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Verlieren ist eine Frage der Methode oder warum Schirow ein zweiter Keres werden kann

Tals Erbe vermeidet Langeweile

von Harald Fietz, Fotos aus dem Archiv Harald Fietz, November 2001

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Einleitung

   Die Schachgeschichte kennt viele herausragende Spieler, die es nicht auf den höchsten Thron schafften beziehungsweise nicht einmal die Chance erhielten, sich mit dem Weltmeister zu messen. Adolf Anderssens Angriffsführung, Akiba Rubinsteins Endspiele oder Paul Keres' Positionsspiel demonstrierten virtuose Fähigkeiten, aufgrund derer man sie zum engen Kreis der WM-Prätendenten rechnete. Doch Anderssen war ein zu früh Geborener, Rubinstein hinderte der Gang der Weltgeschichte und später seine mentale Verfassung und Keres blieb in Kandidatenturnieren auf Platz zwei programmiert.

 

Alexei Schirow

Alexei Schirow hochkonzentriert

 
   Auch in der Gegenwart fiebern Schachfans um tragische Helden. Wie früher sind es jene Antipoden, die Turnier für Turnier außergewöhnliche Ergebnisse erzielen und dabei weit mehr gehaltvolle Partien als übliche Schachkost produzieren. Alexei Schirow gehört seit Mitte der 1990er Jahre zum engen Kreis potenzieller Herausforderer. Sein Spiel besitzt, wie es der englische Großmeister Jonathan Speelman im Vorwort zu Schirows Partiensammlung "Fire on board" umschrieb, "a quite extraordinary imagination which regularly alchemises positions, the like of which the rest of us only get to enjoy under the bluest of moons". Das Optimum aus Partie und Turnier zu holen ist das Credo des Sprösslings der lettischen Schachschule, die Michail Tal und dessen Trainer Alexander Koblenz etabliert haben. Deren Tradition setzt rigoros auf aggressives Angriffsschach, das auf einer gehörigen Position Intuition basiert. Figurenopfer und ultrascharfe Varianten tauchen überdurchschnittlich oft auf. Gleich in seiner ersten Bundesliga-Saison bekam auch die deutsche Schachszene einen Eindruck davon, als in der Bilanz im Mai 1992 neun Siege und ein Unentschieden standen.

   Ein Himmelsturm auf den höchsten Olymp - wie ihn Tal anno 1960 vollzog - ist im modernen Schach kaum mehr möglich. Rationell und universell müssen jene agieren, die sich durch Spieler und Funktionäre den Weg nach oben bahnen wollen. Das Dilemma ist durch die Spaltung der Schachwelt im Jahre 1993 nicht geringer geworden; doppelte Verlockungen und Ränkespiele hebelten die Schachwelt aus den Fugen. Die FIDE gewährte ihrem alternden Recken Anatoli Karpow bis 1998 Privilegien, Garri Kasparow trieb seine machterhaltende Privatverband-Farce bis zum Jahre 2000. Die FIDE setzt seit drei Jahren auf das Roulette einer Knockout-Meisterschaft, die Weltmeisterschaft im Besitz des Braingames-Unternehmens versucht gerade einen regelmäßigen Modus auf die Beine zu stellen. In diesem Spannungsfeld gelingt es nun zwar mehr professionellen Spielern, sich einige Dollars zu sichern, doch mit Ausnahme des Husarenstücks von Alexander Chalifman im Jahre 1999 wurden die höchsten Würden bislang unter dem Triumvirat Kasparow, Kramnik und Anand verteilt - Karpow wirkte da schon wie ein Artefakt aus einer verflossenen Zeit. Rückblickend schien jeder zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, was für den Rigaer Schirow nicht galt. Und inzwischen hat sich aus dessen Sicht ein gewaltiges Frustpotenzial angesammelt.

 

