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Kasparow wieder im Boot

Prager Vereinigungsgipfel zur Schachweltmeisterschaft zwischen Jubel und Trubel

von Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, Mai 2002

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   „Und sie bewegt sich doch," jubelte Galileo Galilei im 17. Jahrhundert bei der Erkenntnis, dass die Erde eine Kugel ist. Ähnlich epochal fühlte sich die Schachwelt beim Gipfeltreffen der Funktionäre und Spitzenspieler am Tag nach der Eurotel World Chess Trophy in Prag. Was wie das Hornberger Schießen hätte ausgehen können, produzierte einen auf den ersten Blick praktikablen Kompromiss. Kein geringeres Thema als die Überwindung der zehnjährigen Spaltung stand am 6. Mai 2002 auf der Tagesordnung. Doch wie es mit großen Friedensabkommen so ist, man muss genau hinter die Buchstaben schauen und neue Aussagen mit alten Interessenskonstellationen abgleichen.

 

Interessen

   Um den Verhandlungstisch gruppierten sich Akteure, die aus höchst unterschiedlichen Wahrnehmungen Ansprüche auf ein Mitwirken am Vereinigungsprozess ableiten:

   Die FIDE proklamiert jederzeit den Alleinanspruch auf die Ausrichtung der Schachweltmeisterschaften. Nunmehr sieben Jahren steht an ihrer Spitze Kirshan Iljumschinow, der seit 1993 Präsident des in der russische Föderation autonomen Gebietes Kalmükien ist, welches mit einer Bevölkerung von 320.000 etwa der Einwohnerzahl von Bielefeld gleichkommt und flächenmäßig etwas größer als der Freistaat Bayern ist. Der Staatshaushalt des seit 1990 von Moskau wirtschaftlich weitgehend losgelösten, autokratischen Regimes finanziert sich vor allem aus Förderlizenzen für Erdöl und Erdgas. In seine Schach-Amtszeit fallen revolutionäre Veränderungen (die Einführung des Knockout-Modus ab 1997/98 und die Anwendung einer drastisch verkürzten Bedenkzeit ab 2001/02). Einige Ideen floppten, wie z. B. die Kommerzialisierung des Weltschachverbandes durch Zwangsmitgliedschaft an einem FIDE-Kreditkartensystem. Preisgelder musste der erste Mann des Weltschachbundes regelmäßig aus eigener Tasche zahlen; ausgelobte Gewinnsummen wurden - wie kürzlich beim FIDE-Schnellschach-Cup in Dubai - reduziert. Ein gewisser Prozentsatz (meist 20%) der WM-Fonds ging an die World Chess Foundation für die Verwaltung der WM. Ihr Vertreter Alexei Orlov saß in Prag mit am Tisch.

   Die Londoner Einstein-Gruppe, eine 1999 gegründete Firma im Bereich Multimedia und digitales Fernsehen, übernahm die Verwertungsrechte an der "privaten" Weltmeisterschaft von Intellectual Leisure, das die früheren Braingames-Anteile hielt. Ende 2000 installierte jener Ausrichter von Denkspielen Wladimir Kramnik als ihren Weltmeister, nachdem dieser Garri Kasparow in einem Match in London mit 8,5-6,5 besiegte. Die Einstein-Gruppe hat seit Januar 2002 einen Fünfjahreskontrakt mit dem Weltranglistenzweiten, der alle Vereinbarungen zum Mensch gegen Maschine-Match ("Brains in Bahrain"), dem Qualifikationsturnier in Dortmund und dem WM-Finale umfasst. Insbesondere mit der Sparte Einstein-TV soll Schach - wie auch die Brettspiele Go, Chinesisches Schach, Shogi, Backgammon und Dame - entweder über subskribierbare oder über werbefinanzierte Fernsehkanäle zur Einnahmequelle werden. Auch Blitzschachmatche auf den Bildschirm werden erwogen. Erst am 25. April 2002 legten die Engländer einen eigenen Vereinigungsvorschlag vor. Man benannte - in Kooperation mit der französisch-syrischen Milliardärswitwe Nahed Ojjeh - auch Finanzen für einzelne Wettbewerbe.

