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Selbst die Bauern werfen keine Schatten

Erste Schach-WM in Deutschland seit 74 Jahren kommt ohne Skandale aus / Weltmeister Anand schiebt Vorgänger Kramnik in Bonn die Favoritenrolle zu

Von FM Hartmut Metz, 14. Oktober 2008

 

Schatten scheinen ausgeschlossen. Selbst die rund 45 Millimeter kleinen hölzernen Bauern dürfen keine werfen - so als sei dies ein Attentat auf die Konzentration von Weltmeister Viswanathan Anand und Wladimir Kramnik. Am Wochenende wurde die Beleuchtung in der Bonner Bundeskunsthalle entsprechend justiert, damit die Augen der beiden Schach-Könige aus Indien und Russland nicht durch Reflektionen abgelenkt werden.

Dass sich ansonsten Schatten über die mit 1,5 Millionen Euro dotierte WM legen, ist ebenfalls höchst unwahrscheinlich. Die Zeiten der Psychokriege, als Bobby Fischer Partien kampflos verschenkte, Viktor Kortschnoi im Joghurt von Anatoli Karpow geheime Botschaften seiner Sekundanten witterte oder den Einsatz eines Parapsychologen des KGB fürchtete, sind vorbei. Skandalöse Vorwürfe wie beim letzten WM-Match zwischen Kramnik und Wesselin Topalow wird es kaum geben. Der Bulgare hatte bei der Vereinigung der beiden WM-Titel 2006 Kramnik Beschiss auf dem Klo mit einem Computer vorgeworfen.

Bester Laune reckten sich am Wochenende Anand und Kramnik nach der Sitzprobe am Schachtisch die Hände entgegen und grinsten in die Linsen der Fotografen. Fern der zwölf Partien werden sich der Weltmeister und sein 33-jähriger Vorgänger jedoch aus dem Weg gehen. Sie wohnen zwar mit ihren Sekundantenteams im selben Hotel, aber in entgegengesetzten Flügeln. Am Sonntag zeigten sich beide froh darüber, dass der Kampf der Titanen nach monatelanger Vorbereitung endlich heute beginnt. Bei einem 6:6 verteidigt der Weltmeister nicht mehr automatisch den Titel. Der oft zu gutmütige Anand ließ sich das Zugeständnis abringen. Allerdings gilt der "Schnelle Brüter" aus Indien spätestens dann am 2. November im Schnellschach-Tiebreak über vier Partien als stärker.

Der 38-Jährige schiebt ansonsten Kramnik die Favoritenrolle zu. "Er ist ein erfahrener Zweikämpfer", lobt der Baden-Badener Bundesligaspieler seinen Herausforderer. Garri Kasparow, der die beiden Koryphäen seit 1993 als einziger bis zu seinem Rücktritt in Schach gehalten hatte, pflichtet bei. "Ich denke, Kramnik ist leichter Favorit, weil er in Zweikämpfen etwas stabiler ist. Ich weiß auch nicht, ob sich Anand von der desaströsen Leistung in Bilbao rasch erholt. Der Inder scheint mir empfindsamer. Kramnik juckt derlei wenig. Er spielt erst armselig und macht die Leistung dann wieder umgehend vergessen. Es gibt keinen klaren Favoriten", analysiert Kasparow, der 2000 von Kramnik entthront worden war.

Der gegen Wladimir Putin erfolglose russische Oppositionspolitiker zieht zum Schluss einen Vergleich mit der US-Präsidentschaftswahl: "Das Duell ist keine klare Sache wie bei Obama - McCain. Es geht viel enger zu. Das Match zwischen Kramnik und Anand würde ich bezüglich der Chancen zwischen 52 und 48 Prozent ansiedeln." Anand widerspricht in nur einem Punkt: Seinem letzten Platz beim Grand-Slam-Finale in Bilbao vor Monatsfrist misst der in der Nähe von Madrid lebende Weltmeister keine Bedeutung bei. "Ich musste meine neuen Eröffnungsideen für Wladimir aufsparen. In so einem Turnier wie Bilbao ist halbes Gas zu wenig, man muss Vollgas geben. Man kann nicht viel leisten, wenn man schon den nächsten, wichtigeren Wettbewerb im Hinterkopf hat und sich darauf konzentriert", entschuldigt Anand sein schlechtes Abschneiden.

Durch die Schlappe rutschte er in der Weltrangliste von Platz eins auf fünf ab. Kramnik ist gar nur Sechster, weil der Pariser bei seinem zuvor acht Mal gewonnenen Lieblingsturnier in Dortmund ebenfalls die rote Laterne trug. Im Januar führten beide noch zusammen, ehe sie mit angezogener Handbremse agierten, um dem Bonner Kontrahenten keine Tipps über geplante Eröffnungssysteme zu geben.

Die Taktik bei der ersten Schach-WM in Deutschland seit 74 Jahren dürfte auf beiden Seiten identisch sein. Von 51 Turnierpartien seit 1989 endeten 41 friedlich. Sechsmal behielt Kramnik die Oberhand, viermal Anand - aber jeweils nur mit den weißen Steinen, mit denen man "Aufschlag" hat. "Irgendwann muss diese Serie reißen, auch wenn das in der absoluten Weltspitze sehr schwierig ist", hofft Kramnik. Allerdings dürfte der Weltmeister von 2000 bis 2007 ebenso wie der Titelverteidiger zunächst bestrebt sein, wie gewohnt mit Schwarz ein Remis "abzuklammern". Für die 500 Zuschauer in der an allen Tagen schon nahezu ausverkauften Halle könnte so manches Duell zu einem kurzen Vergnügen von zwei statt sechs bis sieben Stunden werden. Peer Steinbrück wird die Zeit dennoch genießen - der starke Hobbyspieler fungiert als Schirmherr und erhielt gestern für seine Verdienste den Ehrenpreis des Schachbundes NRW. Der Finanzminister kann in der Bundeskunsthalle die langen Schatten der weltweiten Finanzkrise wenigstens kurz hinter sich lassen.


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