Erfolg methodisch profilierenWie Miroslav Shvartz am Dresdner Sportgymnasium Schachwissen für das Abitur lehrt und den sächsischen Jugendkader fit machtvon Harald Fietz, Juli 2003 |
"Keine Ahnung haben wir am Anfang alle", versucht Miroslav Shvartz seinen an diesem Morgen lustlosen Schüler Elias Mikhaiel zu ermutigen, sich mit der Stellung auf dem Demonstrationsbrett intensiver zu beschäftigen. Montags fällt die Konzentration immer ein wenig schwerer und auch der Schachlehrer ist an diesem Tag voll gefordert. In acht Schulstunden muss er sich auf vier verschiedene Alters- und Leistungsklassen einstellen. Neben seiner Tätigkeit als sächsischer Landestrainer erteilt er 22 Wochenstunden am Dresdner Sportgymnasium (im Internet unter www.sportgymnasium.de). Hier wird Schach seit dem Schuljahr 2002/03 erstmals in Deutschland als offizielles Unterrichtsfach gelehrt. Dies bedeutet gegenüber fakultativen Schulschachnachmittagen eine zweifache Herausforderung: Einerseits muss ein Lehrer mit hoher schachlicher und didaktischer Qualifikation zur Verfügung stehen, andererseits muss für ein Fach, welches wie anderer Schulstoff geprüft wird, entsprechendes Lehrmaterial zusammengestellt werden. Für beides ist der seit 1999 in Dresden beheimatete Shvartz prädestiniert.
Der Internationale Meister wuchs in der ukrainischen Hauptstadt Kiew auf. Gelernt hat er das Spiel auf den 64 Feldern durch die Eltern im Alter von fünf Jahren. Der Vater übte den Arztberuf aus, während die Mutter als Geschäftsführerin der ukrainischen Schachjugend tätig war. Zweimal in der Woche spielte er in den frühen Jahren im Schachverein und bald gelang das so gut, dass er 1984 als Neunjähriger - und jüngster Spieler jemals - in die berühmte Botwinnik-Schule aufgenommen wurde. Der Aufnahmetest bestand darin, klassische Partien zu erkennen. Zwei Jahre besuchte er dreimal im Jahr für jeweils zwei Wochen das Moskauer Intensivtraining. Als Instruktoren standen die Großmeister Igor Platonow und Anatoli Lutikow zur Seite. Doch als Garry Kasparow 1985 den Weltmeistertitel errungen hatte, begann auch in der Botwinnik-Schule ein personeller Wechsel, der sich ebenfalls auf die zu fördernden Talente erstreckte. Allerdings blieb man in der Ukraine nicht untätig und Platonow führte 1987 bis 1993 in Kiew eine ähnliche Schule. Aus dieser Talentschmiede gingen vor allem viele der heutigen ukrainischen Spitzenspielerinnen hervor (u.a. Natalia Zhukova, Tatjana Vasilevich und Natalia Kiseleva). Für den Heranwachsenden, der sowohl einmal die sowjetische U-12- bzw. U-18-Meisterschaft erringen konnte, stellte sich im Alter von 16 Jahren - genau im Jahr der Auflösung der Sowjetunion - die Frage, ob er Berufspieler werden sollte oder nicht. Mit dem Studium zum Diplomsportlehrer 1991-95 an der Kiewer Sportuniversität ließ sich die Schachpassion mit einer anerkannten Ausbildung verbinden. Danach hieß es zunächst, sich durch Training für Privatpersonen und Vereine über Wasser zu halten, derweil die Jagd nach Titelehren begann. 1998 klappte es mit dem IM-Titel und auch 1999 wurde ein erfolgreiches Jahr mit Kiewer Heimspielen und geteilten ersten Plätzen beim Unabhängigkeitsturnier und dem Platonow-Gedenkturnier (hier mit GM-Norm). Durch den geographischen Wechsel als Spätaussiedler kam es zum Einschnitt in der Schachkarriere.
