"Im Mädchenschach ist alles möglich"Der weibliche U-20 Nachwuchs des SV Glück auf Rüdersdorf erringen kapriolenreich den Deutschen Vereinsmeistertitelvon Harald Fietz, Januar 2004 |
Wer liebt sie nicht, die knappen Entscheidungen, das Rausreißen des Sieges in letzter Sekunde. Auf das Brett der Mitspielerin oder bei den anderen Mannschaften schauen verbot Coach "HB" Holger Borchers seinen Mädchen vom SV Glück auf Rüdersdorf, dem kleinen brandenburgischen Ort bei Berlin. Volle Konzentration sollten Veronika Kind, Judith Hönecke, Thea-Lina Müller und Nadine Busse auf das Treiben der eigenen Figuren legen. Die pausierende Jennifer Sdunzik durfte nur die eigenen Zwischenstände ansagen. Bei der Deutschen Vereinsmeisterschaft der U20w vom 27. bis 30. Dezember 2003 im schwäbischen Ditzingen ereigneten sich bis zur Schlussrunde schon so viele Irrungen, dass beim letzten Gefecht ganze Kampfmoral geboten war. Der Weg, um phönixgleich die Meisterwürde aus eigener Kraft schaffen zu können, trieb den erfahrenen Jugendtrainer schon einigermaßen zur Verzweiflung. Nach Runde drei setzte es eine fast halbstündige Standpauke ... Dabei begann alles so hoffungsvoll.
Die Topfavoritinnen von den Schachfreunden Dortmund-Brakel sagten mit der seltsamen Begründung ab, den Naiditsch-Schwestern sollten die Weisheitszähne gezogen werden und mit einem geschwächten Team glaubte man wohl nicht an das Unternehmen Titelverteidigung. Die Chancen für den Vizemeister von 2002 stiegen gewaltig, obwohl bei den Rüdersdorferinnen die etatmäßige Gastspielerin, die Deutsche U-18-Meisterin Olga Vaideslaver, nicht teilnahm. Zwar standen gegenüber dem Vorjahr nur Veronika und Thea-Lina im Team, aber Judith, Jennifer und Nadine kannten die U20w bereits von 2001 und in 2000 holten sie gemeinsam den Deutschen Mannschaftstitel in der Kategorie U14w. Heuer rangierte man mit einem DWZ-Schnitt von 1740 auf Platz zwei der Setzliste nach den Hamburgerinnen von SK Johanneum Eppendorf (Schnitt 1794).
Runde eins ging problemlos über die Bühne: Beim 3,5:0,5 musste einzig Veronika bei ihrem letzten Turnier im Jugendbereich ein Leichtfigurenendspiel mit Minusbauern mit Geschick zusammenhalten. Die gute Laune sank, als in der ersten Nachmittagsrunde eine kollektive Nervosität grassierte. Gegen das nach Wertung fünftbeste Team, die SF Wadgassen-Differten, reichte man sich viermal vor der Zeitkontrolle zur Punkteteilung die Hände. Die Mädchen aus dem Saarland avancierten in der Folge zum ernsthaften Titelanwärter und gaben bis zur fünften Runde nur diesen einen Mannschaftspunkt ab! Für Rüdersdorf wurde es verzwickt: Die erkältungsgeschwächte Judith musste sich zum richtungsweisenden Match gegen Leipzig-Gohlis ins Bett packen; Ersatzspielerin Nadine Busse erledigte ihre Sache ordentlich, gewann als erste von fünf Mal und wurde fortan als "Bank" unverzichtbar! Doch die restlichen Leistungen säuerten den Betreuer an. In gegnerischer Zeitnot reklamierte Veronika gegen Franziska Beltz nicht die dreimalige Stellungswiederholung und verlor umgehend. Jennifer trieb HB in die Rolle des berühmten Zigaretten-Männchens, denn ihrem in der Mitte hängen gebliebenen König half nach einem unpositionellen d5-Durchbruch im Sizilianer nicht mehr viel.
|
Beltz,C (1752) - Sdunzik,J (1693) [B86]
|
Und die sonst so zuverlässige Thea-Lina parkte im Mittelspiel eine Qualität ein. Das Ende von Lied: ein 1:3 und erste Zweifel, die Jennifer in ihrem Rückblick für die Rüdersdorf-Homepage (http://schach.sv-glueck-auf-ruedersdorf.de) in folgende Frage fasste: "Sind wir nach der saftigen Niederlage eher "Glück unter" statt "Glück auf"?" Solches Philosophieren gab es vor Ort nicht, denn bei der abendlichen Lagebesprechung mit HB herrschte dicke Luft, obwohl gegen den Elften des Setzliste im 13er-Feld ein ungefährdeter 3,5:0,5 Sieg einen Hoffnungsschimmer aufzeigte! Doch Borchers haderte berechtigterweise wegen des verschenkten halben Zählers. Veronika, früher das Nesthäkchen in den U20w-Teams, fasste als einzige Führungspersönlichkeit mit drei Jahren Altersunterschied schwer Tritt. Gegen Carolin Blodig misshandelte sie ein Turmendspiel, in dem ihr drei Mehrbauern in gegnerischer Zeitnot nur zum Remis reichten. Plötzlich liefen der früheren Deutschen Schulmannschaftsmeisterin selbst die Minuten weg. Aber da war sie in guter Gesellschaft. Die Qualität vieler Partien muss man als "durchwachsen" resümieren. Dies "quälte" das Begleitpersonal, sorgte aber für Spannung, denn kein Team blieb davon verschont.