Schirows Jahre der Enttäuschungen

1998

   Nach dem Groningen-Marathon der ersten K.o.-WM wird ein ausgelaugter Anand im Finale von Anatoli Karpow im Tiebreak in Lausanne bezwungen - die FIDE-Welt behielt den Russen als Statthalter. Der Inder gewann jedoch nur zwei Monate später mit 7,5/12 überzeugend das Turnier von Linares vor Schirow mit 7 Punkten und Kasparow und Kramnik, die jeweils 6,5 Punkte erzielten. Kasparow - seit dem letzten Match 1995 allmählich unter Legitimationszwang - funktionierte das prestigeträchtige spanische Turnier zu einer Art Kandidatenturnier um, nachdem kurz zuvor der Versuch gescheitert war, Anand und Kramnik mittels seines neuen Verbandes, dem World Chess Council, zu einem Herausforderer-Match zusammenzubringen. Anand berief sich auf seinen Kontrakt mit der FIDE, nicht bei einer Konkurrenzweltmeisterschaft teilzunehmen. Statt dessen setzte er als Nummer zwei der Weltrangliste seine Serie von Turniererfolgen beeindruckend fort, gewann die Turniere in Madrid und Tilburg und belegte im Januar 1999, nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen, den zweiten Platz hinter Kasparow in Wijk aan Zee - deutlich vor dem Rest der Weltspitze. Die Wahl für einen Matchpartner konnte nunmehr nur auf Alexei Schirow fallen, der im April 1998 noch gemeinsam mit Kramnik das Amber Schnell- und Blindschachturnier in Monaco gewann, um im Mai das Duell der handverlesenen Kandidaten im südspanischen Cazorla zu spielen.

   Mit dem psychologischen Vorteil des Außenseiters behielt er unerwartet die Oberhand: Kramnik fand - wie Kasparow später gegen ihn - keine eröffnungstheoretische Schwachstelle und bot in allen sieben Remispartien die Punkteteilung an. Schirow musste nur zwei ganze Zähler in dem vorzeitig beendeten Zehn-Partien-Match "pflücken", denn Kramnik wusste zum Schluss keinen Ausweg mehr und packte mit 3.f3 in der grünfeldindischen Verteidigung eine Nebenvariante aus - scheiterte allerdings an der taktischen Komplexität des Mittelspiels. Doch der Weg zum Titelkampf war nur scheinbar frei. Bereits im Juli 1998 - anlässlich seines Matchs gegen Timman in Prag - begann der Weltranglistenerste einen Kleinkrieg der Argumente: Das potenzielle WM-Match interessiere keine Sponsoren und überhaupt sei der Leistungsunterschied zu groß. Ein erfolgreiches Jahr endete aus Sicht des Letten als Hängepartie. Da tröstete auch nicht, dass er in der Weltrangliste auf Platz vier vorrückte.

1999

   Die Unterminierung des Anspruchs sollte sich derweil fortsetzen - Kasparow nutzte seine Podien, um das Match uninteressant zu reden. Nach dem knappen Duell mit Anand in Wijk aan Zee bot sich eine erste Gelegenheit: "Die ganze Idee des Weltmeistertitels besteht darin, ein Match zwischen der Nummer eins und zwei zu organisieren. Niemand kann von einer besseren und einfacheren Lösung träumen." (New in Chess, Nr. 2, 1999, S. 5). Nach seinem Linares-Erfolg fanden sich neue Argumente: "Das Weltmeisterschaftsmatch sollte aus Sicht der Spieler einiges an Bedeutung haben, und zudem habe ich keinen Zweifel, dass ein Match gegen Schirow für die Journalisten (sic!) einen ‚Non-Event' darstellt." (New in Chess, Nr. 3, 1999, S. 16). Nach dem Sarajewo-Erfolg wies er erneut darauf hin, dass auf sein Betreiben ein Wettkampf für Schirow gegen Judit Polgar anstehe - organisiert vom Bessel Koks tschechischer Mobilfunk-Firma Eurotel, die auch für das eigentliche "große" Match gegen Anand mit im Boot sein sollte. Diese "Kompensation für materielle Einbußen" - statt der am Jahresanfang angekündigten 200.000 Dollar ging es tatsächlich nur um die Hälfte der Summe - hätte die ideale Plattform in Kasparows Strippenziehen bieten können. Die Verhandlungen mit den Sponsoren schienen auf der Auftaktkonferenz in Prag medienträchtig auf ein Duell der Weltranglistenführender zuzusteuern, derweil sich Schirow gegen seine Angstgegnerin aus Ungarn abarbeitet. Doch die Dinge entwickelten sich anders: Das Geld für ein Treffen der Nummer eins und zwei kam nicht rechtzeitig zusammen, Anand stieg wegen einer fehlenden Garantiesumme aus den Verhandlungen aus und Schirow fügte Polgar eine empfindliche Niederlage zu.

   Wie weiter unten die Momentaufnahme aus dem Sommer 1999 zeigt, ergab sich eine Konstellation, wie sie für Schirow nicht günstiger sein konnte. Aber die Hoffnung zerstob so schnell, wie sie sich auftat. Kasparow verstand es geschickt, das Thema öffentlich auf Sparflamme zu halten. Es gab zunächst kein Turnier, bei dem er Farbe bekennen musste.