Mit Antritt der Stelle als sächsischer Landestrainer verlagerte sich seit August 2000 der Schwerpunkt auf die Schachbetreuung. Und hier feiert der heute 28-Jährige beachtliche Erfolge. Seine Schützlinge holten 2001 und 2002 bei den Deutschen Meisterschaften der Jugend in den zehn Alterklassen fünf der neun Goldmedaillen, drei der vier Silbermedaillen und eine der zwei Bronzemedaillen, die der Landesverband Sachsen insgesamt errang. Auch international trug sein Training Früchte: bei Jugendeuropameisterschaften landete Anne Czäczine 2001 auf dem 12.-19. Platz und Evgenija Shmirina wurde 2002 Vize-Europameisterin; bei Jugendweltmeisterschaften belegte Elena Winkelmann 2001 Platz fünf und Elisabeth Pähtz' WM-Triumph sorgte Ende 2002 bundesweit für Medieninteresse. Die 18-jährige gebürtige Erfurterin erfüllte beim Dresdner ZMD-Open 2002 eine IM-Norm der Herren und der 17-jährige Dresdner Bundesligaspieler Volker Seifert schaffte nach Fürth 2002 beim Open in Bad Wörishofen 2003 seine zweite IM-Norm.
Ohne Fleiß kein Preis: IM Miroslav Shvartz und seine Schülerin FGM Elisabeth Pähtz nach dem U-18-WM-Gewinn auf Kreta im November 2002 Foto: Thomas Pähtz
Solche Erfolge fußen auf der Bereitschaft zur Leistung, stetiger, systematischer Arbeit und dem Zugang zu umfassendem Schachwissen. Diese Elemente der Schachausbildung sind auch im Unterricht am Dresdner Gymnasium präsent, einer Lehrstätte "mit vertieftem sportlichen Profil". Was in der Schulschach-AG oder dem Vereinstraining eher mittels "lockerer" Methodik freiwillig gelehrt wird, muss für eine schulische Unterrichtssituation bestimmten didaktischen Grundsätzen folgen. Schließlich ist die Struktur dieses Schultyps, der in der Außendarstellung mit dem Prädikat "Eliteschule des Sports" firmiert, eine, die den Spagat zwischen Schulpflicht und Wettbewerbstraining schaffen will. In einen Werbeflyer heißt es: "Es soll talentierten jungen Sportlern an dieser Schule ermöglich werden, leistungsorientiertes, intensives Training mit der gymnasialen Ausbildung zu verbinden."
Was sich in anderen Sportarten schon lange bewährt hat, bedeutet für das königliche Spiel Neuland. Welche Ausbildungsphilosophie soll hier der leistungsorientierten Ausrichtung zugrunde liegen? Ein unschätzbarer Vorteil ist die flexible Gestaltung der Zeitplanung in der Oberstufe, die jüngst der Jugendweltmeisterin Elisabeth Pähtz das Pendeln zwischen herausragenden Wettkämpfen und Schulalltag ermöglichte (siehe SM 64, Nr. 1/2003, S. 14-17). Doch - wie die Tabelle zeigt - wird das Fundament eines umfangreichen Schacharsenals in den Klassen fünf bis zehn gelegt. Wo die Anfang des Jahres volljährig gewordene Vorzeigegroßmeisterin noch vom familiären Umfeld profitierte, werden die nächste Generation stärker in Trainingskonzepte eingebunden sein. Im Lehrplan-Deutsch sind die Perspektiven skizziert: "Die Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten aus den einzelnen Themenbereichen werden aufgegriffen und systematisiert. Auf dieser Basis werden entsprechend der Altersstufe die zugehörigen Schwerpunktthemen der schachlichen Entwicklung herausgegriffen und bearbeitet. Im Laufe der Entwicklung erhalten die Schülern damit ein komplexes System von vernetzten Kenntnissen und Fähigkeiten. Das versetzt diese Sportler zunehmend in die Lage, sich selbst zu analysieren und Entwicklungsstrategien festzulegen. Diese Fähigkeiten werden dann auch in den anderen Disziplinen der gymnasialen Bildung zu einem Entwicklungsschub führen, da die Schüler mit der Sportart Schach befähigt sein werden, Probleme zu erkennen, zu analysieren und nach geeigneten Lösungsstrategien zu suchen. Der Profilsport Schach wird somit einerseits die individuelle sportliche Entwicklung der Schüler fördern als auch die allseitige Bildung unterstützen." Diese Zielsetzung wurde - auch in Anlehnung am Trainingskonzepte des DSB - in folgende Lehrbereiche und Stundenplanungen heruntergebrochen.
