Die lange Leine der harten SchuleUkrainische Schachtalentschmiede verblüffte beim Europacup für Vereinsmannschaftenvon Harald Fietz, Dezember 2003 |
Sie tollten unbekümmert durch die Hotelanlage des Creta Star oder scherzten kichernd am Frühstückstisch, die drei Schachtalente aus der Ukraine auf Dienstreise beim Europacup für Vereinsmannschaften. Großmeister Gennadi Kuzmin, ihr Trainer und Spitzenbrett des A. V. Momot Schachclub Energomashspetstal, war selten dabei und auch der gerade 18 Jahre alt gewordene Großmeister Zahar Efimenko und der Älteste unter den Heranwachsenden, der titellose 20-jährige Oleg Iwanow, hielten sich von den drei Nichtvolljährigen fern. Zu Zeiten des eisernen Vorhangs wären sie sicher in uniformen Trainingsanzügen gemeinsam und unter ständiger Observation eines Trainers oder Funktionärs stramm aufgetreten. Aber in der Gegenwart kam es höchstens vor, dass zwei Spieler das gleiche, rote T-Shirt mit blauen Aufdruck des Sponsors "Energomashspetstal", einem Stahlunternehmen aus Kramatorsk, trugen. Am Brett kniete sich jeder auf seine Weise in die Partie, kein stereotypischer Drill tritt sichtbar hervor. War Kuzmin, der hauptamtliche Trainer des Schachclubs A.V. Momot, der früher Danko Donbass hieß, mit seiner Partie fertig, kurvte er selten um die Bretter seiner Schützlinge. Er wusste, dass die 12- bis 17-Jährigen bereits auf etlichen Auslandreisen waren und selbst erkennen, mit welcher Intensität sie sich um den Erfolg kümmern müssen. "Ich sehe keine Notwendigkeit, die Spieler ständig zu betreuen. Wir haben zwei Computer dabei, damit machen wir die Vorbereitung und das reicht", erläutert der 57-Jährige seine Philosophie der langen Leine.
Der Kramatorsker Cheftrainer Gennadi Kuzmin weiß, dass er nicht ständig Aufsicht führen muss. Foto: Harald Fietz
Er blickt auf einen langen Erfahrungsschatz als Spieler und Trainer zurück. Vor 30 Jahren bei der legendären 41. UdSSR-Landesmeisterschaft 1973, als gerade das Phänomen Weltmeister Bobby Fischer die Schach-Supermacht in einen Schockzustand versetzt hatte, und Boris Spasski im seinem Sieg ein glänzendes Comeback feierte, belegte er gemeinsam mit den Koryphäen Anatoli Karpow, Viktor Kortschnoi, Tigran Petrosjan und Lew Polugajewski einen geteilten 2.-6. Platz. Sein bestes Resultat in diesem jährlichen Prestigeturnier, aber kein Durchbruch zu internationalen Höhen. Anfang der 80er Jahre sattelte er auf Trainerarbeit um. Zehn Jahre lang blieb der für seine taktischen Schläge bekannte Haudegen in erster Linie für Maja Tschiburdanize verantwortlich, Anfang 2002 leitete er Ruslan Ponomarjows Sekundantenstab auf dessen Weg zur FIDE-Weltmeisterschaft. Heute ist der Kontakt zum geschassten jüngsten Weltmeister aller Zeiten abgebrochen. Ponomarjow zog von Kramatorsk nach Jalta und umgibt sich mit den "falschen" Leuten. "Der Poker um das Geld und der politische Imageschaden hat dem Schach in der Ukraine nicht gut getan", resümiert Kuzmin die verfahrene Situation. Er wird sich weiter - wie bei der Europameisterschaft in Plovdiv - um das ukrainische Frauenteam kümmern und die Trainingsarbeit im Schachinternat koordinieren.
