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Sie kauern und sie lauern

Wenn Schnellschachzauberer Magie verbreiten

von Harald Fietz, Fotos Archiv Harald Fietz, Mai 2002

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   Man kann Schach aus begründeten Überlegungen meiden, wie es vergangenes Jahr der Schriftsteller Patrick Süskind gegenüber den Organisatoren der Chess Classic Mainz tat: "Zum letzten Mal habe ich vor zwanzig Jahren gespielt (und verloren) und dabei empfunden, was mich seither vom Schachbrett fernhält: Herzjagen, Schweißausbrüche, Panikattacken. Ich halte das Spiel in der Tat für aufregender und gefährlicher als Boxen, Formel-eins-Rennen oder Stierkampf, und will meine Gesundheit keinesfalls mehr einer solchen Gefährdung aussetzen."

   Man kann Schach - und speziell das Schnellschach - aber aus einsichtigen Argumenten reizvoll finden, wie vor zwei Jahren Artur Jussupow im Turnierbuch der Frankfurt Chess Classic 2000 ausführte: "Initiative spielt im Schnellschach eine noch größere Rolle als im klassischen Schach. Es ist einfacher anzugreifen, als in der kurzen Zeit alle gegnerischen Drohungen zu parieren. Auf jeden Fall wird aggressives Vorgehen häufiger belohnt als bestraft."

   Bedachte künstlerische Zurückhaltung gegen rasantes sportliches Vorwärtsdrängen. Bei der Eurotel World Chess Trophy in Prag setzten sich 32 der besten Könner mit der zweiten Option auseinander. Gesundheitliche Beeinträchtigungen sind nicht bekannt geworden, exerziert wurde Schnellschach der Extraklasse. Emotionen zeigen sich im Zeitraffer. Das gesamte Repertoire an Mimen, Gesten und Haltungen findet seine Bühne. Der permanente Zyklus von Idee - Kalkulation - Abwägung - Exekution - Reaktion führt Regie beim Wechsel der Gefühlswallungen. Die Akteure sind sich des Stresses bewusst, überwiegend lieben sie ihn, vermeiden können sie ihn nicht. Im Konzert der Großen will auch bei dieser Spielform fast keiner fehlen. Der direkte Kontakt zum Schachfan in vollen, mitfiebernden Spielsälen schlägt selbst die Elitegroßmeister wieder und wieder in Bann. Ausgeschiedene Spieler halten sich nicht nur im abgeschotteten VIP-Bereich auf, sondern saugen neben Varianten gerne im halbdunklen Zuschauerraum das Flair des königlichen Spiels in Highspeed ein. Im Scheinwerferlicht geht der aufreibende Job - bewusst oder unwillkürlich - mit einer breiten Palette von Gesichts- und Körperregungen einher. Befindlichkeiten treten mehr oder weniger sichtbar an die Oberfläche, während die Denkakrobaten sich in die Partie furchen, sich anstacheln, sich im Variantenwirrwarr versenken und darum ringen, die optimale Zugfolge zu finden. So unterschiedlich die Charaktere, so vielfältig die erkennbaren Wandlungen im Auf und Ab des Partieverlaufs. Einige spezielle Typen lassen sich ausmachen.

   Die Nummer eins der Weltrangliste ist eigentlich wegen seiner Grimassen und dem Kopfschütteln bekannt. Aber diese vordergründigen Ausdrucksformen passieren nur in entscheidenden Partiephasen. Zudem weiß man nie, ob vielleicht ein Bluff vorliegt. Kasparow neigt generell zur Extroversion, die Bewegungen in seinen Begegnungen sollen auch eine gewaltige, physische Präsenz verdeutlichen. Ziemlich offensichtlich unterstreichen sie seine ungeheuere Willenskraft und das scheinbar grenzenlose Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Ob mit den Händen an der Stirn vorne übergelehnt, den Kopf fest in die flachen Handflächen gepresst, schnaubend vor dem Brett aufgestützt die Hände verkrallt oder eine Pranke an den Mund geklemmt, er will dem Gegner stets seine ganze Entschlossenheit entgegenschleudern. In dieser Hinsicht kann dem expressiven Kraftstrotz an Außenwirkung keiner das Wasser reichen.