2000

   Erst im März 2000 folgte ein Stelldichein aller Kontrahenten im Sechserfeld von Linares (ergänzt durch Peter Leko und dem damaligen FIDE-Weltmeister Alexander Chalifman). Zwar wähnte sich Anand noch als Gegner auf der Tagesordnung, doch Kramnik war bereits als Rivale ausgeguckt. Der Co-Sieg der K&K vor dem abgeschlagenen Feld zementierte letztere Variante - und tatsächlich verkomplizierten sich die Gespräche mit den Inder, so dass die bereits 1998 anvisierte Begegnung mit Kramnik im April auf einer Pressekonferenz in London verkündet wurde. Wie 1993 gelang es in der britischen Metropole, die seit 1986 kein bedeutendes Großmeister-Turnier mehr durchführte und 1994 ihr wichtigstes Open verlor, einen Sack voll Dollars aufzutreiben. Wenn das Zugpferd Kasparow zusammen mit Raymond Keene die Zügel in der Hand hält, erleichtert dies den Zugang zu konservativen Kreisen in Politik und Wirtschaft. Das Braingames-Unternehmen, ein Internet-Provider für Denkspiele, musste nur noch einmal bangen, als Alexei Schirow zusammen mit Michael Adams in Sarajewo an der Dominanz von Kasparow kratzte. Einen halben Punkt Vorsprung rettete dieser und konnte nun von "historischer Wahrheit" sprechen, denn "ein Sieg Schirows hätte eine Bloßstellung bedeutet, nicht weil er gewonnen hätte, sondern weil die Schachwelt danach dürstet, Garri Kasparow bloßzustellen" (New in Chess, Nr. 4, 2000, S. 30). Kramnik hielt sich wohlweislich vom Schauplatz fern; noch regierte der meinungsbildende Maßstab der Kasparow-Ideologie. Für Alexei Schirow war der nahe Griff nach der Schachkrone seit seinem Schicksalssommer 1999 verbaut.

 

Schirows Schicksalssommer

   Und dabei hatte Alexei Schirow - setzen wir 2001 in einer Zeitmaschine nur zwei Jahre zurück - seinerzeit viele Argumente parat:

Schirow hat eine andere Blutgruppe

   Der geschasste WM-Herausforderer demonstrierte gegen seine Angstgegnerin Judit Polgar erneut seine Matchstärke - doch ist das ein Argument für den Alleinherrscher Kasparow?

 

Alexei Schirow

Alexei Schirow gegen Judit Polgar in Prag 1999

 
   Eigentlich hätte es ein kluger Schachzug des Weltmeisters ohne Verband sein sollen, dem qualifizierten Herausforderer Alexei Schirow ein Kompensationsmatch gegen die beste Dame der Welt anzubieten. Bislang hatte der Neu-Spanier gegen die Ungarin in Turnierpartien ein erbärmliches Score von 6,5:11,5. Doch diesmal hatte Garri Kasparow nicht die richtige Strategie gewählt, denn Schirow nutzte die Chance, eindrucksvoll klarzustellen, dass er das Potenzial besitzt, um den höchsten Titel mitzukämpfen. Bereits frühere Vergleiche gegen Oliver Renet (1991: 5,5 - 0,5), Jeron Piket (1995: 5,5 - 2,5), Wladimir Kramnik (1998: 5,5 - 3,5) und Zbynek Hracek (1998: 5 - 1) haben ausnahmslos gezeigt, dass der gebürtige Rigaer es versteht, sich in einem Match richtig auf den jeweiligen Gegner einzustellen.

   Auch diesmal wurde es eine Auseinandersetzung, die Schirows Angriffsschachstil entgegenkam. Judit Polgar zog bereits nach der vierten Partie das Fazit, dass das Match nicht unbedingt ihrer "Blutgruppe" entspreche. Wo sie normalerweise taktisch ,einen Dschungel auf dem Brett erzeugt' (Jan Smejkal), musste sie sich diesmal in Stellungen zurechtfinden, die Schirow Spielraum ließen, die Positionen kontinuierlich zu verstärken. Wie schon beim Frankfurter Masters-Schnellschachturnier fiel auf, dass die Ungarin derzeit eine Reihe von ,Löchern' in ihrem Eröffnungsrepertoire hat. Konnte sie in der Mainmetropole noch reihenweise ihre Gegner mit taktischen Finessen übertölpeln, ließ sich hier der Druck in einer normalen Turnierpartie nicht mehr abschütteln.