Lehrbereiche | 5,6,7 | 8,9,10 | 11,12 |
Eröffnungen | 80 |
80 |
25 |
Taktik | 35 |
25 |
10 |
Endspiele | 65 |
75 |
20 |
Klassische Partien | 50 |
50 |
15 |
Turnier- und Wettkampfvorbereitung (für 5-10) bzw. Strategie (nur 11,12) | 15 |
15 |
10 |
Analyse selbstgespielter Partien | 70 |
70 |
20 |
Schach und Wissenschaft | 15 |
15 |
10 |
Festigung und Kontrolle | 30 |
30 |
10 |
360 |
360 |
120 |
Lehrbereiche der verschiedenen Klassenstufen (nach Lehrplan vom 1.8.2002)
Hier muss allerdings angemerkt werden, dass dies eine vorläufige Orientierung ist, die im laufenden Schuljahr mit Erfahrungswerten aus dem Schulalltag abgeglichen wird. Falk Sempert, Mathematik-Lehrer und Schachkoordinator, merkt dazu an: "Natürlich werden die Inhalte je nach Schülergruppe spezifiziert. Die Beschreibung der Vermittlungstiefen ist muss noch mit Vorsicht genossen werden, da zum Zeitpunkt der Einreichung die verbindlichen Operatorbeschreibungen durch das Comenius-Institut noch nicht bekannt waren."
Kernelemente der Unterrichtsgestaltung lassen sich gleichwohl fassen: Erkennen, analysieren, systematisieren, vernetzen, vertiefen, unterstützen, intensivieren, auswerten sind als Schlagworte gefallen. Alles konzeptionelle Ziele vieler Bildungsoffensiven und immer mit der Überlegung, dass Wissensstände ständig neu hinterfragt und entsprechend geänderten Situationen bewertet müssen. Gerade im Jugendschach, wo die Entwicklungsschübe groß sind, kann mit einer verbesserten Didaktik noch manches bewegt werden, wenn die Erziehung zu selbständiger Reflektion stetig gefördert wird. "Es gibt nichts Wichtigeres auf der Welt, als die Menschen zum Nachdenken zu bringen", meinte bereits der deutsche Aphoristiker Sigmund Graff im letzten Jahrhundert. Was sich aber theoretisch so schlüssig einleuchtet, ist in der Praxis kein leichtes Unterfangen. Welche Materialen nutzt man, welche Schwerpunkte setzt man? Allein die grundsätzlichen Herangehensweisen können unterschiedlich sein.
Für das Nachdenken über Schach im benoteten Schulunterricht gibt es leider noch kein Lehrbuch. Zwei Standardwerke tragen das DSB-Gütesiegel. Ein methodisches Handbuch wie das von Dr. Ernst Bönsch und dem jetzigen Bundestrainer Uwe Bönsch (Sportverlag 2000) bietet in anschaulicher, komprimierter Art Grundlagen der Didaktik und Trainingsaufbau sowie reichlich Lektionen - vor allem für Anfängerniveau. "Das systematische Schachtraining" des früheren Bundestrainers Sergiu Samarian (Neuauflage bei Edition Olms 2001) eignet sich ergänzend für fortgeschrittenen Unterricht und autodidaktische Vorgehensweise. Doch für seinen Unterricht erstellt Shvartz lieber neue Materialien. Einerseits gilt es hier - für insgesamt neun Schüler von Anfängerlevel bis IM-Anwärterlevel - auf individuelle Vorkenntnisse der jeweiligen Altersklassen und Lernverhalten innerhalb der Gruppen einzugehen, andererseits bietet natürlich der Erfahrungsschatz aus seinem Studium und der Trainertätigkeit in der Ukraine einen Fundus, der im deutschsprachigen Raum bekannt ist.