   Der ihn auf dem WM-Thron entzaubernde Wladimir Kramnik ist selten zu solchen sanguinischen Ausbrüche fähig; sein Gestus ist sparsam introvertiert. Manchmal wirkt er gar ein wenig phlegmatisch, aber das Zusammenspiel der Figuren dynamisiert sich trotzdem regelmäßig zu leichtfüßig daherkommenden Siegen. Aus scheinbar ruhigen Stellungen zaubert er unparierbare Gefahren. In Prag gelingt ihm das aber nur gegen den Tschechen Zbynek Hracek. An Urgestein Anatoli Karpow beißt er sich die Zähne aus. Gleichwohl sieht er dem Geschehen reserviert entgegen: Aufrecht mit kerzengeradem durchgedrücktem Kreuz harrt der bald 27-Jährige die meiste Zeit mit gefalteten Händen auf die Entwicklung der Position. Nur manchmal zeigt sich ein Versinken in Stellungsbewertungen nach außen; dann umschließt er mit v-förmig angewinkelten Händen die Wangen. Angespannt sieht selbst das nicht aus.

 

Garri Kasparow

Garri Kasparow

 

Wladimir Kramnik

Wladimir Kramnik

 

   Noch emotionsloser, fast staatsmännisch spult das dritte K routiniert sein Pensum runter. Karpow ist heuer ungemein entschlossen. Mit reichlich Fortune bedacht, ergreift er jede kleinste Chance, die Initiative an sich zu reißen. Kalt-berechnend lauert er in würdevoll-seriöser Haltung. Unabhängig von kritischen Situationen weilen die Hände ruhig vor dem Brett. Selten verkrampfen sich die Finger zum Gebet. Meist liegt eine Hand locker auf dem Handgelenk des anderen Arm. Seine Weltmeisternachfolger, Alexander Chalifman und Viswanathan Anand, folgen diesem abgeklärten Beispiel. Veselin Topalov, Peter Leko, Nigel Short, Jeron Piket, Loek van Wely und der Newcomer Teimour Radjabov fallen ebenfalls in die Kategorie der vorwiegend stoisch nach Ideen suchenden Strategen. Der indische Sieger von Prag platziert die Hände vorzugsweise an den Ellenbogen. Manchmal hebt er einen Arm in Gesichtshöhe, wo sich die Hand mit Daumen und Zeigefinger um den Mund spreizt. Dann passiert in der Regel etwas Konkretes. Bis auf einzelne Momente gegen Iwan Sokolov sind das viele richtige Züge.

 

Anatoli Karpow

Anatoli Karpow

 

Viswanathan Anand

Viswanathan Anand

 

   Weniger erfolgreich bilanziert sich der Output der "Nuscheler". Dieser Terminus mag jene Top-Spieler eingrenzen, die über fast die gesamte Partiedauer eine Hand abgeknickt kauernd in Mundnähe behalten (z.B. Vadim Milov). Sie stützen sich nicht, um Halt zu bekommen, sondern um "hinter vorgehaltener Hand" - wie ein gewandter Florettfechter - verdeckt den genialen Coup vorzubereiten. Der herausragende Vertreter dieser Fraktion ist Michael Adams. Der Engländer agiert in der Moldau-Metropole aber seltsam uninspiriert. Sonst ein Uhrwerk der unkonventionellen Zugfolgen nach seinem Gusto, überlebt er den jugendlichen Ansturm des Aserbeidschaner Radjabov nur dank seiner Tie-Break-Routine, bevor ihn ein GM-Kaliber wie Sokolow ernüchtert.

 

Michael Adams

Michael Adams

 

Vadim Milov

Vadim Milov

 

   Der Bosnier gehört zu einer raren, aber faszinierenden Spezies. In Deutschland spielt das Mitglied der SG Porz verhältnismäßig wenig, aber europaweit sind seine Einzelerfolge nur mit vielen Fingern abzählbar. Er ist "die" Überraschung in Prag, wenngleich er im Viertelfinale gegen Anand die Segel streicht. Aber die Beobachter können sich in sechs Schnellpartien und einem Tie-Break an einer sehr ernsthaft-professionellen Einstellung satt sehen. Mit gesammelter Ruhe begibt sich der in den Niederlanden im Exil gewesene Mann vom europäischen Spitzenclub Bosna Sarajevo jeweils zehn Minuten vor dem offiziellen Matchbeginn an seinen Platz und meditiert, während die andächtig gefalteten Händen das braungebrannte Gesicht verhüllen. In der Partie "entschwindet" er, die Ohren mit den Fingern zuhaltend, in seine Gedankenwelt. Wie unter einem Visierschutz verfolgen die Augen unter der durch die abgeklappten Hände geschützten Stirn die Winkelzüge auf dem Brett.