Diese Einrichtung, die mit 200 Schülern fast den gesamten ukrainischen Schachnachwuchs zentral zusammen zieht und auch Stipendien vergibt, wird vollständig vom Danko-Unternehmen finanziert, welches im monopolistisch kontrollierten Kohle- und Gasgeschäft der Ukraine tätig ist. Treibende Kräfte pro Schach sind dort der Vizepräsident des Unternehmens, der Ökonomie-Professor Veniamin N. Amitan und der Bruder des früheren ersten Danko-Präsidenten und jetzige Vizepräsident Sergei V. Momot. Alexander V. Momot, nachdem der Schachclub jetzt benannt ist, wurde im Frühjahr 1996 bei einem Attentat ermordet. Wirtschaftliche Interessen um die Neuaufteilung des Gasgeschäfts sollen dabei eine Rolle gespielt haben. Seit 1998 existiert das Schachinternat, wo regelmäßig zehn Schachinstruktoren für spezielle Trainingsinhalte engagiert werden. Im Gegensatz zum Sportgymnasium Dresden, wo Schule inklusive dem Fach Schach stattfindet, orientiert sich in Kramatorsk die Schule am königlichen Spiel. Allerdings haben, laut Kuzmin, die Eltern ein weitgehendes Mitspracherecht, wie viel Schach und Turniere ihren Kindern zugemutet wird. Derzeit sind etwa 15 Spieler in der Spitzenförderung, darunter auch ein bereits so bekannter Spieler wie Sergej Karjakin. Kuzmin selbst hat aus dem auf Kreta angetretenen Team die beiden Großmeister Efimenko und Alexander Areschenko ständig im Einzeltraining unter seinen Fittichen. Deren Potential schätzt er natürlich als hoch ein. Diesmal konnte allerdings nur Areschchenko an Brett drei mit 5,5/7 (Performance 2713) überzeugen. Efimenko, der Bundesliga-Neuzugang von Werder Bremen, bilanzierte, am Brett neben seinem Trainer das gleiche unbefriedigende 2,5/7-Resultat, was ihn 13 Elo-Punkte kostete. Bei der anschließenden Mannschaftseuropameisterschaft in Plovdiv durfte er jedoch erstmals als Ersatzmann im Nationalteam antreten. Mit zwei Punkten aus vier Partien trug er halbwegs in der Erwartung zum fünften Platz der Ukraine bei.
GM Zahar Efimenko, eine der großen ukrainischen Schachhoffnungen, ist in der Bundesliga bei Werder Bremen gemeldet. Foto: Harald Fietz
Kommt die Sprache auf die seit zwei Jahren in Kramatosk beheimatete Katherina Lahno (ausgesprochen Lagno), dann ist Kuzmin vorsichtiger: "Alles ist möglich!", lautet der unverbindliche Kommentar. Als jemand, der in drei Ländern (UdSSR, Georgien und Ukraine) zum "verdienten Trainer" ernannt wurde, hat er bereits viele Nachwuchshoffnungen erlebt, und mit deutlichen Unterton fügt er hinzu, dass es schon "etwas heißen will, dieses außergewöhnliche Prädikat in drei anerkannten Schachnationen erhalten zu haben". Während der sonnigen Tage am Mittelmeer bereiteten ihm aber besonders die beiden Jüngsten in seiner Rasselbande Freunde. Lahno (geb. 27.12.1989) und Juri Kuzubow (geb. 26.1.1990) erspielten sich beide eine Herren-IM-Norm.
"Alles ist möglich" - für Katherina Lahno, die auf Kreta häufig mit Elisabeth Pähtz (links) Ratschläge austauschte. Foto: Harald Fietz
Insgesamt stellte das Abschneiden der Mannschaft keine außergewöhnliche Angelegenheit dar. Als 17. der Startliste landete man mit 8:6 Mannschaftspunkten und 24 Brettpunkten auf Platz 17! Ein solides Resultat durch Auftaktsiege (5,5:0,5 gegen Tschaturanga und 3,5:2,5 gegen Heraklion) zwei beachtenswerte 3:3 gegen Beer-Sheva und Tomsk, zwei Niederlagen en suite gegen Spitzenteams (2,5:3,5 gegen Kiseljak und 1,5:4,5 gegen St. Petersburg) sowie einem hohen 5:1 gegen den Ausrichterverein Kydon Chania.
17. A.V. Momot Schachclub Energomashpetstal | |||
1. | Gennadi Kuzmin |
2,5/7 | 2440 |
2. | Zahar Efimenko |
2,5/7 | 2417 |
3. | Alexander Areschenko |
5,5/7 | 2713 |
4. | Katherina Lahno |
4,5/7 | 2504 |
5. | Oleg Iwanow |
4,0/7 | 2442 |
6. | Juri Kuzubow |
5,0/7 | 2446 |
Der titellose Oleg Iwanow spielte innerhalb seiner Erwartung. Foto: Harald Fietz
Bemerkenswert ist allerdings, dass die drei Jüngsten insgesamt am meisten punkteten. Wie die Partienauswahl zeigt, verloren sie auch gegen gestandene Großmeister sowohl in taktischen Situation als auch in der trockenen Endspielbehandlung nicht die Nerven.