Seine Situation ist delikat und herausfordernd zugleich. Gerade in Westeuropa, in Ländern mit wenigen Trainerstellen und keinem zu hohen gesellschaftlichen Status des Schachsport, legen Verbände und Übungsleiter häufig früh großen Stellenwert auf einzelne Partiephasen und dem Eröffnungstraining wird nicht selten spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Wer kennt nicht die vielen mit Theoriewissen vollgepumpten Jugendlichen, die im Mittel- und Endspiel schlingern? In Osteuropa baute man mit breiter staatlicher Förderung auf eine andere, keineswegs weniger leistungsorientierte Ausbildungsphilosophie, die eher die Grundlagen für Positionsverständnis im Mittel- und Endspiel schafft. Wie oft hat schon mancher erfahrende Spieler auf einem Open in Westeuropa die Häme russischer Titelträger gehört, wenn er ein technisch lösbares Endspiel misshandelt hat. "Das können die Kinder bei uns im Pionierpalast", gilt als freundlich-sarkastische Antwort in Erinnerung an "goldene Schachzeiten". Heute heißt es für Shvartz, die Gratwanderung zwischen deutschem Curriculumplan und Kenntnissen aus früheren Ausbildungsformen zu überbrücken. Ein spannender Prozess, der sowohl seinen Schülern als auch in Perspektive deutschen Jugendtrainingskonzepten innovative Impulse verleihen kann. Ein Tag im Klassenzimmer am Ende des ersten Schulhalbjahres gibt einen Eindruck der Bemühungen um eine verbesserte schachliche Allgemeinbildung bzw. Förderung des Spitzenschachs. Es ist eine Momentaufnahme des neuen Unterrichtsangebots, und kann möglicherweise Anregung für die eigene Trainingsgruppe bringen.
Montagmorgen sind "die Kleinen"
die erste Gruppe. Für die Klassen fünf und sechs räumt Shvartz
im zweiten Schulhalbjahr den thematischen Aspekten der Spielführung
einen höheren Stellwert ein als konkreten Fragen zu einzelnen Partiephasen.
Für die 12- bis 13-Jährigen geht es um Grundsätzliches wie:
Isolierte Bauern
Rückständige Bauern
Geschichte des Schachs Steinitz bis Botwinnik
Schwache und starke Felder
Figurenaktivität
An den Klassikern als Vorbildern darf - wie die Stundenaufteilung zeigt - kein Leistungslevel vorbei. In diesem Unterrichtsblock werden die jüngsten Schüler selbständig Lebensläufe, Erfolge und markante Partien früherer Heroen präsentieren. Solche kleinen Projekte kann - unabhängig von der Spielstärke - jeder mit entsprechender Sorgfalt bewältigen.
Zuvor muss erlernt werden, wie und wo Wendepunkte einer Partie hinterfragt werden. In dieser Altersstufe ist, um alle Schüler zu erreichen, frontales Lernen die probate Methode. In der Klasse sitzen mit Elena Winkelmann (12 Jahre, DWZ 1673) und Evgenija Shmirina (13 Jahre, DWZ 2070) zwei Spielerinnen mit internationaler Erfahrung ebenso wie mit Nicole Lorenz (12 Jahre Jahre, DWZ 1309) und Elias Mikhaiel (12 Jahre, 880 DWZ) zwei Schüler mit geringerer Spielstärke. Da die arrivierten Spielerinnen häufig die Wortführerschaft übernehmen, versucht der Lehrer mit auffordernden oder zügelnden Fragen eine Balance zu erreichen, die alle gleichermaßen mitzieht. Jeder Schüler muss die Züge auf seinem Brett nachspielen; vier Aufgaben erfassen Problemsituationen. In Rücksprache mit dem Lehrer erklärt jeder mal eine Idee. Die gemeinsam formulierten Lösungen werden mitnotiert. 45 Minuten reichen gerade aus, alle Beiträge zu erarbeiten und ein zweites Aufgabenblatt auszuteilen, auf dem der Lehrer seine Antworten formuliert hat. Zuhause ist das Unterrichtsinhalt zur Festigung des Wissens nochmals zu überdenken. Ohne konkrete Varianten soll die "Geschichte" der Partie schriftlich rekapituliert werden.