   Insbesondere gegen die Modevariante der Najdorf-Verteidigung, den Springerausfall nach g4 im Englischen Angriff, hatte sie ihre Probleme. Zweimal konnte Schirow mit Bauernopfern die siegbringende Initiative erhalten, und ein Wechsel zum konventionellen Aufbau mit 6...e5 in der dritten Schwarz-Partie brachte der Ungarin ebenfalls eine perspektivlose Position, als sie mit dem neuen Springermanöver b8-d7-b6-c4 eine Schwäche auf b6 produzierte, die Schirow eine anhaltende Kontrolle der Stellung ermöglichte.

 










Schirow,A (2734) - Polgar,J (2671) [B90]

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Le3 e5 Nach zwei Niederlagen in der ersten und dritten Matchpartie mit 6...Sg4 wechselte die Ungarin die Variante. 7.Sb3 Le6 8.Dd2 Sbd7 9.f3 h5 10.a4 Sb6 11.a5 Sc4 12.Lxc4 Lxc4 13.Sa4 Tb8 Während Schirow zügig loslegte und erst zehn Minuten verbrauchte, sinnierte die Ungarin über dem letzten Zug 22 Minuten! [Eine taktische Lösung schlägt nach 13...Sxe4 14.fxe4 Dh4+ 15.Df2 Dxe4 16.Sd2 Dxc2 wegen 17.Sb6! fehl.] 14.Sb6 Le6 15.0-0-0 Diesmal war es am Spanier, 21 Minuten zu investieren. 15...Le7 16.Dc3 Sd7 17.Sc5 Sxc5 [Schirow führt im Informator 76/245 folgendes Abspiel an: 17...Sxb6 18.Sxe6 fxe6 19.Lxb6 Dd7 20.Td3+/= ; 17...dxc5 18.Txd7 Lxd7 19.Td1 ] 18.Lxc5 Dc7 19.Lb4 Dxc3 In der Zeit lagen beide Spieler fast gleichauf mit einem Rest von 1:04 / 1:03. 20.bxc3 Im VIP-Raum wettete Judits Sekundant Lew Psakhis, dass der Läufer wiedernehmen würde. Chef-Kommentator Yassar Seirawan lächelte zwar gequält, akzetpierte die Idee aber, denn der jetztige israelische Staatsbürger müsse schließlich die "russische Seele" aus gemeinsamen Sowjetzeiten besser einschätzen können!? 20...Td8 21.Td3 Th6 [Schirow schlägt alternativ die waghalsige Variante 21...f5 22.Thd1 fxe4 23.fxe4 Lg4 24.T1d2! Lg5 25.Lxd6 mit Kompensation für Material an.] 22.Thd1 Tg6 23.g3 Tf6 24.h3 Lxh3 25.Th1 Le6 26.Txh5 Th6 27.Txh6 gxh6 28.g4 f6 29.c4 Kf7 30.Kb2 Kg6 31.Sd5 Kf7 32.Kb3 Tc8 33.Td1 Lf8 34.Th1 Kg6 35.Ld2 Ein in typischer Schirow-Manier ausgeführter Zug: Schwungvoll, kurz innehalten, ein schweifender Blick über das Brett und losgelassen. 35...Tc5 36.Le3 Tc8 37.Th5 Tc6 38.Th2 Tc8 39.Th1 Td8 [Schirow weist auf die Falle 39...Tc6 40.Lxh6 Lxh6 41.Se7+ Kg7 42.Sxc6 bxc6 43.Td1 hin.] 40.Kc3 Td7 In letzter Minute zog die Budapesterin und verließ erst zum zweiten Mal in vier Stunden die Bühne. Die Uhr zeigte noch 56 Sekunden und die Zuschauer in dunklen Theatersaal beganen zu murmeln, wer den besser stehe. Im VIP-Raum konstatierte Seirawan gegenüber Bessel Kok: "It looks like Judit will suffer for a long time." 41.Kd3 Th7 42.Tb1 Td7 43.Lb6 20 Minuten "tauchte" Weiß in die Angriffspläne ein. 43...Kg7 44.Se3 Kf7 45.Th1 Te7 [Nach 45...Kg6 46.Sf5 Th7 47.Th5 ist die Stellung noch lange nicht gewinnträchtig.] 46.Sf5 Td7 12 Minuten kostete die Entscheidung, den Bauern aufzugeben, oder möglicherweise mittels eines Qualitätsopfers eine Festung aufzubauen. 47.Sxh6+ Lxh6 48.Txh6 Ke7 49.Lf2 Tc7 50.c5 Tc6 51.Lh4 Txc5 52.Lxf6+ Kd7 53.Th7+ Kc8 54.Th8+ Kd7 55.Th7+ Kc8 56.Th8+ Kd7 57.Td8+ Kc7 58.Le7 Txa5 59.Txd6 La2 60.Th6 [Zielstrebiger war lt. Schirow 60.Tf6 ] 60...Tb5 61.g5 a5 62.Th8 Kd7 63.La3 Tb1 64.Th7+ Kc6 65.Th6+ Kd7 66.Td6+ Kc7 67.Tf6 Kd7 68.g6 b5 69.Lc5 b4 70.g7 Td1+ 71.Ke2 Th1 72.Td6+ Kc7?? [Nach 72...Ke8 73.Tg6 Lg8 74.Tg5 Kf7 75.Txe5 Kxg7 76.Te7+ Kg6 77.Ta7 Tc1 78.Kd2 Tf1 79.Txa5 Txf3 80.Lxb4 Kf6 81.Lc3+ Ke6 82.Ld4 ist der technische Weg noch schwierig.] 73.Td5 1-0