   Bessel Kok war Anfang der 70er Jahre Mitgründer des Brüsseler Finanzdienstleister S.W.I.F.T., der weltweit neue Telekommunikationsstrukturen im Bankwesen schuf. Nach fünfjähriger Tätigkeit bei Belgacom ist er seit 1995 für die Privatisierung von Cesky Telecom mitverantwortlich, zunächst bis 1998 als Vorstand bei TelSource, dem niederländisch-schweizerischen Hauptpartner der Tschechen, und seither als Leiter des operativen Geschäfts direkt in Prag. Bereits in den 80er Jahren hatte sich der in Hilversum geborene Niederländer durch die Ausrichtung wichtiger Turnier sowie seinen Posten als Vorsitzender der Spielergewerkschaft GMA in der internationalen Schachszene Renommee erworben. Die Mobilfunksparte Eurotel von Cesky Telecom hat seit 1998 auch das Spitzenschach in seine Sponsoraktivitäten aufgenommen. Vor dem Schnellschachstelldichein organisierte der aus Kanada stammenden Serge Grimaux und sein Partner Robert Porkert bei Interkoncerts, dem führenden Konzertveranstalter der tschechischen Metropole, bereits drei Schach-Events mit. Dies geschah in Liaison mit Garri Kasparow bzw. dessen Kasparowchess.com-Internetportal (1998 Match Kasparow gegen Timman, 1999 "Trostmatch" Schirov gegen Polgar und 2001 Uhrensimultan Kasparow gegen das tschechische Nationalteam),

   Yassar Seirwan ist ein ebenso geschäftstüchtiger wie innovativ-umtriebiger Großmeister aus Seattle. Er produziert seit 1988 die Zeitschrift "Inside Chess" die inzwischen als Druckausgabe eingestellt wurde und rudimentär auf www.chesscafe.com weiterlebt. Außerdem gründete der 42-Jährige den Buchverlag International Chess Enterprise mit und gab bei Microsoft Press eine Lehrbuch-Reihe heraus. Er und seine Frau Yvette Nagel, in Hilversum geborene Mädchenmeisterin der Niederlande 1981 und Pressefrau bei Weltmeisterschaften, Kandidaten- und bedeutenden Turnieren, sind beide bei der Seattle Chess Foundation aktiv, die im Nordwesten der USA die Popularisierung des königlichen Spiels in den Schulen propagiert. Das Ehepaar Seirawan war in alle vier Eurotel-Veranstaltungen organisatorisch eingebunden. Auf der Internetseite ChessCafe lancierte der vierfache amerikanische Meister Ende Februar 2002 unter dem Titel "Neuanfang" ("A fresh start") einen detaillierten Vorschlag für eine Vereinigung und künftige Organisation der Weltmeisterschaft.

   Die Top-Großmeister formieren die heterogenste Fraktion. Alle 32 Teilnehmer hatten Kost und Logis bis nach dem Gipfeltreffen frei. Aber einige Spieler reisten nach ein paar Tagen nach dem schachlichen Aus oder unmittelbar ab (u.a. Iwantschuk, Schirow, Leko), andere gingen mit wagen Hoffnungen hin (u.a. Adams, Polgar, Jussupow, Karpow), andere blieben in der Stadt, aber dem Treffen fern (u.a. Anand, Topalov, van Wely). Schließlich kamen einige Großmeister neu an (z.B. Zurab Asmajparaschwili, der bekanntlich auch Mitglied im Vorstand der Europäischen Schachunion und Präsident des Georgischen Schachverbands ist). In dieser Gruppe dominierte schon während der Turnierwoche Garri Kasparow als Wortführer und (Geheim-)Diplomat in eigener Sache.

 

Garri Kasparow

Geheimdiplomat Garri Kasparow - zwischen der Macht der Kombination und der Macht der Resolution

 

Vorschläge

   In Prag konkurrierte das Lager Kok-Seirawan-Kasparow mit dem Lager Einstein-Ojjeh-Kramnik. Anregungen zur Beteiligung der unmittelbaren bzw. erweiterten Weltspitze kamen von Alexei Schirow und Alexander Chalifman (inklusive einer vielbeachteten Überlegung zu einem Doppel-Eliminationsmodus beim Knockout-Format). Die FIDE erklärte sich im April bereit, am Aushandelprozess teilzunehmen.

   Seirawans "Neuanfang-Papier" geht von drei Prämissen aus:

  1. die Spaltung verhindert die effektive Suche nach Sponsoren;

  2. das Knockout-Format ist eine "Lotterie" und einer WM unwürdig;

  3. die Schachweltmeisterschaft bedarf der klassischen Bedenkzeit von sieben Stunden maximal.