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Damengambit
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Im Unterricht sollten die Antworten einige Höhepunkte erfassen:
Aufgabe 1: Die Tarrasch-Verteidigung |
Eine Zusammenfassung des Partieverlaufs als Hausaufgabe lautete wie folgt:
1. Schwarz hat die Eröffnung so gespielt, dass Weiß sich schnell
entscheiden musste. |
In ihrem Handbuch führen Bönsch/Bönsch die Bedeutung eines weiteren Lerneffekts der schriftlichen Kontrolle aus: "Beim Arbeiten mit jüngeren Kindern im ersten und zweiten Schuljahr bietet die Information durch Wissensspeicher-Blätter den schachinteressierten Eltern die Möglichkeit, den Wissenstand ihrer Kinder zu überprüfen und gegebenenfalls ihre eigenen Schachkenntnisse zu vervollständigen." (S. 87)
Was in den ersten gymnasialen Klassen verhältnismäßig leicht zu vermitteln ist, verlangt beim Einzeltraining größeres Beharren. Eine Gruppendynamik kann immer wieder durch gegenseitiges Motivieren stimuliert werden. Sitzt die nach dem Vormittagsunterricht etwas ausgepowerte Jugendweltmeisterin zu ihrer Doppelstunde vor der Nachmittagsfreizeit allein am Brett, muss Miroslav Shvartz bei allem Verständnis freundlich-insistierend vorgehen. Eine nicht sonderlich überzeugende Partie zeigt Elisabeth Pähtz mit Kopfschütteln über schwächere Züge. Das Klassikstudium der zweiten Schachstunde bringt sie fahrig-lässig rum. Aber da der Lehrer auch ihr Trainer bei wichtigen Wettkämpfen ist, weiß er, dass es wieder konzentriertere Phasen geben wird. Doch die modernen Klassiker sind ihm heilig, ohne Ansicht, wer diesen Stoff verdauen muss. Da muss auch die Musterschülerin durch. Shvartz unterstreicht die Vorbildfunktion seines 1934 geborenen ukrainischen Landsmanns Leonid Stein, dem dreimaligen Sieger der UdSSR-Meisterschaft (1964, 1965, 1967), der 1973 früh verstarb: "Großmeister Stein, der in den 60er bis Anfang der 70er Jahre einer der stärksten Schachspieler der Welt war, hatte einige Spielbesonderheiten in seinem Stil, die für mich als Trainer wichtig sind: Kampfgeist, was sich besonders in einer schlechten Turniersituation zeigte, und was für viele Jugendliche ein Problem ist, eine sehr gute Berechnungsfunktion und ein entsprechend aufgebautes Eröffnungsrepertoire (z.B. Königsindisch, Sizilianisch) und eine gute Endspieltechnik. Seine Partien gegen die damals besten Schachspieler bringen leistungsstarken bzw. leistungsorientierten Schülern viele wichtige Schachinformationen bei."
Doch manchmal ist Schach trivialer, nämlich das einfache Ausnutzen mangelhaften Schachwissens des Gegners. Besonders junge Spieler haben ihre helle Freude an solchen Überraschungscoups. Auch die ehemalige U-14 Vize-Europameisterin ist da nicht anders.
Mit dem Slogan "Wissen ist Matt" wirbt ein bekanntes Hamburger Schachsoftwarehaus in Anlehnung an Francis Bacons "Wissen ist Macht". Am ersten Februar-Wochenende gelang der gebürtigen Ukrainerin, die seit dem Jahr 2000 mit ihrer Familie in Dresden lebt (siehe www.shmirina.com), gegen ihre Leipziger Gegnerin, die eine DWZ von 2044 (bzw. Elo 2130) aufweist, eine Partie dieser Kategorie. Wie einst der 19-jährige Bobby Fischer in seiner komplizierten Partie gegen Istvan Bilek beim Interzonenturnier in Stockholm 1962 27 Schwarzzüge in der vergifteten Bauern-Variante im Najdorf in sieben Minuten herunterspulte, so zog die 13-Jährige hier ohne viel Nachdenken eine andere Sizilianischvariante durch. Alles Heimarbeit, kein Anstrengung erforderlich. Beide Vorfälle sind jedoch auch Warnung. Gerade die "großen" Varianten wie Najdorf und Sweschnikow werden von Jugendlichen am liebsten entlang der Hauptvarianten gepaukt. Meist reicht schon ein wenig angewendeter Zug und sie sind mit ihrem Latein am Ende. Wenn man dann noch die gängigen Opfer nicht kennt, ist das Ende schnell da.