 

   Der Wettkampf stand 4,5:0,5 - und es sollte noch besser kommen. Gegen die Französische Verteidigung spielte Judit Polgar ebenfalls ungewöhnlich zahnlos. In der - rückblickend betrachtet - vorentscheidenden zweiten Partie hatte Schirow bereits nach 20 Zügen seinen Angriff am Rollen. Als er in der letzten Matchpartie in Bedrängnis kam, konnte er sich auf die Stärke des Läuferpaars verlassen. Einzig die vierte Partie beim Zwischenstand von 3:0 brachte "Betonschach", als Schirow bewusst auf die Punkteteilung zustrebte - eine rationelle Entscheidung, um sich zwei Drittel des Gesamtpreisfonds von 100.000 US-Dollar zu sichern.

   Welche Schlüsse lassen sich aus dem Match ziehen? Berücksichtigt man Kasparows jüngste Einschätzungen zur gegenwärtigen Situation in der Weltspitze, die er bei seinem Prag-Besuch zur ersten Partie des als "Garri Kasparow präsentiert die EuroTel Trophäre" abgehaltenen Matchs gemacht hat, so muss einem bange werden, ob der Fixiertheit auf einen wahren Heilbringer. Aussagen wie die folgenden in Interviews mit "Lidové Noviny" und "MF Dnes" unterstreichen, dass er offenbar keine Entwicklung ohne sein persönliches Mitwirken erwartet: "Ich weiß, wie mein Name die Sponsoren anzieht."; "Ich sehe definitiv keinen Spieler, der mich in nächster Zukunft ablösen kann."; "Ich bin psychologisch an der Spitze und habe - auch physisch - eine bessere Kondition als die Jüngeren."; "Karpow ist für mich ein ‚wertvolles Stück Geschichte', aber die Jahre verrinnen und er ist nicht mehr so gut. Er gehört schon lange nicht mehr zur Weltspitze, nicht einmal mehr zu den Top Ten."; "Bislang sind Schachspieler isoliert und eine gesellschaftliche Randerscheinung. Ich will Schach zum gesellschaftlichen Mainstream machen."; "Schach ist ein Kammerspiel, das für die Zuschauer wenig attraktiv ist. Im Internet sieht die Sache attraktiver aus."; "Fußball oder Basketball können sie mit dem Computer nicht spielen, aber im Schach ist die Teilnahme von vielen Spielern möglich, was es für Sponsoren interessant macht."