   Er bringt folgende Ideen vor:
 

   Diesen Vorschlag konterte die Einstein-Gruppe mit Unterstützung von Frau Ojjeh, die alle genannten Preisgelder (in US-Dollar) zur Verfügung stellen will. Die wichtigsten Punkte in ihren "Großen Plan für eine neue Schachwelt" sind:
 

   Beiden Vorschlägen ist gemein, dass zumindest die Top Ten dabei sein sollen. Kasparow, Anand und Iwantschuk sind - genau wie FIDE-Weltmeister Ponojarow - nicht für Dortmund gemeldet. Im Sinne einer ausgewogenen Aufteilung auf die WM-Zyklen gehören sie - wie die Organisatoren von Dortmund insistieren - in den Verantwortungsbereich der FIDE. Bis auf Kasparow haben sie Kontrakte mit dem Weltschachverband. Vor diesem Hintergrund gestaltete sich das Prager Tauziehen.

 

Ergebnisse

   Heraus kam ein Einseitenpapier mit den Unterschriften von Iljumschinow, Kok, Kasparow, Kramnik, Seirawan und Orlov. Bemerkenswert ist, dass Garri Kasparow als eigene Partie anerkannt wird. Daneben gibt es die "einfachen" Großmeister (offizieller Wortlaut!). In einem Interview am 12. Mai auf seiner Kasparowchess-Internet-Seite wird offenkundig, dass er für deren Belange kein Interesse hat, sondern einzig moniert, dass sie nicht kapieren, warum eine solche Lösung notwendig wurde. Der von ihm akzeptierte Einigungsplan erkennt folgende Sachverhalte an:
 

  1. alle Top-Ten-Spieler im Zeitraum der Wiedervereinigung zusammen zu bringen ist unmöglich;

  2. der Dortmund-Herausforderer spielt gegen Kramnik, Ponomarjow gegen Kasparow;

  3. das Vereinigungsmatch findet im Oktober/November 2003 statt;

  4. die FIDE bleibt "Hüterin" und "Besitzerin" der Weltmeisterschaft;

  5. ein Managementorgan wird eingerichtet. Hierzu legt Kok innerhalb von 90 Werktagen einen Businessplan vor.

   Bedenkt man die detaillierten Vorschläge, so ist das dünne Ergebnis ein Schlag ins Kontor. Ein solches Resultat kann nur zustande kommen, wenn keine Notwendigkeit gesehen wird, einen breiten Willensbildungsprozess zu etablieren, sondern primär eigene marktwirtschaftliche Faktoren die Orientierung bilden. Aus anderen Bereichen (z.B. den Weltumweltgipfeln) hätte man sich erprobte Prozedere und Arrangements - mit Vorkonsultationsgruppen und Willenbildungsforen vor Ort - abschauen können. Damit wären wesentlich konsensorientierter Stakeholder-Interesse (Spielern, Verbände, Organisatoren, Sponsoren usw.) einbezogen. Letztlich setzten sich nur Partikularinteressen durch. Laut Pressestatement Anands übermittelte ihm Seirawan am Tag des Turniersieges, dass Kasparow sein Match bekommt. Man werde nicht mehr diskutieren. Der Inder blieb daher dem Treffen fern. Das Argument, dass man die Top Ten im geplanten Zeitfenster nicht zusammenbringen kann, ist schlicht eine Farce. Außer dem Einstein-Vorschlag lagen auch andere Optionen mit größerer Beteiligung parat, kamen aber nicht zum Zuge. Zu einer Alternative führt Artur Jussupow auf www.chessgate aus: "Einmal ist natürlich diese Idee des sog. Doppel-K.O.-Systems, ähnlich wie schon beim Schnellschach-Event in Dubai praktiziert, sehr gut geeignet eine gerechte Qualifikation durchzuführen. Die Idee stammt übrigens von Chalifman. Man hätte z.B. 64 Spieler in diesem Modus spielen lassen können, bis nur noch vier oder fünf Spieler übrig sind. Dann wären die vorqualifizierten Spieler wie Anand, Ponomarjow und Kasparow (und evtl. Ivantschuk, je nach Modell) hinzugestoßen und hätten ein doppelrundiges Weltmeisterschaftsturnier gespielt. Gleichzeitig wäre Dortmund und das dortige finale Match gespielt worden. Und zum krönenden Abschluss dann die jeweiligen Sieger gegeneinander." Das schnelle Zurückweisen verurteilt - nach vielfältigen Reaktionen anderer Topspieler - auch Kramnik - ironischerweise auf Kasparows Internet-Seite: "Ich denke, es lief undemokratisch und falsch. Sie hätten versuchen müssen, so viele Spieler als möglich einzubeziehen. Und es gab eine Möglichkeit: die Spieler selbst haben eine System erarbeitet, in welchem es als erste Stufe ein Elimination-Turnier gegeben hätte." Konkrete Lösungen wollte die Kok-Kasparow-Seite aber keineswegs, denn es war ein reiner Machtgipfel.

