltbeste Schach-Großmeister und der Weltranglistendritte gespielt. Nach einem kurzen Hinweis des Bulgaren an seinen 18-jährigen Bezwinger schlägt auch der Norweger ungläubig die Hände vors Gesicht. "Ich wähnte den schwarzen König auf dem Feld h8 statt g8. Topalow sah den Figurengewinn nach meinem Patzer auch nicht, weil er ebenso den König dort vermutete", berichtet Carlsen von der Komödie der Irrungen und Wirrungen auf dem Brett.
Topalow und Carlsen litten nicht unter einem starken Sehstärkeabfall während ihres Duells in Nizza - sie sahen die Figuren prinzipiell nicht. Eine Spezialität beim mit 216 000 Euro dotierten Amber-Turnier, in dem zum 18. Mal Schnell- und Blindschachpartien zu einem Wettbewerb vereint werden. Das Dutzend Teilnehmer - darunter die ersten sechs der Weltrangliste und acht aus den Top Ten - bekommt bei den Blindduellen auf den kahlen 64 Feldern am Laptop lediglich den letzten Zug angezeigt. Alle anderen bis zu 31 Figuren und Bauern stecken nur in den Köpfen der Großmeister.
Eigentlich kein sonderliches Problem für die Besten. Schließlich gab Miguel Najdorf schon 1947 eine beeindruckende Vorstellung der Gedächtnisleistung eines WM-Kandidaten: Der Argentinier spielte ein Blindsimultan gegen 45 Amateure, ohne auch nur ein Brett anzusehen. Läufer flüsterten ihm die Züge der Gegner ein und übermittelten die Antworten. Najdorf gewann 39 Partien, remisierte vier und verlor lediglich zwei! "Im Großen und Ganzen erfordert ein Blindduell mehr Energie als eine normale Partie und zwingt einen zu erhöhter Konzentration", erklärt der Russe Alexander Morosewitsch den Unterschied zu einem Match aus normalem Blickwinkel.
Doch in Nizza gesellt sich der Druck der Bedenkzeit von 25 Minuten plus 20 Sekunden je ausgeführtem Zug hinzu. In Zeitnot verlieren selbst die Besten gelegentlich die Übersicht. "Ich habe jeden zweiten Antwortzug übersehen", klagte der Weltranglistenerste Topalow nach seinem Remis gegen Weltmeister Viswanathan Anand. Verschmitzt ergänzte der Inder: "Und ich habe alle ungeraden Zugpaare übersehen." Weil die meist unbedarften Zuschauer an der Côte d'Azur und im Internet die komplette Stellung auf Monitoren angezeigt bekommen, entdecken die schachlich "Einäugigen" hie und da mehr als die Weltklasse. Einmal unterlief Morosewitsch ein Patzer. Bevor der Ungar Peter Leko diesen zum Mattangriff ausnutzen konnte, raunte ein Besucher in der ersten Reihe bereits "Springer nach g5". Den Vorlauten traf ein tadelnder Blick des pikierten Russen, zeitgleich hatte Leko aber auch den Gewinnzug schon ausgeführt. Morosewitsch ließ sich das Matt nicht mehr zeigen und gab auf.
Vorjahresgewinner Lewon Aronjan lag am Ende in beiden Sparten mit jeweils 7:4 Punkten auf Platz eins: Im Blindspiel zusammen mit dem Russen Wladimir Kramnik und dem lange Zeit führenden Carlsen sowie im normalen Schnellschach mit Weltmeister Viswanathan Anand und Gata Kamsky. Beim Gesamtresultat setzte sich der in Berlin lebende Armenier deshalb mit 14:8 Zählern vor Anand und Kramnik (beide 13,5:8,5) sowie Carlsen (13:9) durch. Der Amerikaner Kamsky fiel im Blindspiel mit nur drei Punkten aus elf Partien weit zurück. Topalow bestätigte einmal mehr mit Platz sechs (10,5:11,5), dass Schnell- und Blindschach nicht seine Domänen sind. Aber auch der gedächtnisstärkere Nachwuchs zeigte sich erschöpft. Carlsen remisierte nach dem aufregenden ersten Duell gegen den Bulgaren die anschließende Schnellschach-Begegnung rasch: "Nach der Blindpartie suchte ich keine großen Abenteuer mehr. Ich hatte bereits genügend Aufregung für einen Tag."
In Runde zehn kassierte der 18-Jährige eine fürchterliche Schlappe im Blindschach gegen Kramnik und büßte dadurch seinen komfortablen Vorsprung in der Sparte ein.
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Carlsen,M (2776) - Kramnik,W (2759) [E32]
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Eine leichtere Aufgabe für Lewon Aronjan: In einer Chess960-Showpartie
spielt der Berliner ohne Ansicht des Brettes gegen die Schauspielerin Vaile