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Wie eine kleine Andacht

Teimour Radjabov bereitet sich auf sein Sein unter der Schachelite vor

von Harald Fietz, Mai 2002

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   Tiebreaks sind spezielle Affären. Zudem wenn sie für das Publikum ungewohnt sind. Am sonntäglichen Auftakttag der großen Prager "Eurotel-Schnellschach-Messe" herrschte fast sakrale Feierlichkeit. Ermattet von vier spannungsgeladenen Stunden sammelten sich die Prager Schachfans im abgedunkelten Ballsaal unter gewaltigen goldnen Kronleuchtern. Dreimal musste die Entscheidung noch ausgefochten werden. Polgar - Ye, Leko - Sokolov und Adams - Radjabov waren bislang ebenbürtig. Während sich der Chinese gegen die Ungarin zurückgekämpfte, überstand der Bosnier gegen den Weltrangzehnten bei zwei Remis einige kritische Momente. Doch beeindruckt hatte in den Schnellpartien der Jüngste im Feld, der im März 15 Jahre alt gewordene Aserbaidschaner Teimour Radjabov. Zweimal hielt der Bakuer gegen den in zig Knock-out-Kämpfen stählern erprobten Engländer locker die Balance.

 

Teimour Radjabov

Teimour Radjabov - trotz jugendlichen Alter bereits konzentriert wie ein Routinier, (Foto: Archiv Harald Fietz)

 

   Nun rückte er von rechten Bühnenrand in die Mitte, um möglicherweise auch im Schnellschach seinen Ritterschlag zu erhalten. Würde er gegen den Favoriten mithalten können? Schnell fand man sich in der identischen Variante der letzten Begegnung wieder und im 31. Zug blitzte die Extraklasse des Weltranglistenfünften auf. Im Bruchteil einer Sekunde schlug es effektvoll auf e4 ein - sofort war jedem gewahr, dass es um war. Der Rest blieb tödliche Routine.

 










Radjabov,T - Adams,M [E12]
Eurotel Trophy (Blitz-Tiebreak, 1. Partie)

 

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sf3 b6 4.a3 La6 5.Dc2 Lb7 6.Sc3 c5 7.e4 cxd4 8.Sxd4 Lc5 9.Sb3 Sc6 10.Sxc5 bxc5 11.Ld3 0-0 12.0-0 d6 13.f4 h6 14.Dd1 Tb8 15.Le3 Te8 16.Tb1 a5 [In der zweiten Schnellpartie folgte zuvor: 16...La8 17.Lc2 e5 18.f5 Sd4 19.b4 cxb4 20.axb4 Sxc2 21.Dxc2 Dc7 22.Dd3 Tec8 23.c5 dxc5 24.Lxc5 Td8 25.De3 a6 26.Ta1 Db7 27.Tfe1 Tbc8 28.De2 Tc6 29.Ta5 Dc8 30.Taa1 Lb7 31.Kh1 Tc7 32.Tad1 Tcd7 33.Txd7 Txd7 34.De3 Tc7 35.h3 a5 36.Sb5 Td7 37.Sd6 Txd6 38.Lxd6 Sxe4 39.Lxe5 Dxf5 40.Df4 Dxf4 41.Lxf4 axb4 42.Tb1 Sf2+ 43.Kg1 Sd3 44.Ld2 Le4 45.Lxb4 Sf4 46.Tb2 1/2-1/2 Radjabov,T- Adams,M, Prag (Eurotel World Chess Trophy) 2002] 17.Sb5 e5 18.f5 Sd4 19.Sc3 Lc6 20.Tf2 Tb6 21.g4 Sh7 22.Tg2 Sg5 23.Tg3 Da8 24.Lxg5 [Nach 24.Sd5 Lxd5 25.cxd5 Teb8 26.h4 Sh7 27.Dd2 Tb3 erlangt Schwarz bequemes Gegenspiel.] 24...hxg5 25.Dd2 Dd8 26.Th3 De7 27.Se2 [27.Sd5 Mit 27...Lxd5 28.cxd5 Tb3 29.Te3 (Vorsicht Falle: 29.Dxa5? Se2+! 30.Lxe2 (30.Kh1 Sf4-+ ) 30...Txh3 31.Ld1 Db7-/+ ) 29...Teb8 30.Le2 Db7 kann Weiß auf gar nichts hoffen.] 27...Tb3 28.Sc1 Tb6 29.Dxa5 Db7 30.Dd2 f6 31.Te3 Lxe4! 32.Df2 [Natürlich nicht 32.Lxe4 Dxe4! ] 32...Lc6 33.h4 Sf3+ 34.Txf3 Lxf3 35.hxg5 fxg5 36.De3 e4 37.Lf1 De7 38.b4 De5 39.b5 Dg3+ 0-1