   Kasparow steigt deus ex machina zum FIDE-Anwärter herauf. Genau die Gegner, die ihm gefährlich werden könnten, sind ausgeschlossen. Der Sieger von Prag ist der Verlierer von Prag: Anand bleibt - ebenso wie Iwantschuk - ohne Berücksichtigung.

 

Viswanathan Anand

Der Sieger als Verlierer: Viswanathan Anand

 

   Die FIDE bzw. ihr Präsident ist mühelos die kostenträchtige WM los. Alle Argumente pro neuer Bedenkzeit, Attraktivität des Knockout-Modus, eigener Vermarktungsbestrebungen wurden - wenn sie denn überhaupt zutreffend waren - prinzipienlos über Bord geworfen. Zur Zukunft eines Schnellschach-Grand-Prix und einer Blitzweltmeisterschaft bezog man keine Stellung. Ohnehin ist die FIDE unter dem Kuratel von Iljumschinow eine unberechenbare Größe. Eine knappe Woche nach der Prager Elefantenrunde pries er im Grußwort zum 125-jährigen Bestehen des Deutschen Schachbunds (DSB) in Leipzig die neue Einigkeit unter den führenden Schachspielern. Die Internet-Seite des Weltschachverbandes bleibt - im Gegensatz zu anderen öffentlichen Foren - ein Hort der Schweigsamkeit. Keine Aussage ist bisweilen auch eine Aussage.

   In welcher Form Kok als momentaner Monopolist über die Struktur der künftigen Zyklen Ideen von anderen Weltklassespieler einbezieht ist unklar. Regelungen zur Damenschach-WM wurden überhaupt nicht erörtert. Welche Rolle Einstein-TV zufällt bleibt ebenfalls offen. Gleiches gilt für den Einfluss und das Geld aus Frankreich.

   Der Prager Gipfel hat letztlich nur dazu gedient, Aktionsfelder abzustecken bzw. bestimmte Akteure in Position zu bringen. Kramnik, der von sich behauptet, die meisten Zugeständnisse gemacht zu haben, unterstreicht das: "... es ist zu früh, von einer Vereinigung zu sprechen. Nur einige Rahmenbedingungen wurden in Prag festgelegt. Was folgen wird, ist ein langer, zäher Verhandlungsprozess, aus den ich mich fernhalten werde. Das ist nun das Problem von Bessel Kok und der FIDE. Ich hoffe, der gesamte Ablauf wird demokratisch sein." Mit welchen Perspektiven kann jetzt die "Einheit" ausgestaltet werden?

 

