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Vereinigung unter Beschuss

Regelungen zur Zukunft der Weltmeisterschaft im Kreuzfeuer selbstherrlicher Machtansprüche

von Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, Juni 2002

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   Kaum ist die Tinte unter dem Prager Vereinigungsplan getrocknet, schon rücken neue Forderungen ins Zentrum der Diskussion. Alle voreiligen Lobpreisungen, dass eine Einheit gelungen sei, werden durch berechtige Forderungen und erweiterte Ansprüche widerlegt. Dies alles ist letztlich möglich, weil das Prager Gipfeltreffen kein offenes Forum zur Aussprache bot, sondern durch das Ausloten mehr oder weniger vorgefertigter Zugeständnisse gekennzeichnet war. Verdeutlichen muss man sich in jeder Bewertung die Auswirkungen der fünf niedergelegten Punkte für die Zusammenführung der Weltmeistertitel:
 

  1. Alle Top-Ten-Spieler im Zeitraum 2002/03 an den beiden WM-Zyklen zu beteiligen ist unmöglich. Allein die heftigen Reaktionen vieler Spitzenspieler machen diese simple Behauptung unglaubwürdig.

  2. Der Dortmund-Sieger spielt gegen Wladimir Kramnik; Garry Kasparow gegen Ruslan Ponomarjow. D.h. der ehemalige Spalter der Weltmeisterschaft bekommt einen Alleinherausfordereranspruch auf dem Silbertablett, während die Spitzenspieler, die der FIDE vertraglich treu gesonnen sind (allen voran Viswanathan Anand und Wassili Iwantschuk), ausgebootet werden. Andere Weltklassespieler interessieren den Verband aller Schachspieler momentan anscheinend überhaupt nicht.

  3. Das Vereinigungsmatch findet im Oktober/November 2003 statt. Dies wird allgemein akzeptiert, denn ab 2004/05 will man in den vereinten Zyklus einsteigen.

  4. Die FIDE "behütet" und "besitzt" die WM. Schon das allein ist ein grandioser Erfolg für Kirshan Iljumschinow, da die FIDE und ihr neues Aushängeschild Kasparow zuletzt auf den Vereinigungszug aufgesprungen sind.

  5. Ein Managementorgan wird eingerichtet. Bessel Kok legt nach 90 Werktagen einen Businessplan vor. Endlich werden bewährte Organisationsstrukturen aus anderen Spitzensportarten in Betracht gezogen. Hatte die FIDE im kommerziellen Sektor doch mehrfach Schiffbruch erlitten und die Privatschatulle des reichen Präsidenten musste herhalten.

 

   Die Gewinner sind offensichtlich: Kok hat sein Betätigungsfeld und steht unter organisatorischem und ökonomischem Erfolgsdruck, was für einen Mann aus der Wirtschaft keine neue Herausforderung darstellt. Iljumschinow sichert die rechtlichen Ansprüche des Weltschachverbandes und Kasparow, der sich überall ins Abseits manövriert hat, rückt plötzlich zwei Schritte vor den Gewinn des ihm abhanden gekommenen, höchsten Titels.

   Vor diesem Hintergrund spielten sich bereits kurz nach der "Vereinbarung" oder dem "Vertrag" von Prag - auch darin sind sich die Parteien nicht einig - Auseinandersetzungen ab, die eigentlich in eine öffentliche Aussprache gehört hätten. Nun werden die Argumentationsschlachten in einer Art unorganisierter Internet-Demokratie ausgetragen. Und hier kommen sehr unterschiedliche Vorschläge auf die Tagesordnung. Sie zeigen deutlich, welches Verständnis von neuen Machtstrukturen und dem Erhalt oder der Reform alter Positionen vorhanden ist. Alle Parteien - außer dem "Macher" Kok - meldeten sich zu Wort.