 

   Auch die anderen Begegnungen brachten Entscheidungen. Die First Lady des Schach erzielte entspannt mit Taktik einen leichten Sieg; ihr Landsmann wurde von Sokolov im Endspiel König, Dame und je drei Bauern am Königsflügel mit jeweils 15 Sekunden Restzeit ausgedrückt - grausames Schicksal für den Sieger des ersten Fide-Grand-Prix-Turniers in Dubai. Alle entschwanden in den VIP-Bereich hinter der Bühne - nur einer nicht: Radjabov verweilte im Fluidum der hell erleuchteten Arena.

 

Teimour Radjabov

In andächtiger Stimmung harrt das Jungtalent aus Baku auf die entscheidende Runde, (Foto: Archiv Harald Fietz)

 

   Bei seinem letzten bedeutenden Turnier, der Fide-WM in Moskau, war der inzwischen Weltranglisten-93. in der ersten Runde wegen einer kontroversen Blitzpartie am Esten Jan Ehlvest gescheitert. Ein Schiedsrichter hatte seinerzeit die Uhr falsch eingestellt. Ein halbes Dutzend von Schiedsrichtern sollte hier ein technisches Handicap verhindern können. Aber um den mentalen Rahmen zu schaffen, schien eine besondere Prozedur notwendig. Auch einige der Teilnehmer - insbesondere Wassili Iwantschuk und Iwan Sokolov - bevorzugten es, sich vorab am Brett in Stimmung setzen. Meist waren sie zehn Minuten vor Beginn da. Der derzeit jüngste Großmeister der Welt tigerte zunächst der Länge nach die Bühne hin und her - wie ein Gefangener in seiner Zelle. Die Gedanken sollten völlig auf diese Stunde und diesen Ort fixiert werden - da war das räumliche Abgrenzen gerade ein probates Mittel. Anschließend folgte - die Hände an die Stirn gekrallt - mutterseelenallein der meditative Part. Völlig gesammelt entging ihm selbst der angebotene Handschlag des Engländers. Dieser registrierte es, blieb aber Profi genug, sich nicht zu ärgern.

   Plötzlich waren alle zurück. Die Schiedsrichter zögerten den Start hinaus; alle im Raum kehrten in sich. Ein Gongschlag brach den abgeebbten Geräuschpegel. Die Magie einer möglichen Sensation blieb vorerst, obwohl die Zeremonie "Like a prayer" vorbei war. Im Remake des Madonna-Klassikers von der Gruppe "Madhouse" heißt es: "Life is a mystery. Everyone must stand alone." Genau das traf zu dieser Stunde auf die auf die Uhr hämmernden Top-Spieler zu. Doch es gelang dem jungen Himmelsstürmer nicht, ein Tollhaus auf dem Brett zu kreieren - trotz unkonventioneller Behandlung des Pirc mit Flankierung am Damenflügel und Aufzug des h5-Bauern. Ein Kaliber a la Michael Adams ist nicht so einfach zu verunsichern, denn er verfolgt stets eisern seine Schachphilosophie. Diese orientiert sich weniger an konkreten Varianten, als vielmehr an einem situationsbedingt aktiven Figurenspiel. Und genau hierin erteilte er eine Lehrstunde. Seine Läufer gelangten auf ihren besten Feldern, die Springer auf die aktivsten Posten - schon das stellte ein Drohpotenzial dar. Umgruppierungen gelten als die Stärke des Londoners. Die Türme verschwanden vom Brett und gleich der nächste Entlastungszug mit Sh7 stellte sich als Fehler heraus. Ein Bauer ging verloren, der König stand prächtig luftig. Erst kostete es eine Figur, dann eine zweite. Dazwischen lag eine lange Minute nach 36.Sg3, in der Schwarz an das Aufgeben dachte. Doch kampflose Resignation gab es nicht, so dass ein unbefriedigendes Dauerschach übrig blieb: Eine noble Geste aus der einen Sicht; identisch mit der Niederlage aus der anderen Perspektive. Aber man konnte sich nur fügen.