Perspektiven

   Ein beeindruckendes Statement kam in den Tagen nach dem vermeintlichen Durchbruch von Serge Grimaux. Auf Kasparows Internetforum meinte er: "Ich liebe Schach. Mein Ziel ist, dass wir eines Tages soweit sind, dass Kinder sich das Bild von Garri Kasparow an die Wand hängen, so wie sie es heute mit Poster von Michael Jordan machen." Eine prächtige Vision - nur leider ungefähr zehn Jahre zu spät. Jeder Kenner der NBA oder anderer populärer Sportarten weiß inzwischen, dass die Orientierung auf den einen Überflieger nicht zeitgemäß ist. Zwar ist "His Airness" ein Maß der Dinge, doch das professionelle Business der Körbe baut längst auf die Vielfalt der Stars. "Shaq-Attack" Shaquille O'Neal und Kobe Bryant sind Megastar wie auch "Air Canada" Vince Carter, Reggie "Killer" Miller, Allen "The Answer" Iverson oder "The German Wunderkind" Dirk Nowitzki und viel andere. Kurzum: Wer breites Sponsoring generieren will, baut nicht nur auf einen Superstar, sondern etabliert - sicher auch um eine überragende Persönlichkeit herum - eine Mischung aus erfahrenen Helden, hungrigen Emporkömmlingen und originellen Könnern, die die Chance erhalten, ihre Fähigkeiten auf höchstem Level zu zeigen. Schach hat, das haben die Duelle auf den 64 Feldern in Prag wiederum gezeigt, das Potenzial weltweit auf mindestens 30 - 50 Spieler zu bauen, die internationales, kontinentales oder nationales Interesse abdecken. Sicher nicht ohne Bedacht, war die Spielerauswahl in Prag nach geographischen Gesichtspunkten erfolgt. Aber dieser Herkunftsproporz ist nicht der einzige Imagefaktor. Basketball lebt von Typen, Schach muss sie aufbauen. Neue Schachnationen wie Indien und China, überdurchschnittliche Könner am Übergang von Adoleszenz zum erwachsenen Spieler wie Radjabov und Grischuk, erfahrene Praktiker wie Iwantschuk und Chalifman, Spieler im Reifungsprozess wie Swidler, Smirin und Drejew, die weltbeste Frau Judit Polgar oder selbst die Überraschung von Prag, der 51-jährige Anatoli Karpow, eignen sich ohne Zweifel für Publikumsinteresse, um mit passenden Marketingstrategien und ausreichend PR, eine Medienaufmerksamkeit zu erzielen, die einen Return-on-Invest anstrebt. Sie alle bleiben beim Status quo bis mindestens 2005 von Zugriff auf den höchsten Titel ausgeschlossen. In Prager Frühling 2002 wird wesentlich nur auf die eine russische Wunderwaffe, nämlich Kasparow, gesetzt.

   Am 26. April klagte Einstein-Direktor Steve Timmins in einer Pressemitteilung über machiavellistische Kräftekonstellationen, die - ähnlich wie im Boxsport - eine Blockade darstellen, um bei Sponsoren mehr Appeal auszulösen. Zwar wurde rhetorisch viel guter Wille ausgestreut, aber die Positionierungsrankünen im World-Wide-Web legen offen, dass Unzufrieden übriggeblieben ist. Die flirrende Schachatmosphäre der Schnellschachwoche im Palais Zofin hätte besser genutzt werden können. Ganz nach Konrad Adenauers Grundsatz orientierte sich aber ihr Zugpferd am Motto "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern." Viele hätten von einem seriösen Einheitsstifter wie Kok eher hier und heute ein befreiendes Wort im Geiste Willy Brandts anno 1970 erwartet: "Mehr Demokratie wagen!" wäre das bessere Schlagwort für einen Neuanfang gewesen. Das mag kommen, aber scheinbar müssen noch weitere Jahre oligarchischer Herrschaft vergehen.

   Doch die Strategen der neuen Ordnung bringen eine Qualität mit, die Erfolg versprechen. Sie kennen die Denk- und Wahrnehmungsmuster finanzstarker Wirtschaftsführer. Diese interessieren sich wenig für schachinternes Gezänk - mag es auch mit gutem Grund stattfindet. Im Schlepptau der professionellen Macher, die geldgeberfrohlockende Medienpräsenz und Fernsehminuten verheißen, weiß sich nicht nur der Turnierkönig wohl aufgehoben. Blickt man allein auf die traurige Situation des DSB, der - abgesehen von den robusten Insidern vorbehaltenen mitternächtlichen WDR-Sendungen - bereits 17 Minuten und 13 Sekunden Gesamtfernsehberichterstattung in 2001 bei ARD, ZDF und allen dritten Programmen einer Presseveröffentlichung wert befand, dann zeigt sich, dass Prag möglicherweise die Plattform für einen Quantensprung bereitet hat. Die Messlatte liegt - angesichts der deutschen Realitäten - nicht sehr hoch und die Idealaufnahme, dass ein K&K-Duo erneut marschiert, ist in realistischer Reichweite.

   Über Konturen und Details des Businessplans zu spekulieren ist müßig, denn der Auftrag ist erteilt und in 90 Werktagen wird ein konkreter Blick notwendig. Die meisten Großmeister flüchten sich momentan in ein Hauptssache-es-bewegt-sich-überhaupt-was. Als Quintessenz bleibt, dass es auch bei den Unzufriedenen von Prag redliche Argumente gibt und dass der Arbeitsstab von Bessel Kok die Chance hat, - nachdem er seinen wichtigsten Steuermann im Boot habt - viel und viele mit an Bord zu nehmen. Der 6. Mai 2002 wird vielleicht als denkwürdiger, aber keineswegs als historischer Tag in die Schachgeschichte eingehen.


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