   Was bedeutet eine solche Standortbestimmung für die nähere Zukunft? Außer Frage steht, dass Kasparow der weltbeste Spieler ist, doch nach Schirows Kantersieg ist dieser sicher zum Pulk der unmittelbaren Verfolger Anand, Kramnik und Morosewitsch zu zählen. Der Argumentation, Anand wäre - wegen seiner Siegesserie im Jahre 1998 - der prädestinierte Kandidat, kann entgegnet werden, dass dann Topalow in seinem großen Jahr 1996 der richtige Herausforderer gewesen wäre, oder dass Morosewitsch mit seiner Turnierbilanz Ende 1998/Anfang 1999 auch in Frage gekommen wäre. Ist Peter Leko nach seinem guten Abschneiden in Linares, Frankfurt und dem Sieg in Dortmund vielleicht kein würdiger Gegner? Sind Kramniks Erfolgsserien in Dortmund und Belgrad nicht ebenfalls ein Match wert? Oder hat Michael Adams, der regelmäßig ein Super-Turnier gewinnt, nicht auch eine Chance verdient? Wer ist wo für welche Sponsoren am interessantesten? Objektiv keine definitiv zu beantwortende Frage, so dass es letztlich wie vor dem Zweiten Weltkrieg darauf hinausläuft, dass der Titelträger seinen Herausforderer handverlesen aussucht. Hat aber nicht jeder Spielstil der potenziellen Kandidaten etwas Spezielles, was es an einem bestimmten Spielort für einen Sponsoren attraktiv macht, seine finanzielle Unterstützung zu geben? Kann ein medienerfahrener, eloquenter Peter Leko, der gerade einen fünfjährigen Sponsorenvertrag mit einem in Osteuropa tätigen deutschen Gasversorgungsunternehmen geschlossen hat, nicht auf ein vergleichbares Interesse bei anderen Geldgebern verweisen wie ein Viswanathan Anand, der durch seine Präzision und Schnelligkeit zum idealen Partner für das Match zwischen Mensch und einem Siemens-Computer in Frankfurt wurde? Sollte sich bei intensiver Suche in England kein Industrieunternehmen finden, das Michael Adams unterstützt oder haben die Spanier keine Peseten für ihren Tal-Nachfolger übrig? Wer soll zudem über das Gesetz zum Handeln verfügen, der Herausforderer, der die Finanzierung herbeibringen muss oder der Titelträger, der sich als das Zugpferd wähnt? So einfach sind die finanziellen Dinge längst nicht, und in Prag konnten Kasparow und die Sponsoren Serge Grimaux bzw. Bessel Kok - entgegen den Erwartungen - noch keinen Vollzug über das geplante Match mit dem Inder Viswanathan Anand vermelden.

   Betrachtet man die sportlichen Fakten seit dem letzten WM-Kampf Kasparows, so sieht die Bilanz gegen das mögliche Dutzend von WM-Gegnern in Turnierpartien seit 1995 bis Juni 1999 wie folgt aus:

 

Gegner

+

=

-

  Prozentsatz
Anand 5

6

0

72%

Kramnik 2 12 2

50%

Morosewitsch 1

0

0

100%

Schirow 4

4

0

75%

Gelfand 4

1

0

80%

Karpow 1

1

0

75%

Adams 4

1

0

80%

Iwantschuk 3

5

2

55%

Leko 1

3

0

62%

Topalow 5

8

1

64%

Short 2

3

0

70%

Swidler 2

3

1

58%

 

   Die Zahlen sprechen also am ehesten für Kramnik, Iwantschuk, Swidler und Leko, wobei eingewendet werden kann, dass diese Kandidaten relativ wenig Matcherfahrung in die Waagschale werfen. Doch wen muss Kasparow als zähesten Widersacher betrachten? Kramnik hat sich als schweres Kaliber erwiesen, und Iwantschuks Stil scheint dem besten Spieler aller Zeiten auch nicht besonders zu liegen. Swidler und Leko haben in den beiden vergangenen Jahren deutliche Leistungssprünge gemacht. Aber hat nicht Schirow vielleicht gerade jetzt das richtige Momentum, um die Herausforderung zu bestehen? In der Situation, um das erworbene Recht zum Titelkampf gebracht worden zu sein, mit der Stärkung eines überzeugenden Sieges gegen eine Angstgegnerin, könnte er - unter Berücksichtigung seiner Erfahrung in Zweikämpfen - genügend Energie aufbringen, um einen offenen Kampf auszutragen. In Prag wiederholte er jedenfalls seinen bekannten Standpunkt: "Aus meiner Sicht ist das geplante Match Kasparow - Anand eine ,inoffizielle Begegnung'. Ich hoffe, zu einem späteren Zeitpunkt auf ein Match, wobei ich mir durchaus eine Chance ausrechne." Und wohl wissend um die Bedeutung eines verbalen Vorgeplänkels fügte er hinzu: "Schach ist ein aggressives Spiel, es hängt vom Gegner ab, was für ein Stil zu Stande kommt." Ob er bereits weiß, welche Blutgruppe der herrschende König hat?

 

Ende der Reise in die Erinnerung

2001 - Schirows Aufstieg aus dem Tal der Tränen?