Freudiges Präsentieren: Evgenija Shmirina weiß verschmitzt, dass nach diesem Eröffnungszug eine kurzweilige Opferpartie folgen wird. Foto: Harald Fietz
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E. Shmirina - B. Bielicki
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Eine solche Partie am Demonstrationsbrett vorführen zu lassen, bietet sich in der Unterrichtsgestaltung - abseits der daraus zu lernenden Vorsicht - als Höhepunkt am Ende einer Stunde an. Das Präsentieren stärkt das Selbstbewusstsein und die Zuhörer sind wegen der Spannungsmomente eifrig dabei. Fallen prägen sich gut ein, werden anderen vorgeführt und hoffentlich künftig vermieden.
Nachdenklicher geht es bei den älteren Schülern im Nachmittagunterricht ans Werk. Hier steht komplexe Stellungsbewertung und Varianten aus Sicht der eigenen und der anderen Farbe auf dem Programm. Volker Seifert (DWZ 2343) und Paul Hoffmann (DWZ 2165) sind ein gutes Gespann für die Methode des Partnerlernens. Der stärkere Spieler tendiert dahin, seine Spielauffassung umfassend einzubringen, wovon der Mitschüler profitiert. Konkurrenzgedanke und Teamfähigkeit sind bei der Lösungssuche gleichermaßen im Spiel. In der Kombination provozieren sie im Idealfall einen kreativen Denkprozess. Miroslav Shvartz hat einen besonderen Prüfstein ausgesucht. In der Sowjetunion waren die Vergleichswettkämpfe zwischen aufstrebenden Talenten und altgedienten Staatsprofis einerseits immer prestigeträchtig, andererseits mit einem besonderen erzieherischen Anspruch verbunden. Das ausgewählte Beispiel kann - wie Tals Einschätzung klarstellt - charakteristisch hierfür stehen. Gefragt ist die Fähigkeit, in der entscheidenden Phase für vier, fünf Züge eine große Rechentiefe bzw. eine dynamische Stellungsbeurteilung zu erreichen.
Gemeinsames Denken macht stark: Paul Hoffmann (links) und Volker Seifert tüfteln über einer denkwürdigen Tal-Partie. Foto: Harald Fietz
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B. Gulko - M. Tal
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Solche Stellungen weitgehend richtig zu erfassen, zeichnet fortgeschrittenes Leistungsniveau aus. Trefflich geeignet für eine Vervollkommnung des Verständnisses der Übergange zwischen Eröffnung und Mittelspiel ist daneben das Ausspielen von vorgegebenen Eröffnungsvarianten. In einer Unterrichtsstunde kann Shvartz zwei Partien a zehn Minuten pro Spieler durchführen lassen. Dabei müssen sich die beiden Spieler vom Dresdner SC auf unterschiedliche Blickwinkel einrichten. Mal starten sie in die Variante ohne Vorkenntnisse (z.B. der e4-Spieler Paul Hoffmann muss mit Weiß die 4.f3-Variante in der Nimzowitsch-indisch Verteidigung gegen den Nimzo-Spieler Seifert spielen). Dann geht es primär darum, zu testen, wie der Eröffnungsexperte mit einer Nebenvariante zurecht kommt. Eine andere Herangehensweise ist, beide Spieler ihre Farbe und ihre Eröffnung spielen zu lassen, aber ein System, die sie üblicherweise nicht wählen. Hier kann ausgelotet werden, ob sich ein benachbartes System vielleicht in das eigene Repertoire einpassen lässt. Das Beispiel zeigt, wie Jugendliche in solchen Konstellationen dazu neigen, taktische Spitzfindigkeiten auszuprobieren.
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P. Hoffmann - V. Seifert
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Die Unterrichtsstunde der beiden Oberstufenschüler hätte auch unter ein Leitbild eines wichtigen humanistischen Aufklärers des 19. Jahrhunderts, dem Philosoph Ludwig Feuerbach, gestellt werden: "Was der Mensch nicht aus sich selbst erkennt, das erkennt er gar nicht." Schachspieler unterziehen sich ständig bewusst oder unbewusst einem Erkenntnisprozess und fördern dabei ihre Kreativität zutage. Am Spätnachmittag geht es für Shvartz in die vierte Doppelstunde. Das Gespräch und die Übungen mit Maria Schöne (DWZ 2006) von SC 1911 Großröhrsdorf sollen nicht nur die individuelle Leistungsbereitschaft motivieren, sondern dienen ebenfalls dazu, die Ansprüche höher zu legen: "Einzeltraining ist wichtig, um über Schwächen zu sprechen. Das will und kann aus verständlichen Gründen nicht jeder in der Gruppe", weiß der Ausbilder, diesmal in seiner Funktion als sächsischer Landestrainer. Für die 16-Jährige aus dem D-Kader des DSB wird es keine leichte Übung.