 










Adams,M - Radjabov,T [B06]
Eurotel Trophy (Blitz-Tiebreak, 2. Partie)

 

1.e4 g6 2.d4 Lg7 3.Sc3 d6 4.Le3 b6 5.h4 Typisch Adams - mit dem Sieg im Rücken kann unkonventionell auf kontrollierte Offensive geschaltet werden! 5...h5 6.Dd2 Lb7 7.Sh3 Sd7 8.Sg5 e6 9.Lc4 Sgf6 [9...De7 10.f3 a6 11.a4 Sgf6 12.Se2 d5 13.Ld3 dxe4 14.fxe4 c5 15.c3 Sg4 16.e5 cxd4 17.cxd4 Lxg2 18.Tg1 Ld5 19.Sc3 Lb7 20.0-0-0 Tc8 21.Kb1 Sxe3 22.Dxe3 Lh6 23.Sce4 Lxg5 24.Sxg5 Db4 25.Sxf7! Ld5 26.Sxh8 1-0 Westerinen,H- Wotulo,M, Siegen (Olympiade) 1970] 10.f3 d5 11.exd5 exd5 12.Ld3 0-0 13.Se2 Te8 14.0-0 c5 15.Sf4 Dc7 [Komplex wird es nach 15...c4 16.Sxf7 De7 17.Lxg6 Dxe3+ 18.Dxe3 Txe3 19.Sd6 Lh6 (19...Tb8 20.Sf5 Tee8 21.Lxe8 Txe8 22.Tae1 Txe1 23.Txe1 ist im Sinne von Weiß.) 20.Sxh5 Sxh5 21.Lxh5 Sf6 22.Lg6 Kg7 23.h5 mit unklarem Ausgang.] 16.c3 Te7 17.Lf2 Tae8 18.Tae1 Txe1 19.Txe1 Txe1+ 20.Lxe1 Sh7 [Offen blieb die Begegnung nach 20...Lh6 21.Lg3 Dd8 22.De3 , doch Schwarz hat nichts davon, dass Weiß bequem steht. Daher das Vabanque-Spiel mit offenen Linien und Diagonalen.] 21.Sxh7 Kxh7 22.Sxh5 Lh6 23.De2 Dd8 24.Lg3 Kg8 25.Sf4 cxd4 26.cxd4 Df6 [Hier gewinnt 26...Lxf4 27.Lxf4 Dxh4 zwar den Bauern zurück. Doch das Läuferpaar hat, was es braucht.] 27.De8+ Sf8 28.De5 Dc6 29.Se2 Se6 30.Db8+ Lc8 31.La6 Sf8 32.Dxc8 Da4 33.Kh2 Dxa2 34.h5 gxh5 35.Lf4 Lg7 36.Sg3 Soll Schwarz den König umlegen? 36...Dxb2 37.Sf5 Df2 38.Dd8 Lxd4 39.Sxd4 Dxd4 40.Ld6 Kh7 41.Dxf8 Dh4+ 42.Kg1 Dd4+ 43.Kh2 [Natürlich ging 43.Kf1 Dd1+ 44.Kf2 Dd2+ 45.Le2 Dd4+ 46.Kg3 , aber Adams wählt immer den sicheren Hafen.] 43...Dh4+ 44.Kg1 Dd4+ 1/2-1/2

 

   Auch an den Nachbarbrettern gibt es Punkteteilungen. Zwei Favoriten weiter, eine kleine Überraschung durch den Bosnier perfekt. Zurück bliebt ein gefasster Jüngling, der heuer die Segel streichen musste. Doch um eine Erfahrung reicher scheint es absehbar eine Frage der Zeit, wann er seine Fähigkeit zur Sammlung der Kräfte optimaler nutzen wird. Mit dieser Ernsthaftigkeit und dieser Bereitschaft, willensstark zu sein, ist der Weg vorgezeichnet. Noch blieb nur der Applaus, aber das kann sich schnell ändern. Vor zwölf Monaten war er nicht einmal ein Großmeister - nun ist er bereit, in der Schachhierarchie zu klettern. Wann werden wohl die arrivierten Spitzenspieler mit Stoßgebeten beginnen?


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