   Eine ähnliche Vorliebe für das "Vergraben" hat Alexei Schirov. In seinem rot anlaufenden Gesicht sieht man den angestrengten Rundumblick des kreativen Prozesses und die Handballen schieben die Wangen weit hoch. Häufiger aber fixieren seine Augen starr die enge weite Welt der 64 Felder. Während vier Finger aufgefächert die Stirn umklammern, bilden die kleinen Finger eine "Brücke" über den Augenbrauen. Gilt es den evidenten Vorteil zu realisieren, sitzt ein anderer, nichtsdestoweniger entrückter Lette am Brett. Ein Matt mit Läufer und Springer in knapper Bedenkzeit gegen Michail Gurewitsch vollzieht sich mit aufrechtem Oberkörper und einer Hand an der Hüfte, wobei die andere Hand, welche Züge und Uhrdrücken ausführt, gleichförmig - wie das Schaufelrad einer Mühle - kreist. Erbarmungslos scheucht er den König in die richtige Ecke - begleitet von einem vorüberhuschend Lächeln als das Ende absehbar ist.

 

Alexei Shirov

Alexei Shirov

 

Iwan Sokolov

Iwan Sokolov

 

   Die "Abstützer" sind ebenfalls eine verbreitete Gattung. Artur Jussupow und Alexander Morosewitsch lieben es, während intensiver Gedankengänge den Kopf seitlich auf einer Handfläche ruhen zu lassen. So bleibt genügend Sicht auf die zu orchestrierenden Holzfiguren. Auch Wassili Iwantschuk hat diese Haltung in seinem Repertoire. Er taucht ja völlig in seine Partie ein; vergisst die Außenwirkung seiner Gebärden. Dann zwiebelt er seine Haare, bearbeitet die Nase, starrt im Stuhl hängend in die schemenhafte Tiefe des Raumes oder beugt sich mit den Ellenbogen nahe an die Grundlinie.

   Ebenso individualistisch verhalten sich Judit Polgar, Boris Gelfand und Alexander Grischuk. Die einzige Frau in Spitzenschach ist längst dem Wunderkindstatus entwachsen. Seit einem Jahr verheiratet bewältigt die 26-Jährige ihre Auftritte heute damenhaft mit weichen Bewegungen beim Abstützen, Innehalten oder dem Ausholen zum Zug. Selbst die Phase des Findens der Konzentration vor Spielbeginn vollzieht sie äußerlich ohne Verkrampfung. Befreit von der Bürde, Rekorde als Jüngste, Erfolgreichste oder Angriffslustigste erreichen zu müssen, setzt sie ihren findigen Widerstand der Herrenwelt entgegen.

   Boris Gelfand, der Isostar-Apostel ohne Werbevertrag, ist für seine C-Haltung bekannt. Wie der "Zappel-Elvis" aus den TV-Produktinformationen wippt er mit verkniffenen Lippen - weit über die ersten drei Reihen seiner Stellung gebeugt - am Brett. Die Hände unter den Tisch geklemmt, presst sich der Oberkörper auf halber Höhe an die Tischkante. Alternativ folgt einen aufrecht-ausladendes Vornüber mit Ellenbogen, die im Dreieckwinkel fast die Ecken seiner Tischseite erreichen - ganzkörperlich ohne Kasparowsche Pantomimik allerdings.

 

Alexander Grischuk

Alexander Grischuk

 

Judit Polgar

Judit Polgar

 

   Eine Ausnahmestellung hat schließlich einer der "jungen Wilden". Alexander Grischuk spielt "zorniges" Schach. Angriffsideen ohne Ende während sich der Kopf - zwischen den zu Fäusten geballten Händen - mit Blut füllt. Die Mittelscheitel-Popper-Mähne ist verwühlt nach der Schlacht; Haare kleben an der verschwitzen Stirn. Seelenvergnügt springt der schwarzgekleidete Schlacks auf, als ihm gegen Vladislav Tkatschiev in letzter Sekunde der Sieg im Turmendspiel gelingt. "Sudden death" reibt auf, bevor die Lichter der Bühne ausgehen. Das Funkeln der Schnellschachmagie ist für heute vorüber. Die Last des Knockout-Systems ist für einige Stunde passé. Morgen werden sie wieder kauern und lauern.


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