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Ein wahnsinniger Missionar des Matts

Eigentlich hätte Diemer seinen 100. Geburtstag erleben müssen

von FM Hartmut Metz, 17. Mai 2008

 

Obwohl er nicht einmal zum erweiterten Kreis der Großen des königlichen Spiels zählte, war sein Brett stets umlagert. Allein schon wegen seiner hageren Gestalt, mit weißem Bart und ins Gesicht und über die dicke Brille hängenden Strähnen fiel er in seinen letzten Lebensjahren auf. Doch noch mehr zog die Fans sein Spiel an: "Vom ersten Zug an auf Matt!" lautete die Maxime von Emil Joseph Diemer. Entsprechend schneidig schritt er zur Tat mit seinen 16 Figuren und opferte ohne Rücksicht auf Verluste. Häufig vergebens. Lamentierend stand er danach auf, klagte über sein "schlechtes" Augenlicht, jammerte - und marschierte in der nächsten Begegnung wieder genauso tollkühn voran.

In seiner beschränkten Sichtweise konnte Diemer nicht anders. Er verstand sich als Missionar und ging mit seinem Blackmar-Diemer-Gambit und als "Prophet von Muggensturm" immerhin in die Schach-Geschichte ein. Eigentlich hätte der in Radolfzell geborene und in Baden-Baden aufgewachsene Spieler am 15. Mai seinen 100. Geburtstag noch erleben müssen. Den eigenen Prophezeiungen zufolge harrten seiner 102 Lebensjahre. Doch der Zahlenmystiker starb anstatt 2010 bereits mit 82 am 10.10.1990 - wenigstens um 10.10 Uhr. "Wer der Ansicht ist, dass Schachspieler närrisch sind, wird durch das Studium des Lebens von Emil Joseph Diemer nicht auf andere Gedanken kommen", befand der niederländische Großmeister Hans Ree in einem Rückblick über den wahnsinnig gewordenen Kauz.

Das Schachspiel erlernte Diemer mit neun Jahren am Rastatter Gymnasialkonvikt von einem Schulkameraden. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs siedelte sich Familie Diemer in Baden-Baden an, wo Emil Joseph vollends mit dem Schachvirus infiziert wurde. Vater Emil Ludwig Otto hatte offenbar viele alte Schachbücher, überdies lieferte sich der Junge in der Schule "heiße" Kämpfe mit seinem Kameraden Heinz Breitling. Letzterer gehörte auch zu den stärksten Meistern Badens und half der 1979 neu gegründeten Rochade Kuppenheim noch mit über 70 Jahren beim kometenhaften Aufstieg. Am humanistischen Gymnasium beschäftigten sie sich häufig unter der Schulbank mehr mit ihrem Duell als dem Schulstoff, erzählte Breitling einst schmunzelnd. Fürs Abitur reichte es aber dennoch beiden.

Anschließend erwies sich Diemer jedoch als arbeitsscheu und beschloss 1931, "Schachmeister zu werden". Die NSDAP schien ihm dafür nützlich, weshalb er in die Partei eintrat - und prompt vom Vater aus dem Haus geworfen wurde. Immerhin muss man Diemer zugutehalten, dass er weiter gute Beziehungen zu jüdischen Spielern pflegte. Und als engagierter großdeutscher Schachschreiber fiel er 1943 bei den Nazis durch seine übertriebene Kritik an Jungstar Klaus Junge auch in Ungnade. Nach dem Zweiten Weltkrieg belebte Diemer vor seinem Umzug 1952 nach Muggensturm (siehe Teil II in der nächsten Schachspalte) das königliche Spiel am Bodensee. In Scheidegg machte er Bekanntschaft mit dem Blackmar-Gambit und arbeitete die Eröffnung zum System aus, so dass es bald auch seinen Namen trug. Die Zweikampf-Gegner Locher und Portz, die Diemer in Lindau 1948 deklassierte, waren schwach - die Opferpartien begeistern dennoch. Ein Beispiel:











Diemer - Portz [D00]
Zweikampf Lindau, 1948

1.d4 d5 2.e4 Die Einleitung zu dem von Blackmar propagierten Gambit, das Diemer danach zum Theoriegebäude ausbaute. 2...dxe4 3.Sc3 Sf6 4.f3!? Schwarz wird zu einer Entscheidung im Zentrum genötigt. 4...Lf5 [ 4...exf3 5.Sxf3 gibt Weiß ebenso Angriffschancen dank der offenen e- und f-Linie.] 5.fxe4 Sxe4 6.Df3 Sxc3 [ 6...Sd6 7.Lf4 Dc8 geschah im Kampf gegen Locher.] 7.bxc3 Lc8? Schwach gespielt. Das rettet zwar den Bauern auf b7, aber gewährt Weiß den gewünschten Entwicklungsvorsprung für den geopferten Bauern. [ 7...Dc8 sieht logischer aus, um den Doppelangriff auf f5 und b7 zu parieren.] 8.Lc4 e6 9.Sh3 Le7 10.0-0 0-0 11.Sf4 c6?! Leistet nichts für die Figurenentwicklung. [ 11...Sd7 12.Sh5 Sf6 führt zu einer ausgeglichenen Stellung.] 12.Sh5 Sd7? Das kommt jetzt zu spät. [ 12...Da5 muss geschehen.] 13.Dg4 g6 14.Lh6 Te8?! [ 14...Sb6 15.Lxf8 Dxf8 hält die Partie noch in Gang.] 15.Dxe6!! Das sehenswerte Damenopfer führt zum Matt in drei Zügen. 15...Se5 16.Dxf7+! Sxf7 17.Lxf7+ Kh8 18.Lg7# 1-0



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