   Vorneweg - und noch gerade rechtzeitig mutig genug - kam der Fingerzeig der Personen, um deren Willen eine WM letztlich organisiert wird, nämlich der Elite-Großmeister, die nicht handverlesen mit wirtschaftlichen oder verbandsbezogenen Interessen paktieren. Bemerkenswert ist, dass sich in einem offenen Brief auf der "The-week-in-chess "-Internetseite sowohl Spieler mit Startplatz in Dortmund und "ausgeschlossene" Spieler zu Wort melden. Sie bekräftigen ihren uneingeschränkten Willen zur Vereinigung des höchsten Schachtitels, fordern aber, die Interessen möglichst vieler professioneller Spieler zu berücksichtigen. Sie mahnen einen angekündigten Ausschuss der Spielervertreter an, der sobald als möglich im Prozess der Aushandlung von künftigen Regelungen mitwirkt, und fordern demokratische Spielregeln ein - fast eine Selbstverständlichkeit, aber in diesem Macht- und Kompetenzwirrwarr durchaus nicht üblich! Die Liste der Spieler, die diesen Aufruf unterstützen, umfasst (in alphabetischer Reihenfolge): Wladimir Akopian, Viswanathan Anand, Jewgeni Barejew, Viorel Bologan, Rustem Dautow, Kiril Georgiew, Igor Glek, Alexander Grischuk, Artur Jussupow, Rustam Kasimdzshanow, Alexander Chalifman, Joel Lautier, Peter Leko, Christopher Lutz, Alexander Morosewitsch, Sergei Rublewski, Konstantin Sakajew, Alexei Shirov, Ilja Smirin, Emil Sutovsky, Peter Swidler und Vadim Swjaginzew. Man erkennt leicht, dass die Teilnehmer des Essener Schachfestivals ebenso präsent sind wie Berufskollegen aus der ehemaligen Sowjetunion, die per E-Mail auf kurzem Kommunikationsweg eingebunden werden konnten. Wassili Iwantschuk, Judit Polgar und Vesselin Topalow haben zwar in persönlichen Kontakten ähnliche Haltungen geäußert, sind aber für diese Resolution nicht in Reichweite gewesen. Insgesamt manifestiert sich der fast geballte Unmut der potenziellen WM-Kandidaten abseits von Kasparow und Kramnik. Die Einschätzung, dass die Anliegen der Betroffenen zu wenig einbezogen wurden, stützt auch der FIDE-Weltmeister Ponomarjow. Er meldete sich erstmals kurz vor dem Moskauer Schnellschach-Grand-Prix auf einer ukrainischen Internet-Seite zu Wort (in Englisch bei www.chessbase.com). Das Internet bildet heutzutage eben überall eine hilfreiche Kommunikationsbrücke. Der Jungstar war in Prag als einziger Spieler aus den Top-16 nicht am Start - vermutlich aufgrund von finanziellen Forderungen. Niemand sah sich darüber hinaus bemüßigt, ihn als Weltmeister wenigstens zur Diskussion um die Konditionen der Vereinigung einzuladen. Vielleicht geschah dies auch, weil man im Vorfeld ohnehin eine kurze Aussprache mit Bekanntgabe der weitgehend festgezurrten Punkte erwartete. Dass das Treffen dann statt der anvisierten zwei doch sechs Stunden dauerte ist Indiz, dass mehr unerwartetes Gerangel hinter den Kulissen stattfand und letztlich nur der kleinste gemeinsame Nenner gefunden wurde. Der jüngste Weltmeister aller Zeiten unterstützt die Haltung der Spitzenspieler: "Generell waren zu viele Funktionäre und zu wenig Spieler involviert." Er bedauert, dass "Superstars wie Anand, Grischuk oder mein Landsmann Iwantschuk in der jetzigen Situation allen Grund haben, wirklich, wirklich verletzt zu sein". Man ist geneigt, ihm diese Worte abzunehmen - einerseits vielleicht aus jugendlicher Ehrlichkeit, andererseits, weil es natürlich in seinem Interesse ist, dass sich viele "hungrige Wölfe" mit Kasparow balgen, bevor der FIDE-Herausforderer ihm gegenübersitzt.