   2001 haben sich die Machtverhältnisse in der Schach-Hierarchie verschoben. Es herrscht unbestritten ein Triumvirat. Der Rest der Top Ten rotiert dahinter. Alexei Schirow büßte von Mitte 2000 innerhalb eines Jahres 40 Elo-Punkte und sechs Weltranglistenplätze ein. Inzwischen ist Kramnik Braingames-Weltmeister, Kasparow die Nummer eins der Bestenliste und Anand errang die FIDE-Weltmeisterschaft. Außergerechnet der seit kurzem mit der litauischen Spitzenspielerin Viktoria Cmilyte verheiratete Schirow konnte seiner neuen Flamme zu Weihnachten 2000 kein weltmeisterliches Geschenk überreichen, als er im Finale gegen den Inder mit fliegenden Fahnen unterging.

   Und hier liegt sicher eine Ursache seiner vergeblichen Anstrengungen. Während die Allerbesten entscheidende Partien ruhig anlegen, möglicherweise einen Tiebreak beim Knockout-Modus in Kauf nehmen, entspricht dies nicht dem Naturell des Spielers, der seine Partiensammlung sinnigerweise "Feuer auf dem Brett" betitelte. Er wählt selbst in turnierentscheidenden Partien lieber den kräfteraubenden Weg einer riskanten Opferorgie, die hohe Rechenintensität erfordert. Der Ritt auf dem Vulkan muss sein, auch wenn ein ruhiger Trab den Gegner eher aus dem Konzept gebracht hätte. Man erinnere sich an die zweite Partie des Viertelfinales im Glücksspiel-Eldorado Las Vegas 1999 gegen den Rumänen Liviu-Dieter Nisipeanu, als Schirow auf Teufel komm raus opferte, um dann nicht den Hebel zum Remis finden zu können. Gleiches widerfuhr ihm im Teheraner Finale zwei Jahre später. Gegen Anand brach mit einem übermotivierten Qualitätsopfer in der dritten Partie der Damm, just als es galt, weiterhin die Spannung des Einpunkterückstands auszuhalten, um in der zweiten Matchhälfte den Ausgleich zu suchen. Es ist dieses dauernde, niederschmetternde Drängen nach unmittelbarer Lösung eines offnen Gleichgewichtszustands: Lieber heute eine endgültige Antwort - wie auch immer -, als länger Ungewissheit ertragen. Was charakterisiert die knapp Gescheiterten ansonsten?

   Zwei Spieler kommen sofort in den Sinn: David Bronstein, der so nah am Ziel war, und Paul Keres, der mehr als drei Jahrzehnte vergeblich eine hohe Spielkultur konservierte. Bronstein - wie Schirow ein unbändiger Querdenker, der einen glanzvollen Opferreigen drei trockenen Positionssiegen vorzieht - machte seine Erfahrung bei der WM 1951 in der 23. Matchpartie: Jeder Schachkenner ist jener seltsamen Entwicklung gewahr, die zugleich das Dilemma eines Angriffsspieler eingrenzt. In einer Stellung, die sich ohne Zweifel in der Remisbreite befand, beging er einen unscheinbaren Fehler. Danach übte er Selbstkritik: "Es gab einzelne gute Züge und es gab vorsichtige Züge, aber es fehlte das Wesentliche - der Spieler, der all diese guten Züge zu einem Gesamtplan zusammenfügt." Der Angriffsspieler will den großen Wurf, das Gesamtkunstwerk statt das Puzzle aus positionellen Mosaiksteinen. Selbst wenn er die Steinitz'sche Doktrin der Anhäufung von kleinen Vorteilen zu würdigen weiß, erachtet er ein couragiertes Gesamtkonzept mit einer langen Kette kombinatorischer und positioneller Elemente als wichtigsten Bestandteil seines erhofften Siegeszugs - große Siege bedürfen großer Taten, lautet sein Motto. Keres unterlag nicht diesem Syndrom, aber er konnte seine Nerven in Schlussrunden nicht im Zaum halten. Gleich ob Gegner mit gleicher Spielstärke oder jemand, den er üblicherweise meist besiegen würde, die psychische Verfassung spielte ihm immer einen Streich. In vier Kandidatenturnieren gab es kein Mittel gegen dieses Phänomen. Der ewige Zweifel bleibt dem ewig Suchenden. Rational überzeugt kein Argument - ob es der Spielstil oder die Muss-Konstellation im Turnier ist: Der mit dem kleinsten denkbaren Abstand Gescheiterte findet keinen triftigen Grund, den er abstellen kann - einmal Don Quichotte immer Don Quichotte.