Das Derby Bundeshauptstadt gegen angrenzende Kleinstadt entschied letztlich über das Turnierschicksal. Als Sieger der norddeutschen Qualifikation riss der SK König Tegel mit 5:3 Mannschaftspunkten gleichfalls keine Bäume aus. Nur ein Sieg konnte vage Medaillenträume nähren. Und alle Spiele liefen auf die Brandenburgerinnen zu. Die Freundinnen Nadine und Judith sorgten für die schnelle 2:0-Führung und Veronika steuerte auch auf einen Sieg zu. Erstaunlich, dass Stefanie Schulz, die Dritte der Deutschen U-16 Einzelmeisterschaft, sich auf die sizilianische B32-Variante einließ, die früher in Tegeler Bundesligakreisen vor allem die Spitzenbretter Robert Rabiega und Rainer Tomczak anwandten, die aber Mitte der 90er Jahre als "verdächtig" zu den Akten gelegt wurde. Systematisch verdichtete die in Gießen studierende Veronika ihre Stellung, kassierte sogar eine Figur ein, ließ sich jedoch von einem schwarzen Freibauern und dem gegnerischen Turm auf der zweiten Reihe bis in die Niederlage beeindrucken.
Jetzt musste sich die geschickte Eröffnungstaktik von Jennifer im Mittelspiel auszahlen. Mittels des Linksspringers 1.Sc3 lockte sie die Sizilianisch-Spielerin Uta Neldner in ungewohnte Caro-Kann-Strukuren. Eine schwarze Taktik um die Zeitkontrolle erwies sich als Schuss in den Ofen - 3:1 und jede Menge neuen Schwung. "Über dieses Ergebnis staunte HB - wir hatten es ihm also gezeigt", unkte Nadine hinterher. Doch vielleicht hatte der Trainer, wie es gute Übungsleiter auch in anderen Sportarten machen, nur die ungenutzten Potenziale anstacheln wollen?
|
Sdunzik,J (1693) - Neldner,U (1702) [A00]
|
Veronika beantragte frustriert eine Auszeit und die vier 16- und 17-Jährigen verwandelten einen "ulkig" bis "katastrophalen" Kampf gegen SV Wolfbusch in einen 3:1-Sieg. Nur Jennifer erlitt gegen ihre 200 DWZ-Punkte schwächere Gegnerin im Spielaufbau ein Fiasko. Da sich die anderen Teams gegenseitig die Punkte abspenstig machten, ergab sich vor der Schlussrunde eine zugespitzte Situation, die die Unterlegene mit "beim Mädchenschach ist alles möglich..." umschreibt: "Eigentlich mag ich dieses Vorurteil gar nicht, doch bei der weiblichen Jugend ist offensichtlich nichts unmöglich, eine gewonnene Partie kann schnell kippen und der anderen Mannschaft den Erfolg bringen ... Jetzt lagen also sechs Runden hinter uns und nichts war entschieden: Eppendorf (16,5 Brettpunkte), Rüdersdorf (16 BP) und Wadgassen (15 BP) bilanzierten alle 9:3 Mannschaftspunkte - die letzte und entscheidende Runde konnte beginnen ... Es hätte nicht besser kommen können, ein "echtes" Finale Eppendorf - Rüdersdorf! Wer gewinnt, hat den Titel so gut wie sicher. Dass Wadgassen beide Mannschaftspunkte holen würde, war anzunehmen, dann entscheiden also die Brettpunkte. Hui, das Rechnen begann ..."