   Das Statement der Großmeisterriege erfolgte zeitgleich mit einer dreiteiligen Veröffentlichung der Tagebuchaufzeichnungen von Yasser Seirawan auf der "ChessCafé"-Internetseite. Diese schildert minuziös den Prozess des Ansprechens und Vernetzens der unterschiedlichen Parteien in Verbands-, Spieler- und Sponsorenlagern nach. Mit seinem Argumentationspapier hatte der Amerikaner eine inhaltliche Ebene geschaffen bzw. mit Verhandlungsgeschick auf allen Seiten Vertrauen oder zumindest Verhandlungsbereitschaft für Absprachen erreicht. Ein bemerkenswertes Stück Diplomatiearbeit. Es folgten zwar viele Gespräche in kleinem Rahmen vorab und während der Prager Turnierwoche traf man sich immer wieder zu informellen Beratungsrunden in Hotelbars. Diese ersetzen aber nicht ein der Öffentlichkeit und geordneten Spielregeln verantwortliches Plenum, in dem Rede und Gegenrede Platz habe.

 

Schachdiplomat Yassar Seirawan

Schachdiplomat Yassar Seirawan: Strategisches Geschick auch jenseits der 64 Felder

 

   Und das Fehlen einer argumentativ nachvollziehbaren Aussprache ermöglichte es jenen Kräften, die selbstherrliches Auftreten als üblich erachten, in eine Machtprobe zu gehen. Iljumschinow hatte bereits in Prag deutlich gemacht, dass er mit dem "Verhandlungsschwergewicht" Kasparow eine Front gegen andere Interessen bilden kann. Der amtierende FIDE-Weltmeister wird besser nur mitverwaltet, Schulter an Schulter mit Kasparow kann man ökonomische Belange besser durchboxen. Sinnigerweise titulierte Ponomarjow den gebürtigen Bakuer als den "Mike Tyson des Schachs": "Er ist zwar nicht mehr Weltmeister, doch es ist eine Ehre, gegen ihn antreten zu dürfen."

 

Garri Kasparow

Garri Kasparow, der "Mike Tyson des Schachs", liebt es auch abseits des Brettes die Strippen zu ziehen

 

   Der Makel mit dem fehlenden Etikett "WM" soll aber möglichst bald beseitigt werden. Die unheilige Allianz zwischen FIDE-Präsident und Weltranglistenerstem holte am 30. Mai - kurz vor dem Moskauer Schnellschach-Grand-Prix - zum Gegenschlag aus. Zuvor ließ Kasparow über seinen Anwalt Owen Williams zehn Punkte verlautbaren, warum heuer ein neues Zeitalter heranbreche. Außer dass jetzt die FIDE statt seines früheren Privatverbandes PCA das Dach sein soll, unterscheidet sich kein Punkt von den Visionen, die er vor fünf und zehn Jahren proklamierte: Goldene Prosperitätsfantasien als neuer Wein in alten Schläuchen (siehe www.chessbase.de). Zudem hatte Iljumschinow in einem Interview mit "Sport-Express" (in Englisch auf www.kasparovchess.com) Mitte Mai geäußert, dass das Knockout-Format bestehen bleibt, dass vielleicht in einigen Jahren Zweistunden-Partien als klassisches Schach erachtet werden und dass die Idee des Commissioner-Büros noch einer Zustimmung durch die FIDE-Generalversammlung bedürfe. Doch nicht genug der rhetorischen Unterminierung der Prager Intentionen. Die FIDE und Kasparow zielen auf eine Degradierung des Einstein-Zyklus' und des Weltmeisters Kramnik. Vorgeschlagen wurde eine noch "exklusivere" Lösung: Kasparow, Kramnik und Ponomarjow tragen ein Dreierturnier über zwölf Runden aus, um zwei Kandidaten zu ermitteln, die unmittelbar darauf im Mai/Juni 2003 in einem Acht-Partien-Match den "geeinten" Weltmeistertitel ausspielen. Ab Oktober 2003 soll die erste Phase eines neuen Zyklus' mit sechs Qualifikanten (aus einem Knockout-Turnier von 96 Spielern) plus Anand, Iwantschuk, dem Dortmund-Sieger und dem Dritten des Auftaktwettbewerbs beginnen. Der Verlierer des WM-Matchs und der Weltmeister steigen in den folgenden Runden ein. Aber kurzum: Alles geschieht unter der Aufsicht der FIDE, ein professionelles Commissioner-Büro ist nicht erwähnt, Dortmund/Einstein liefern bei dieser Lösung bloß einen Wettbewerber zu!