Eine Bundesligapartie, die nur Remis wurde, zu bewerten ist zwar nicht besonders angenehm. Gerade weil die Drachenexpertin von 1.e4 c5 2. Sf3 d6 3.Lb5 abgefangen wurde, und nicht optimal reagierte als sie eine besser Stellung erreichen hätte können. Eine akzeptable Entgegnung für das nächste Mal ist mit Hilfe einer großen Datenbank schnell festgelegt. Übungsziele werden im Trainingsheft festgehalten, eine Diskette mit Musterpartien wandert über den Tisch. Doch dann kommt Endspieltraining - Stellungen mit wenigen Steinen und studienartigen Gewinn- und Remiswegen. Die hohe Kunst des finalen Entscheidungsprozesses über ganze und halbe Punkte bedeuten nicht nur in der Turnierpartie Stress. Zwar versucht die Deutsche U-14-Meisterin von 2001 bzw. Deutsche U-16-Meisterin von 2002 in beiden Stellungen die Lösungsetappen zusammenzupuzzeln, doch die Probleme sind diffizil. In der ersten Stellung muss der Mechanismus erkannt werden, mit dem der König ein entscheidendes Tempi im vierten Zug gewinnt. In der zweiten Stellung muss gleich der erste Zug richtig sein, sonst ist die Option passe. Die junge Sächsin tut sich schwer; nach und nach schiebt Shvartz Hinweise nach. Abschließend werden alle Züge nochmals nachgespielt und im Notizheft festgehalten. Ob das Brett daheim darauf wartet?
Notebook gegen Notizheft: Maria Schöne kann nach der schrittweise Analyse viele Züge und Kommentare in ihr Trainingsbuch notieren. Foto: Harald Fietz
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A. Zubcenko - V. Gudok
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Nach dieser ungewöhnlichen Materialverteilung folgt Basisarbeit in einem Turmendspiel. Selbst die jugoslawischen Großmeister haben seinerzeit die rettende Ressource übersehen.
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L. Ljubojevic - S. Gligoric
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Nach einem langen Tag wird das Notebook zugeklappt, die russische Stein-Biographie wandert ebenso in die Tasche. Diese Woche werden noch Antonia Schneider (17 Jahre, DWZ 1630) und der neu dazugekommene Achtklässler Lukas Böttger (13 Jahre, DWZ ca. 1500) ihre individuellen Unterrichte bekommen. Und für die anderen stehen dann wieder benotete Aufgaben auf dem Stundenplan. In schriftlichen Tests müssen vier bis fünf Fragen beantwortet werden (z.B. zwei Fragen zur Schachgeschichte und drei Fragen zu einer Modellpartie). Die Zensuren orientieren sich an der Spielstärke. So wird - bei fast 800 DWZ-Punkten Differenz - von Evgenija Shmirina in der Partienanalyse mehr erwartet als von Nicole Lorenz. Mündliche Aufgaben können bei "den Großen" recht umfangreich sein (z.B. ein Vortrag über einen Weltmeister mit Lebenslauf, Erfolgen, Beiträgen zur Theorie - etwa Wassili Smyslows Behandlung der Spanischen Partie beim WM-Turnier 1948). Außerdem müssen jeweils zwei Weiß- und Schwarzpartien vorgeführt werden. Sicher ist das Gebiet der Prüfungsfragen und Benotung relativ neu im Schulkontext. Miroslav Shvartz steht daher Interessieren gerne zum Erfahrungsaustausch zur Verfügung (Kontakt: Tel. 0351/4759665 oder 0173/7434718 bzw. m.shvarts@web.de). Vielleicht ermuntern dann, mit den neuen praktischen Erfahrungen aus Dresden, bald mehr Trainer ihre Schüler herausfordernd, dass am Anfang wenig Ahnung war, aber jeder mit dem Willen zum Nachdenken Leistung bringen kann.
(korrigierte Fassung, erschien zuerst in Schachmagazin 64, Nr. 11/2003, S. 296 - 300)