Katherina Lahno - mit 13 Jahren auf Platz sechs der Frauenweltrangliste. Foto: Harald Fietz
Das 13-jährige Mädchen mit kurzen braunen Haaren, kurzem Jeanskleid und Sandalen setzte sich unbekümmert gegen jeden Gegner ans Brett, hampelte nicht und zog trotzdem ohne sichtbare Anstrengung Stunde um Stunde durch. Bei der Einzeleuropameisterschaft im Juni im türkischen Silivri spielte sie bereits - wie Judith Polgar, die Frauen-Vorkämpferin in der männerdominierten Schachwelt - im Herrenbereich und realisierte dort mit 6,5/11 eine Herren-IM-Norm. Anfang August fügte sie im heimischen Kramatorsk eine Herren-GM-Norm hinzu und diesmal reichte ein Plus-Zwei-Ergebnis, um den Herren-IM-Titel auf dem nächsten FIDE-Kongress zu bekommen. Der Tomsker Großmeister setzte nach dieser Niederlage erst einmal zwei Runden lang aus!
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Belozerow,A (2541) - Lahno,K (2431) [E32]
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Ein Ende seiner Entwicklung ist ebenfalls noch nicht in Sicht: Alexander Areschenko zeigte gegen die Großmeisterkollegen keinen Respekt. Foto: Harald Fietz
Auch Alexander Areschenko wirkt für seine 17 Lenze noch sehr jugendlich, doch am Brett kennt er sich in allen Bereichen aus, wie zwei gänzlich unterschiedliche Spielverläufe zeigen. Zunächst ging es gegen GM Boris Avrukh von Beer-Sheva über eine lange Endspieldistanz, dann kam GM Mikhail Kobalia mit anhaltender Initiative der Schwerfiguren unter die Räder.
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Areshchenko,A (2542) - Kobalia,M (2656) [B87]
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Dass das Endspiel nicht nur eine Domäne der reifen Spieler ist, zeigte in einer für seine zwölf Jahre unglaublich ruhigen und zähen Art Juri Kuzubov. Wie viele Stunden endloser Turmendspiel mögen in dem kleinen Jungen mit dem geraden Ponyschnitt stecken?
Mit zwölf Jahren der Jüngste der ukrainischen Talentschmiede auf Kreta: Juri Kuzubow. Foto: Harald Fietz
Sicher bereits mehr als bei manch älteren westeuropäischen Jungstar. Denn es ist ähnlich wie beim Fußball. In reichen Ländern sind die Straßenkicker selten, weil es eben viele Freizeitablenkungen gibt. Anders sieht es in den Republiken südlich des russischen Riesenreichs aus, meinte jüngst in einem TAZ-Interview der Fußballbundesligatrainer Volker Finke, der bei seinem SC Freiburg viele Talente aus diesen Ländern zur Verfügung hat. Während in Deutschland der Ball vielleicht vier bis sechs Stunden pro Woche am Fuß eines Nachwuchskickers klebt, jagen die aus dem Osten stammenden Artisten dem runden Leder zwanzig Stunden und mehr nach. Das hebt die technischen Fähigkeiten und fördert Spielverständnis und -übersicht. Das Streben nach sozialen Ansehen kommt als Antrieb für das ständige Praktizieren hinzu. In solchen Kontexten werden aus ukrainische Sicht Turmendspiele wie im folgenden Remis mit schwarzen Steinen als Normalität gesehen.
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Landa,K (2614) - Kuzubov,J (2400) [B35]
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Und als das Tagwerk der Jungtalente vollbracht war, folgte kein eintöniger Alltag. Eben noch am Brett in voller Konzentration versunken, ging es zum Tagesausklang im Restaurant lebendig mit ausgelassenem Faxenmachen weiter. Die zweite Portion Eis wurde geholt. Ob dem gestanden Großmeistern der Nachtisch ebenfalls den Abend versüßte ist nicht überliefert.
(erschien zuerst in Schach Magazin 64, Nr. 21 / 2003, S. 580 - 582)