   Die Reaktion erfolgte prompt und konnte ernsthaft nicht anders ausfallen. Einstein in Koalition mit der französischen Sponsorin Nahed Ojjed erklärte schon einen Tag später, dass der Einstein-Zyklus vollwertig existent bleibt. Vielmehr wird das Preisgeld von Dortmund um 50.000 Euro auf 300.000 Euro erhöht! Dies soll nach Angaben des Dortmund-Mitorganisators Carsten Hensel insbesondere den Spielern, die in der unteren Hälfte landen werden, die bessere Abdeckung ihrer Kosten für Sekundanten und Trainingscamps ermöglichen. Auch künftiges Engagement im Spitzen- und Breitenschach wird angekündigt. Kramnik unterstrich selbstverständlich seine unveränderte Haltung zu den Prager Beschlüssen.

   Was bleibt in der Bilanz? Die FIDE und Kasparow sind mehr denn je unberechenbare Größen, die diesmal im Stile einer Konterrevolution ausloteten, ob der Einstein-Zyklus möglicherweise in Finanznöten steckt. Ohne die Allianz des Digitalfernsehanbieters mit der französischen Geldgeberin eine berechtigte Frage. Aber die FIDE-Kasparow-Koalition ist selbst noch ohne Legitimationsbasis. Diese muss erst auf dem FIDE-Kongress bei der Olympiade im slowenischen Bled im November geschaffen werden. Daneben nutzte eine große Zahl von verprellten Super-Großmeistern die ihnen für eine Darstellung gegenüber der Schachöffentlichkeit momentan einzige Plattform, das Internet als basisdemokratisches Medium.

   Die neue Runde der Argumente verdeutlicht, dass die Prager Lösung nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Der Vereinigungsplan bleibt eine unbefriedigende Minimallösung! Jan Ehlvest schlug für die FIDE ein Format unter dem Motto "Dortmund 2" vor, um zumindest die erweiterte Weltspitze einzubeziehen. Bis dato hinkt die Beteiligung im FIDE-Zyklus deutlich derjenigen im Einstein-Zyklus hinterher. Jede Lösung mit mehr Teilnehmern auf Seiten der FIDE im anstehenden Zyklus kann deren Image aufpolieren, aber es darf bezweifelt werden, ob diese Horizonte in Kasparow'schen Lager und Kalmückien überhaupt vorhanden sind. Ein Tauziehen zwischen diesen Kräften und Kok wird bald folgen, denn der Eurotel-Chef weiß, das jede Neuorganisation an strikte Verantwortlichkeiten und Vollmachten gebunden sein muss - sonst ist das Commissioner-Büro von vornherein zum Scheitern verurteilt. Es steht derzeit nicht so gut wie gedacht um das Haus des Weltschachs. Vielleicht hätten die Prager Unterhändler allesamt einen Gang über die Karlsbrücke hoch zum Hradschin machen sollen. Dort sitzt der tschechische Staatspräsident Vaclav Havel, der 1990 beim ersten GM-Turnier in Prag nach der Samtenen Revolution als Schirmherr fungierte und dessen Ehefrau Dagmar diesmal die Eurotel World Chess Trophy eröffnete. In seiner Neujahrsansprache 1991 zog der Dichter und Staatoberhaupt in Personalunion eine frische Lektion aus der eben über Bord geworfenen Geschichte der Zwangsunterdrückung: "Machen Sie sich bitte klar, dass wir den einen schlechten Hausherrn schon entfernt haben, und wie sehr das Haus auch durch die Jahre seiner schlechten Herrschaft ruiniert worden ist, jetzt ist es unser Haus, und es liegt nur an uns, was wir daraus machen." Die Entscheidungsträger im Weltschach haben noch niemanden entfernt, aber sie sollten zumindest die Courage haben, allen ein Dach zu bieten.


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