Als das Rechnen ein glückliches Ergebnis gab. In den berühmten weißen Rüdersdorf-T-Shirts (von links) Jennifer Sdunzik, Veronika Kind, Nadine Busse, Thea-Lina Müller und Judith Hönecke (mit dickem Schal). Foto: Veranstalter / TSF Ditzingen
Passten im bisherigen Turnierverlauf entweder die Gegnerinnen oder die Farben so richtig, so gab es gegen SK Johanneum Eppendorf keine Ausreden. Jede sollte ihre Marschorder mit Tunnelblick umsetzen, rumgucken war ja streng untersagt. Zudem schienen die Hamburgerinnen noch nervöser. Französisch-Experte Borchers instruierte Veronika nach dem Tief der Doppelnull passgenau, da er Alice Winnickis Repertoire von früheren Jugendveranstaltungen und natürlich aus seiner Datenbank mit Jugendpartien ziemlich genau einzuschätzen wusste. Statt der Tarrasch-Hauptvariante verfiel Winnicki auf die wenig gewinnorientierte Rubinstein-Variante. Die Schiedsrichterin trug bald die halben Punkte ein.
|
Kind,V (1829) - Winnicki,A (2032) [C10]
|
Nadine dirigierte an Brett vier ihren Springer am Damenflügel auf einen skurrilen Zick-Zack-Kurs, setzte aber mit dem d5-Vorstoss ihre Leichtfiguren in optimale Aktionsbereitschaft. In Zeitnot griff die gleichstarke Gegnerin fehl, der Knockout verlief ab Zug 29 kurz und bündig.
|
Rohlfs,R (1671) - Busse,N (1664) [B84]
|
Derweil krönte die hochmotivierte Judith an Brett zwei ihre überragende Performance (fünf Siege, ein Remis) durch ihren vierten Schwarzsieg! Mit Karin Chin hatte sie ohnehin ein Hühnchen zu rupfen, unterlag sie doch bei der Norddeutschen Mannschaftsmeisterschaft im August. Noch immer gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe und in einen dicken Schal gehüllt, wickelte sie konsequent ins Endspiel ab, nachdem die Hamburger Gastspielerin von SC Diogenes einen Springer von seinem "Hinterland" abschnitt.
|
Chin,K (1775) - Hoenecke,J (1779) [B84]
|
Nun konnte schon gejubelt werden, denn Wadgassen-Differten gab schon früh am Spitzenbrett einen halben Punkt ab und Brett zwei stand zunehmend schlechter. Thea-Lina schaffte es in Zeitnot leider nicht, ihren feinen Angriff mit einem forcierten Matt zu einem logischen Ende zu führen. Erst mit der Zeitkontrolle informierte man das Nervenbündel, dass das Remis reicht, um letztlich mit 1,5 Brettpunkten Vorsprung ins Ziel zu kommen. Johanneum Eppendorf blieb - wie im Vorjahr - nur der undankbare vierte Platz.
|
Mueller,T (1737) - Schmidt,J (1699) [C02]
|
SV Glück auf Rüdersdorf - Deutscher Vereinsmannschaftsmeister U20w (von links) Andreas Ryba (Leiter Schachabteilung TSF Ditzingen), Veronika Kind, Judith Hönecke, Jennifer Sdunzik, Thea-Lina Müller, Nadine Busse, Ina Rotenberg (Schiedsrichterin U20w) Foto: Veranstalter / TSF Ditzingen
Die Heimfahrt gestaltete sich entsprechend ausgelassen. Aber wie immer bei Siegern: "Wir hatten es irgendwie gar nicht richtig wahrgenommen, so als ständen wir völlig neben der Spur", meinte Nadine kurz vor Sylvester. In 2004 ist man nun in der Pflicht. Da kann ein paar Schachbücher studieren gar nicht schaden. Aber als neue Rezensentinnen der Rochade-Kuppenheim-Homepage (Rubrik Test) wurde da schon vorgesorgt.
Veronika Kind | 2,0 | / 6 |
Judith Hönecke | 5,5 | / 6 |
Jennifer Sdunzik | 2,5 | / 5 |
Thea-Lina Müller | 4,0 | / 6 |
Nadine Busse | 5,0 | / 5 |
1. |
Glück auf Rüdersdorf |
11 |
(19,0) |
2. |
Wadgassen-Differten |
11 |
(17,5) |
3. |
Leipzig-Gohlis |
10 |
(18,0) |
4. |
Johanneum Eppendorf |
9 |
(17,5) |
5. |
Hamburger SK 1830 |
8 |
(16,5) |
6. |
König Tegel |
8 |
(15,5) |
7. |
SV Wolfbusch |
8 |
(14,0) |
(13 Mannschaften, in Klammern Brettpunkte) |
Als erstes nationales Fachmagazin lässt Schachmagazin 64 die Deutschen Vereinsjugendmeisterschaften des Jahresendes 2003 Revue passieren. In der Nummer 1/2004 schmücken die Rüdersdorfer U20w-Meister die Frontseite. Sicher unterstricht dies den traditionellen Anspruch der Zeitschrift, überregional und international von Erfolgen in der Jugendarbeit zu berichten. Hoffen wir weiterhin auf abwechslungsreiche Nachwuchsförderung allerorten.