   Betrachtet man heute Schirows Koordinaten gegen das Führungstrio und Kasparows immer noch beeindruckende - wenn gleich etwas relativierte - Überlegenheit gegen die folgenden Spitzenspieler, dann zeichnet sich für den Rigaer kein Silbersteif am Schachhorizont ab. Seit der PCA-WM im Oktober 1995 bis zu Garri Kasparows letztem Turnier in Astana im Juni 2001 verschoben sich gegenüber der Bilanz im Juni 1999 die Resultate in Turnierpartien mit klassischer Zeitkontrolle wie folgt:

 

Gegner

+

=

-

  Prozentsatz
Anand 5 10 0

67%

Kramnik 5 28 4

49%

Morosewitsch 3

3

0

70%

Schirow 2

7

0

78%

Gelfand 9

7

0

79%

Karpow 2

2

0

75%

Adams 4

4

0

75%

Iwantschuk 3

6

2

55%

Leko 2

8

0

60%

Topalow 6

8

1

67%

Short 2

3

0

70%

Swidler 2

3

1

58%

 

   Die Dominanz des Weltranglistenersten ist ein wenig geringer geworden. Gegen Anand, Kramnik, Gelfand und Leko wird es für ihn schwerer, Siege einzufahren. Adams und Iwantschuk haben ihren Score nicht verschlechtert. Gleiches gilt für Short und Swidler - nur mit dem gravierenden Unterschied, dass sie nicht mehr in die gleiche Liga eingeladen werden. In den vergangenen beiden Jahren kreuzte man in keiner Turnierpartie die Klingen. Morosewitsch, Karpow und Topalow reichten in diesem Zeitraum die Hand für mindestens eine weitere Niederlage. Bevorzugtes Opfer bleibt aber Alexei Schirow, der immer und immer wieder abgestraft werden soll: Allein fünfmal erhielt er gegen Kasparow eine Null in die Turniertabelle eingetragen; dreimal reichte es zu einer Punkteteilung.

   Gegen die beiden anderen aus dem Führungstrio lief es völlig unterschiedlich. Im Zeitraum seit der PCA-WM 1995 erzielte Schirow gegen Kramnik in Turnierpartien eine ausgeglichene Bilanz (in 28 Partien gewann jeder sechsmal bei 16 Unentschieden), während er gegen Anand eine ähnlich deklassierend Bilanz zieht (sieben Niederlage stehen einem Sieg gegenüber bei zwölf Unentschieden).

   Doch Kramnik wird kaum der Gegner sein, den er um die Weltmeisterschaft fordert. Dieser wird sicher nicht an der FIDE-WM teilnehmen. Und nur zu dieser wird Schirow sich stellen, wie er am Rande seines Auftritts auf der Internationalen Funkausstellung in Berlin bekundete. Einerseits ist er in der Rangliste des privaten Verbandes derzeit nur auf Platz elf geführt, was bedeutet, dass er nicht einen vorberechtigten Platz erhielte, andererseits schloss er - selbst bei einer Startberechtigung - kategorisch aus, sich an diesem Zyklus zu beteiligen. Zu tief sitzt aus seiner Sicht der Dorn der Demütigung durch die K&K-Machenschaften. Bleibt also nur der jährliche FIDE-Wettstreit. Doch hier setzen sich nur jene Allround-Könner durch, die die Methode raus haben, wann riskantes Spiel erforderlich ist und wann einfach ein Warten auf Fehler des Gegenüber reichen. Die immer nach dem Optimum strebenden Schachbesessenen à la Schirow sind auch hier im Hintertreffen, wenn ihnen nicht gelingt, auch mal kontrollierteres Spiel einzuschlagen. Der gezeigte Sieg gegen Judit Polgar offenbart auch Schirows Standhaftigkeit in diesem keineswegs immer fehlerfreien Ansatz. Doch wird ihm dieser Weg auch gelingen, wenn es durch die Mühen eines fünfwöchigen Entscheidungsmarathons geht? Wird es möglich sein, die Methode des kämpferischen Untergangs zu unterdrücken, um kein zweiter Keres zu werden? Ein neuer Anlauf steht vor Weihnachten 2001 an. Dann sollte sich der Ausnahmekönner an ein Motto der TV-Anwältin Ally McBeal erinnern: "The more lost you are the more you have to look forward to." Dann klappt es vielleicht auch mit dem Titel - alle Kombinationsjünger hätten einen neuen Helden.

Der Text auf Englisch: http://www.chesscafe.com/text/skittles168.pdf


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